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Das Blut der Auserwählten
Das Blut der Auserwählten
Das Blut der Auserwählten
eBook487 Seiten7 Stunden

Das Blut der Auserwählten

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Über dieses E-Book

"Das Blut der Auserwählten" ist eine dreiteilige Romanreihe über das Leben des fiktiven Protagonisten Kurt Powell.

* Teil 1: Lähmende Begegnungen auf der Flucht * Kurt Powell wächst als ganz normaler Junge im Amerika der 1950er auf – denkt er zumindest. Er ist der Prügelknabe der Schule, sein jüngerer Bruder Paul führt einen psychologischen Krieg gegen ihn und er verliert seinen Vater schon sehr früh in einem traumatischen Vorfall. Und das ist erst der Beginn der kathartischen Reise durch Schmerz, Verlust und neuer Selbstfindung, zu der sich Kurt Powells Leben zu formen beginnt.

* Teil 2: Die Begleichung alter Wunden * Nachdem der 23jährige Kurt aus Geldgier heraus das erniedrigende Angebot seines Chefs Bob trotz seines Ekels davor angenommen hatte und gleich darauf die Hälfte davon an den korrupten Polizisten Brown abgeben durfte, entschloss sich Kurt dazu, einen Schlussstrich unter allem zu ziehen und ein neues Leben anzufangen. In Sydney lebend, verdient er haufenweise Geld mit einer Arbeit, die er zutiefst verabscheut und schleppt sich weiter eskapistisch durch sein Leben auf der Suche nach Vergebung, Verständnis und einem großen Sinn hinter all seinem Leid. Doch diesmal sollen seine Wünsche zum ersten Mal in seinem Leben wirklich in Erfüllung gehen, wenn auch ganz anders, als Kurt sich in seinen Träumen vorgestellt hatte. Währenddessen lauert jene mysteriöse Persönlichkeit, die ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgt, immer einen Schritt hinter ihm in der Dunkelheit…

* Teil 3: Übersinnliche Abrechnungen * Durch eine zufällige Begegnung beginnt alles Blut an Kurts Händen mit einem Mal, sichtbar zu werden und die Hoffnung auf einen tieferen Sinn hinter seinem traumatisierten Leben zerbirst in Millionen Scherben. Nun steht Kurt in den Medien als Sündenbock der gesamten Nation, oder sogar der ganzen Welt, vor Gericht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum10. Dez. 2012
ISBN9783844242447
Das Blut der Auserwählten

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    Buchvorschau

    Das Blut der Auserwählten - Thomas Binder

    Thomas H. Binder

    Das Blut der 

    Auserwählten

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    Roman

    Thomas H. Binder

    Copyright: © 2012 Thomas Binder

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-4244-7

    Vorwort

    Die Ereignisse in Kurt Powells Leben beruhen ganzheitlich auf keinerlei Tatsachen, sie entstanden aus einzelnen Gedankengängen, Anspielungen, Meinungen, Anekdoten meiner Mitmenschen, aus meinen eigenen und aus äußeren Einflüssen, die in Verbindung mit Inspiration aus Vielen meiner Lieblingsbücher und -filme in eine episodenhafte, und doch chronologische Geschichte zusammenflossen.

    Der Protagonist und alle weiteren Charaktere entstanden aus meiner puren Fantasie. Jegliche Ähnlichkeiten zu einer tatsächlich existierenden Person namens Kurt Powell oder anderen Figuren sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Weiter habe ich mir bei der Beschreibung diverser Städte gewisse geographische Freiheiten erlaubt, die sie mir hoffentlich verzeihen werden.

    Die Umgebung, die Nationalitäten, die Persönlichkeiten und der teils historische, teils hypothetische Verlauf der Geschichte wurden zwar nicht zufällig gewählt, beziehen sich aber auf Menschen jeder ethnischen und nationalen Herkunft und jeder politischen und religiösen Überzeugung.

