Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Plazenta, -18°
Plazenta, -18°
Plazenta, -18°
eBook287 Seiten4 Stunden

Plazenta, -18°

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Sarah leidet seit ihrer Jugend an wiederkehrenden Depressionen, mit denen sie mehr schlecht als recht zu leben gelernt hat. Daher wird sie von Panikattacken überwältigt, als sie erfährt, dass sie schwanger ist: Ist sie der Mutterschaft überhaupt gewachsen? Und wird sie fähig sein, ihr Kind zu lieben – obwohl sie selbst diese Liebe nie gespürt hat?
Trotz ihrer Befürchtungen gelingt es Sarah schließlich, ihre Schwangerschaft zu genießen, denn es erleichtert sie, dass ihr Körper genau zu wissen scheint, was er zu tun hat – trotz ihres "kranken Hirnes". Durch diese Erfahrung fühlt sich Sarah zum ersten Mal in ihrem Leben "ganz".
Die Entbindung ihres Sohnes wird jedoch zu einer traumatisierenden Erfahrung, und auch das Stillen will nicht funktionieren. Da Sarahs zunehmende Zweifel an ihrer Eignung als Mutter einen neuen Depressionsschub provozieren, kommt es schließlich zur Katastrophe...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Jan. 2013
ISBN9783844246056
Plazenta, -18°

Ähnlich wie Plazenta, -18°

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Plazenta, -18°

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Plazenta, -18° - Karlotta Jung

    I.

    Er ist grün. Ein altes, verbeultes Ungetüm von der Größe eines Einfamilienhauses. Sein Lack ist schäbig und an vielen Stellen abgeplatzt, von unzähligen braunschwarzen Rostflecken durchsetzt. Er ist laut, so ohrenbetäubend laut brüllt und tobt er mit wütender Kraft vor sich hin, dass einem der Atem stockt. Und er walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Mit seinen riesigen, meterhohen Rädern hinterlässt er tiefe Furchen, kratertiefe Spuren auf jedem Untergrund. Er ist rücksichtslos, wahllos, ziellos in seiner Zerstörungswut. Und ich weiß nicht, warum er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat.

    Jeden Morgen erwache ich mit stets dem gleichen Gefühl: Ich gehöre mir nicht mehr. Ich gehöre dem Traktor, der jede Nacht zu mir kommt, von dem ich jede verdammte Nacht träume. Ich liege auf der bloßen Erde, einem armseligen, vertrockneten Stück Acker irgendwo am Ende der Welt, und spüre, wie mich seine schweren Räder immer tiefer hinab drücken. Meine Knochen zerbersten, mein Kopf wird zermalmt, meine Haut flach gewalzt wie ein Stück Papier. Ich werde zu Lehm, löse mich auf. Ich versuche zu schreien, doch mein Mund ist voller Steine. Vielleicht sind es auch meine Zähne. Ich spüre nur Schmerzen. Brennende, schneidende, bohrende Schmerzen, die sich in meinem Körper ausbreiten wie ein Feuersturm. Und die nach dem Aufwachen immer noch da sind, in jedem Knochen, in jeder Zelle, jeden verfluchten Morgen.

    Jan schläft schon seit mehreren Monaten nicht mehr neben mir. Ich ertrage es nicht, ihn morgens aufwachen zu sehen, ausgeschlafen und voller Energie für den bevorstehenden Tag. Ich brauche eine halbe Stunde, um nacheinander beide Augen zu öffnen und an meinem Körper Stellen zu orten, die nicht schmerzen. Davon gibt es nicht viele. Ich betrachte die Tapete an der Wand und versuche, in ihrem Muster einen Sinn zu erkennen, eine Erklärung für das, was mit mir passiert. Dann schäle ich mich langsam unter meiner Decke hervor und krieche ins Bad. Schaue in mein fahles Gesicht mit den zerstörten Augen. Lasse heißes Wasser über meine Haut laufen, stundenlang. Suche die Abdrücke des Reifenprofils auf meinen Armen, Beinen, Brüsten. Doch da sind keine. Nur die Kissen und Decken haben mir tiefe Furchen ins Gesicht gegraben, die sehr langsam verblassen.

    Jan frühstückt bereits, wenn ich danach in die Küche geschlichen komme. Vor ihm stehen ein Teller mit den Resten seines Wurstbrotes und eine Tasse Kaffee mit zwei gestrichenen Teelöffeln Zucker und einem kleinen Schuss Milch. Er ist ein Gewohnheitsmensch, steht jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit auf, auch wenn er keinen Termin hat, zieht sich dann seine Hose an und frische Socken, schlurft in die Küche und setzt den Teekessel auf. In der Zeit, die das Wasser zum Kochen braucht, schmiert er sich sein Brot und setzt sich an den Tisch. Wenn er das Brot zur Hälfte gegessen hat, bereitet er sich seinen Kaffee zu. Trinkt ihn dann in kleinen Schlucken, bei denen er die Mundwinkel leicht hochzieht, weil die heiße Flüssigkeit seinen empfindlichen Zähnen schmerzt.

    Früher habe ich es geliebt, ihm bei diesen morgendlichen Verrichtungen zuzusehen, ihm ist auch heute noch anzumerken, wie intensiv ihn seine Eltern zu Zuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl erzogen haben, und auch wenn er ihre Lebensweise verabscheut, ihr Reihenhaus, das samstägliche Rasenmähen, der immer gleiche Ferienort, ist sie ihm eingeprägt, wie eine tief in die Haut implantierte Tätowierung. Ich mochte seine Mischung aus Schrulligkeit und Verlässlichkeit von Anfang an, sie amüsierte mich zwar und ließ mich immer neue zärtliche Sticheleien erfinden, aber flößte mir gleichzeitig grenzenlose Sicherheit ein. Heute frage ich mich, ob seine Erziehung auch erklären kann, dass er immer noch hier in unserer Küche sitzt, warum er nicht schon längst verschwunden ist. Schließlich kauert ihm gegenüber ein stummer Haufen alter Knochen, der sich nur in die Küche geschleppt hat, um einen letzten Rest von Normalität aufrecht zu erhalten.

    Ich sehe Jan an, dass er mich nicht versteht. Nicht meine Müdigkeit, nicht meine Erschöpfung, nicht meine Schmerzen. Nicht die Leere, die Dumpfheit in mir. Und dann wieder die unendliche Genervtheit über eine Winzigkeit. Seine dunklen, forschenden Augen betrachten mich mit äußerster Vorsicht über den Küchentisch hinweg, als sei ich ein totes, zerquetschtes Insekt unter dem Mikroskop, sie versuchen zu orten, welche Stimmung bei mir gerade vorherrschend ist. Dabei ist es jeden Morgen die gleiche, nur manchmal habe ich mich ein bisschen besser unter Kontrolle. Ich spreche wenig, nur das Allernötigste, und den Rest der Zeit versuche ich, meine Knochen in die anatomisch vorgesehene Position zu bringen. Oder ich starre vor mich auf die Tischplatte, um nicht Jans verlegenes und aufmunternd gemeintes Lächeln sehen zu müssen. Das ich nicht ertragen kann, denn es sorgt dafür, dass meine innere Lähmung noch größer wird, weil ich diesem Lächeln nichts entgegen zu setzen habe. Es höhlt mich von innen aus, dieses Lächeln.

    Jan nimmt seine Tasche und drückt mir einen zaghaften Kuss auf die Wange. Dann geht er und lässt mich zurück.

    Ich lege mich wieder auf mein Bett. Langsam, weil mir jede Bewegung Schmerzen verursacht. Ich denke an Jan. Jetzt geht er die Treppe hinunter, jetzt öffnet er die Haustür, jetzt geht er die Straße hinunter bis zur Ecke, sieht erst nach links, dann nach rechts, dann noch einmal nach links, seine zutiefst gewissenhaften Eltern waren auch Meister der Verkehrserziehung. Jetzt geht er über die Kreuzung, jetzt geht er zu Faruks Kiosk, kauft sich ein Croissant für später, jetzt geht er weiter, jetzt kommt er bei seinem Büro an. Es ist nicht weit entfernt, er hat sich einen Schreibtisch in einer Bürogemeinschaft für selbständige Randexistenzen gemietet, um seine Projekte durchzuführen, weil er der Meinung ist, dass wir nicht beide gleichzeitig zuhause arbeiten können. Wahrscheinlich hat er grundsätzlich Recht.

    Ich bin mir gerade aber nicht einmal sicher, ob er zuhause bleiben würde, wenn er wüsste, dass ich gar nicht mehr arbeite.

    Ich weiß nicht, was dieses Mal der Auslöser dafür gewesen ist. Ich kenne diese Zustände bereits, ich kenne sie seit meiner Jugend, aber kein einziges Mal war es so schlimm wie jetzt. Bisher hat es geholfen, sich einfach ein paar Tage tot zu stellen, viel zu schlafen und sich auszuruhen, zu vergessen. Diesmal ist es anders. Ich zermartere mir jeden Tag das Hirn, was ich übersehen haben könnte, in meinem Kopf läuft ein endloses Tonband, das immer wieder die gleichen Fragen stellt, alle möglichen Gedanken taumeln in meinem Kopf hin und her. Doch ich komme auf keine Lösung.

    Fast jeden Vormittag ruft meine Mutter an. Ich habe ihr irgendetwas von Rückenschmerzen erzählt, als sie mich eines Tages wie eine alte Frau durch die Gegend wanken sah. Doch sie kennt mich, sie weiß genau, wann ich lüge. Dennoch spielt sie das Spiel mit, ruft wieder und wieder an und erkundigt sich nach meinem Befinden, gibt mir Tipps, welche Hausmittel ich ausprobieren solle, Bäder, Sauna, Franzbranntwein, ihre Schwester habe gesagt, dass auch Fußreflexzonenmassage in solchen Fällen außerordentlich hilfreich sei. Ich murmele meine Zustimmung und tue doch nichts davon. Du arbeitest zu viel, sagt sie, du musst dich auch mal ausruhen, fahr doch einfach mal ein paar Tage alleine weg. Ich sage ihr nicht, dass schon die Vorstellung, in einen Zug steigen zu müssen, zu viel für mich ist. Und schaff dir endlich einen neuen Stuhl an, mahnt sie, ich sag dir schon lange, dass man auf deinem nicht lange sitzen kann, ich mache mir solche Sorgen um dich, was kann das nur sein mit deinem Rücken, ich liege jede Nacht wach und denke darüber nach, was es sein könnte, was sagt denn der Arzt? Sie hat sich vor längerer Zeit angewöhnt, jede meiner Krankheiten zu ihrer zu machen, so dass ich nicht nur unter meinen Symptomen leide, sondern auch unter den Schuldgefühlen, und jede ihrer Zuwendungen packt eine zusätzliche Last auf meine Schultern. Jetzt erwidere ich, dass ich noch nicht dort war, ich hoffe immer noch, dass das nicht nötig sein wird. Aber vielleicht solltest du doch mal hingehen, raunt meine Mutter, vielleicht hat es auch mit Jan zu tun, ist zwischen euch alles in Ordnung, flüstert sie. Hör auf damit, stöhne ich, zwischen uns ist alles gut, ich spreche mit meiner Mutter nicht mehr über meine Beziehungen, seit sie es geschafft hat, meine letzte vollständig zu vergiften, mit ihrem ständigen Raunen hat sie solange Zweifel in mir gesät, dass ich die Beziehung beendet habe. Zumindest in dieser Hinsicht bin ich heute weiter als früher.

    Warum gehst du nur immer ans Telefon, wenn sie anruft, hat mich Jan lange Zeit gefragt. Wahrscheinlich, weil es kein Entrinnen vor ihr gibt. Wenn ich den Anruf gleich beantworte, lässt sie mich danach für den Rest des Tages vielleicht in Ruhe. Wenn ich es nicht tue, kann es passieren, dass mein Festnetztelefon und mein Handy gleichzeitig klingeln, sie bohrt solange nach, bis ich preisgegeben habe, was mit mir los ist. Sie ist wie ein Splitter, den man sich ins Fleisch gerammt hat, zuerst versucht man, ihn zu ziehen, doch er sitzt so tief drin, dass man nicht richtig drankommt, so sehr man auch mit der Nadel herumbohrt. Schließlich hofft man, dass Haut darüber wachsen wird und man damit leben kann, aber immer wieder fängt die Stelle an zu pochen. Als ich während meines Studiums einige Semester in einer anderen Stadt absolvierte und eines Samstags aus verschiedenen Gründen keine Lust hatte, ans Telefon zu gehen, stand meine Mutter am nächsten Morgen vor meiner Tür. Sie hatte sich sofort in den Zug gesetzt und war zu mir gefahren, obwohl die Reise zehn Stunden dauerte. Es gibt kein Entkommen. Das hat Jan seltsamerweise noch nicht verstanden, obwohl wir uns schon so lange kennen.

    Früher waren wir beide ein ganz normales Pärchen. Wir lernten uns mit Mitte Zwanzig bei einem seltsamen Praktikum kennen, einem mehrtägigen Kurzfilmdreh im Schlosspark eines kleinen ostdeutschen Kaffs kurze Zeit nach der Wende. Während Jan als Fahrer arbeitete, war ich „Mädchen für alles". In dieser Funktion kroch ich jeden Morgen über die Schlosswiese und fing Wespen, die in dem Film eine tragende Rolle spielten. Mit einem Einmachglas bewaffnet lockte ich sie mit Obststückchen und genoss den Triumph, den Schraubdeckel über ihnen zuzudrehen. Damals glaubte ich noch, solche Aktionen würden mich irgendwohin bringen. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Landschulheim, einem Plattenbau mit metallenen, viel zu kurzen Doppelstockbetten, über dessen Hof sich jeden Abend rechtsradikale Musik erbrach. Das Klischee reizte uns zum Lachen und schweißte uns zusammen.

    Nach dem Praktikum und zurück in Berlin zogen wir zusammen durch die Nächte, lachten über unser gemeinsames Abenteuer in der ostdeutschen Provinz und hofften auf weitere. Wir liebten das Unerwartete, das damals die Stadt beherrschte, das Unfertige. Überall illegale Bars in Ruinen und Kellern, lächerliche Alkoholpreise, spontane Aktionen. Wir suchten das Ungewöhnliche, ließen uns gerne gemeinsam treiben, hierhin und dorthin, ohne festes Ziel. Wir verbrachten die Zeit bis zum Morgengrauen in zufällig entdeckten Cafés, lästerten über die Gäste und Passanten, ergötzten uns an unserer eigenen Überheblichkeit. Und tanzten bis zur Bewusstlosigkeit in neuen Clubs, besuchten provisorische Galerien, diskutierten unsere Zukunft und unsere Erwartungen. Alles schien uns möglich.

    Wir studierten, bekamen unsere Zeugnisse. Wir machten weiterhin unzählige Praktika, bekamen schließlich unsere ersten Stellen, natürlich befristet. Wir arbeiteten uns trotzdem langsam nach vorne. Jan betreute wechselnde IT-Projekte, ich Drehbücher fürs Fernsehen. Wir hatten das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein.

    Unser Alltag wurde geregelter, aber wir liefen immer noch am Wochenende gemeinsam durch die Stadt. Die illegalen Bars existierten nicht mehr, auch nicht die provisorischen Galerien. Der Osten wurde jetzt vom Westen bewohnt, doch auch darin fanden wir noch das Absurde. Wir wussten immer noch, welche Filme im Kino liefen, und welche Ausstellung man gesehen haben sollte. Auch wenn beides nun Eintritt kostet. Wir zogen abends immer noch um die Häuser. Auch wenn wir inzwischen früher müde wurden und nicht mehr die letzten waren. Oder die ersten, die morgens den Joggern entgegen taumelten. Irgendwann spürten wir, dass auch wir älter wurden und nicht länger unsterblich waren.

    Schließlich zogen wir zusammen. In einen Altbau mit zwei Balkonen, abbröckelndem Stuck und maroden Elektroleitungen in einem der inzwischen heruntergekommenen Westbezirke. Eine Wohnung, wie sie jeder von unseren Freunden gerne hätte, weil sie einem ganz bestimmten Bild entspricht. Das man gerne von sich haben möchte.

    Wir wurden ein Paar, das zusammen wohnt. Das sich nicht mehr verabreden muss, um sich zu sehen. Das die Nähe genießt, die sich dadurch ergibt. Und manchmal flucht, weil es kein Alleinsein mehr gibt. Weil lieb gewonnene und hart erarbeitete Rituale sich plötzlich abgenutzt anfühlen, weil sie nun immer möglich sind. Als Paar, das zusammen wohnt, freut man sich irgendwann nicht mehr mit derselben Innigkeit über den anderen, weil man sich sowieso jeden Tag sieht. Das ist alles normal und vorhersehbar, dennoch hatten wir geglaubt, dass wir dieser Regel entgehen würden. Falsch gedacht.

    Schon der bloße Gedanke an eine körperliche Berührung verursacht mir gerade Schmerzen, als sei meine Haut offen und gebe darunter schimmerndes Fleisch frei. Wir haben uns deshalb schon längere Zeit nicht mehr berührt geschweige denn miteinander geschlafen. Aber ich kann mich noch an unser letztes Mal vor einigen Monaten erinnern. Es war Sonntag, der letzte Sex war einige Wochen her, und dieser Gedanke trieb mich in seine Arme. Früher waren es andere Gedanken – oder, besser gesagt, überhaupt keine.

    Wir küssten uns ein wenig, unsere Finger beschritten die bekannten Pfade, die wohl recht ausgetreten wirkten, würde man sie kartografieren. Es existierten einmal auch andere Wege, doch wir gehen sie inzwischen nicht mehr, ob aus Bequemlichkeit oder aus Angst, vermag ich nicht zu sagen. Seine Haut war kühl und trocken, und während ich mit den Fingerkuppen über seinen Körper fuhr, bemerkte ich, dass sich auf dem Kopfkissen eingetrocknete Flecken befanden. Ich versuchte, woanders hinzusehen, hinauf zu seinem Gesicht, doch aus meiner Perspektive wirkten seine Züge seltsam verzerrt, seine rechte Wange hing ein bisschen herab, und ich fragte mich, ob sie das im letzten Jahr auch schon getan habe. Und im Jahr davor? Ich zwang mich, mich wieder zu konzentrieren, Nachdruck in meine Hand zu geben, Variabilität, Mitgefühl. Doch es nützte nichts, ich erkenne seine Haut nicht mehr, früher war sie wie ein Buch, das ich oft gelesen habe, wie ein Spiel, dessen Regeln ich kenne, heute spricht sie nicht mehr zu mir. Sein Gesicht gab nicht preis, ob er den Unterschied bemerkte, aber ich fragte mich: Liegt es an mir? Oder an ihm?

    Schließlich setzte ich mich auf ihn. Ich war noch nicht feucht genug, schob ihn mir aber trotzdem zwischen die Beine. Es dauerte ja auch nicht lange. Dann rollte ich mich neben ihn, wir lagen noch eine Anstandsviertelstunde nebeneinander, die Augen fest geschlossen. Wurden schließlich vom Telefon erlöst, Jan stürzte mit einer nachlässig gemurmelten Entschuldigung hinaus.

    Es ist sicher nicht so, dass wir uns nicht mehr lieben. Aber wir kommen nicht einmal mehr ins Schwitzen, wenn wir miteinander schlafen, es ist wie ein Glas Milch, das man ab und zu trinkt, weil irgendjemand mal gesagt hat, dass das Calcium gut für die Knochen sei.

    Trotzdem haben wir natürlich über Kinder gesprochen. Klammheimlich haben die meisten unserer Freunde inzwischen welche bekommen. Am Anfang lästerten wir noch, wenn wir von irgendwelchen Treffen kamen, auf denen frischgebackene Eltern von den neuen Fähigkeiten ihrer Sprösslinge schwärmten, wir standen sprachlos daneben, als eine Freundin von ihrem Zweijährigen erzählte, der auf dem Spielplatz zwei kopulierende Käfer beobachtet und daraufhin gemeint hatte, die beiden spielten „Anhänger". Alle lachten lauthals und schienen die Pointe zu verstehen – nur wir nicht.

    Doch irgendwann wurden wir nachdenklich. Und je älter wir wurden, desto stärker wurde auch bei uns der Wunsch nach einem Kind. Ist das biologisch? Haben wir alle einen unsichtbaren Schalter eingebaut, der zu einem genetisch festgelegten Zeitpunkt plötzlich umspringt und diesen Wunsch gebärt? Oder ist es das Leben, das seine Spuren hinterlässt und einem einflüstert, es müsse doch noch etwas anderes geben als Überlebenskampf und Langeweile? Jan war sich auf jeden Fall sicher, dass er Nachwuchs wollte. Mit mir.

    Ich war mir das eigentlich auch. Aber zur gleichen Zeit wuchs irgendwo in mir ein Geschwür heran, dunkelrot und schimmernd. Es blähte sich auf wie ein riesiges Furunkel, und wenn ich manchmal nachts wach lag, flüsterte es mir sogar hässliche Worte zu. Sein Name sei Zweifel. Und dieser Zweifel nagte an mir. Konnte ich wirklich eine Mutter sein?

    Meine Mutter sah mir sofort an, dass etwas nicht stimmte, sie spürt jede kleinste Veränderung in meiner Seismografie, immer schon. Diese Kunst wurde ihr in den Jahren meines Lebens allmählich zur Passion, sie hat sie zur Perfektion gebracht, denn auf diese Weise muss sie nicht über ihr eigenes verpfuschtes Leben nachdenken, sie kann es ganz der Erforschung ihrer Tochter widmen. Als sie mir in unserem Stammcafé gegenüber saß, trug sie wieder ihre Mädchenklamotten, die mich wie ihre ältere Schwester aussehen lassen, und betrachtete mich prüfend, was hast du denn, mein Schatz, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir, hast du dir was eingefangen, bist du etwa wieder ohne Mütze raus gegangen, ich habe dir doch gesagt, dass es jetzt kälter wird, oder ist etwas mit deinem Job, haben sie dir das Geld immer noch nicht gezahlt? Ich zögerte, und dieses kleine Abwarten meinerseits provozierte sie, wie geht es denn Jan, fragte sie scheinheilig, mit gezwungen demütig gesenktem Blick. Gut, danke, erwiderte ich mit unschuldiger Miene, aber trotz all meiner Bemühungen gab es auch diesmal kein Entkommen. Sie hat sich einfach zu tief unter meine Haut gebohrt.

    Und schließlich erzählte ich ihr von dem Furunkel, das mich nicht schlafen ließ, von seinen Einflüsterungen. Davon, dass ich über ein Kind nachdachte. Es haben wollte. Dann wieder nicht. Ich hätte wissen müssen, dass meine Mutter der denkbar schlechteste Ansprechpartner für dieses Thema ist, denn sie hat nie nach Enkeln gefragt wie andere Mütter, war immer voller gedankenlosem Desinteresse gegenüber einer möglichen Großmutterrolle, aber ich war müde und einen kurzen Augenblick nachlässig, manchmal habe selbst ich noch die Vision einer von Blumenranken umflorten Mutter-Tochter-Beziehung, in der man nicht ständig sein Visier oben haben muss. In der man etwas über sich erzählen kann.

    Schätzchen, mach dir nicht so viele Gedanken, meine Mutter schüttelte nachsichtig den Kopf, du machst dir immer so viele Sorgen, aber das Leben ist ganz anders, als man es sich immer vorstellt, ich weiß, dass alle deine Freundinnen gerade Kinder bekommen, aber das bedeutet nichts, ich kann verstehen, dass dich das verunsichert, aber nicht alle müssen Kinder kriegen, weißt du. Wie meinst du das, erwiderte ich irritiert, nicht alle MÜSSEN - aber wenn man es doch WILL? Meine Mutter sah zweifelnd aus, nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, um sich ein wenig Bedenkzeit zu verschaffen, verschluckte sich dabei und fing an zu würgen, das passiert immer, wenn sie nervös wird, ein Kind zu haben, ist sehr anstrengend, weißt du, wisperte sie dann, mit um den Hals gelegten Händen, als wolle sie sich selbst erdrosseln, und dir geht es ja manchmal nicht so gut, ich will damit nur sagen, dass so etwas gut überlegt sein muss. Meinst du, das tue ich nicht, schrie ich auf einmal, habe ich dir nicht gerade erzählt, dass ich schon monatelang darüber nachdenke und zu keiner Lösung komme? Jetzt reg dich doch nicht so auf, Kleines, raunte meine Mutter daraufhin und sah sich unruhig um, um sich zu vergewissern, ob wir schon die Blicke der anderen Gäste auf uns zogen, die ersehnte Verwirklichung eines harmonischen Nachmittags ließ wieder einmal auf sich warten. Ich rege mich so viel auf, wie ich will, heulte ich, ich hätte wissen müssen, dass ich mit dir nicht darüber reden kann, verdammt noch mal, wieso musst du immer nur von dir reden, nur weil du mich nicht gewollt hast, muss das doch nicht auch auf alle anderen zutreffen?

    Wie gesagt: Wir können nicht gut miteinander reden.

    Meine Eltern lernten sich mit ungefähr 18 Jahren kennen, also sehr jung. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater, was erklärt, dass sie schon damals ein gutes Stück reifer und durchtriebener war als er. Es folgte die übliche Romanze zwischen Frischverliebten, aber die beiden mussten sich oft heimlich treffen, weil ihre Eltern möglichst wenig davon mitbekommen sollten, deshalb verließ meine Mutter ihr Jungmädchenzimmer häufig nachts, indem sie durchs Fenster kletterte und von dort auf die Garage sprang. Ihr eigener Vater war streng und verprügelte sie und ihre Geschwister in ihrer Kindheit fast täglich mit dem Gummischlauch, allerdings bekamen die Mädchen dabei seltsamerweise immer mehr Prügel als die Jungen. Die Anlässe waren nichtig: ein paar verspritzte Tropfen im Bad, ein nicht abgeräumter Teller. Die Mutter meiner Mutter schwieg dazu und versteckte sich in der Küche, mein Großvater war der erste Mann in ihrem Leben und sollte auch der einzige bleiben. (Perfiderweise starb sie vor einigen Jahren kurz nach ihm, verwirrt und allein. Wie die meisten Frauen ihrer Generation bekam sie keine Chance auf ein paar Momente selbst bestimmten Lebens.)

    Die Mutter meines Vaters war zu dieser Zeit schon zum zweiten Mal verheiratet und arbeitete fünf Tage die Woche als Vertreterin für Kristall. Sie war eine der wenigen Frauen, die zu jener Zeit einen Führerschein besaß und selbständig arbeitete, war aber dadurch den Großteil der Woche unterwegs. Mein Vater wurde daher den Großteil seiner Kindheit und Jugend von Kindermädchen und Köchinnen groß gezogen, ein Leben in bescheidenem Luxus, aber dafür ohne Mutter in unmittelbarer Reichweite. (Meine Eltern hatten somit beide eine eher auf Abwesenheit gründende Beziehung zu ihrer Mutter, denn es ist wohl egal, ob sich die Mutter in der Küche versteckt oder mit dem Auto durch halb Deutschland fährt. Jedoch ist die Kränkung im ersteren Fall wahrscheinlich sogar größer.)

    Irgendwann scheiterte die erste Romanze meiner Eltern, vielleicht waren sie zu unreif, vielleicht war auch das ewige Versteckspiel auf Dauer zu anstrengend. Beide gingen daraufhin in verschiedene Städte: mein Vater, um zu studieren, meine Mutter, um als Sekretärin zu arbeiten. Sie verloren sich aus den Augen. Was mein Vater in dieser Zeit getrieben hat, weiß ich nicht, er hat mir gegenüber immer nur sehr vage Andeutungen gemacht, wenn ich ihn danach gefragt habe. Was ich nicht oft getan habe, denn unser Verhältnis hat solche Fragen selten zugelassen.

    Was meine Mutter gemacht hat, weiß ich dafür umso präziser, denn sie hat mir diese Geschichten wieder und wieder erzählt. Bei jedem Mal wurde sie dabei detaillierter, die Ausschmückungen gerieten immer farbenfroher, sie genoss das Erzählen sichtlich, ging geradezu darin auf. Zwischendurch lächelte sie immer verschmitzt, spielte Verlegenheit, die ich ihr nicht abnahm. Schon als Kind nicht. Denn ich kenne sie, ihr war und ist nichts davon je peinlich gewesen.

    Zu der Zeit war es einfach, Arbeit zu bekommen, und meine Mutter wechselte ein paar Mal die Arbeitsstätte. Gewöhnlich bestand ihre erste Arbeitsleistung im neuen Job darin, ihren Chef flach zu legen. Ob in seinem Büro, im Auto, in ihrer eigenen Wohnung, der Ort war egal. Drohte die Sache aufzufliegen oder gab es gar Probleme mit der Ehefrau des Chefs, kündigte sie einfach und fing woanders an. Eine glorreiche Zeit, möchte man meinen, man musste sich keine Gedanken machen. Um nichts und niemanden. Und man musste sich nicht verbiegen, um seine Arbeit oder seine Beziehung zu behalten, sondern man fing einfach wieder von vorne an.

    Einer dieser Chefs war so spendabel, dass er meiner Mutter eine Wohnung finanzierte. Eine kleine Dachgeschosswohnung mit teuren Möbeln und einigen Finessen. Bei dieser Arbeitsstelle blieb meine Mutter etwas länger, genoss die Großzügigkeiten und warf sich im Gegenzug abends ins Nachtleben. Brachte Männer mit nach Hause. Viele. Verschiedene. Manche blieben eine Nacht, andere ein paar Wochen. Letztere entwickelten manchmal eine Besitzgier, die sie an die Wohnungstür meiner Mutter treten und ihr Gewalt androhen ließen. Ihr Pech war, dass sie diesmal nicht aus dem Fenster klettern und davon laufen konnte. So kam es wohl einige Male zu recht dramatischen Szenen.

    Doch meistens war alles vergnügt. Einer ihrer Freunde fuhr sie stundenlang mit seinem Cabrio durch die Stadt oder sang ihr Lieder auf der Gitarre vor, ein anderer besaß ein kleines Schloss in der Nähe und badete sie in seiner Wanne in Champagner und Kaviarhäppchen. Ein einziges, nicht enden wollendes Fest von Begehren und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1