    Diese Geschichte soll die Komplexität von Menschen, die mehrdimensionale – also nicht eindeutige - Darstellung von Gut und Böse und die Entfaltung oder auch Offenheit des Lesers zu neuen Blickwinkeln in Bezug auf bestimmte 'sensible' Themen zur Aufgabe haben - und vor allem die Bereitschaft zu Denken, zu Hinterfragen, Fremdes nachzuvollziehen und Neues zu entwickeln.

    Ich danke allen meinen Mitmenschen, Familie wie Freunden, für ihre Unterstützung, Kraft, Liebe und Ehrlichkeit.

    Danke für die Offenheit, dem wissensdurstigen Bewusstsein und der Tiefe der weit schweifenden Gespräche, die mich zu diesem Buch inspiriert haben.

    Danke Philip, danke Martin, danke allen, die sich nie wegen meiner körperlichen Behinderung abgeschreckt oder unwohl fühlten.

    Und am meisten Dank an die Freunde, die mich am Längsten begleitet haben: meine Eltern Elisabeth und Johann, die mehr Freunde als Eltern waren und die auf ewig jung bleiben mögen.

    Ohne meine Mitmenschen wäre ich heute niemals, wo ich nun bin. 

    Thomas Binder

    Kapitel 0: Einleitung

    Man konnte die Angst im Raum knistern hören. Genauso stark wie die Aggression. Das Opfer lag gekrümmt vor Schmerzen auf dem Boden. Blut tropfte von seiner Stirn auf den beigen, mittlerweile ziemlich vergilbten 70er-Jahre-Teppichboden in einem winzigen, trostlosen, billigen Zwei-Zimmer-Apartment.

    Kurt Powell stand über ihm und hielt einen Siegespokal der Leichtathletik-Mannschaft der High School von Littleton in der rechten Hand, von dem ebenfalls Blut tropfte. Keuchend. Schwitzend. Sabbernd, wie ein scharfer Rottweiler.

    Der Pokal war wohl das einzige bedeutende Erfolgserlebnis seines Opfers, Al. Der übergewichtige, unrasierte, alleinstehende, vereinsamte, blutüberströmte Mann stöhnte, noch immer in der Phötusposition liegend, lautstark unter Kurt auf.

    Man braucht weniger Kraft um die Schädeldecke eines erwachsenen Mannes aufzubrechen, als ihr jetzt glauben würdet.

    Das Opfer versuchte kläglich, seinen letzten Funken an Überlebenskraft zu nutzen, um es seinem Peiniger, den er vor Sekunden noch umarmen wollte, verdammt noch mal heimzuzahlen. Powell sollte für all seine Lügen, seinen grenzenlosen Egoismus, seine Komplexe und seine Schadenfreude büßen.

    Wie beurteilt man Gerechtigkeit? 

    Wer hat das Recht, zu beurteilen, was richtig ist und was falsch? Muss diese Entscheidung immer und für alle Zeit zutreffend sein?

    Aber das ist sicher noch zu früh, um Kurt Powell, den Betrüger, zu verstehen. Ganz zu schweigen von Kurt Powell, dem sadistischen Triebtäter.

    Teil 1:

    Begegnungen auf der Flucht

    „Who you become, is how you're fed."

    Aletheuo (Truthspeaking), DJ Krush feat. Angelina Esparza

    „I'm trying to fit it all inside

    I'm trying to open my mouth wide

    I'm trying not to choke

    And swallow it all, swallow it all, swallow it all."

    The Collector, Nine Inch Nails

    „Life keeps tumbling

    your heart in circles

    'til you... Let go."

    In The Deep, Bird York

    Kapitel 1: Lernen, Kämpfen und Träumen

    1

    Irgendwo in Europa, 2003

    Kurt Powell saß allein auf dem Randstein irgendeiner Straße, in einem Land, in dem er nicht ein Wort der Nationalsprache verstand (geschweige denn das Kauderwelsch, das dessen Einwohner die ganze Zeit daher brabbelten). Nicht, dass ihm das viel ausmachte. Er saß dort, balancierte betrunken eine Flasche Bier in der rechten Hand, stützte sich mit der Linken ab, um nicht umzukippen und dachte über sein Leben nach. So viele Erinnerungen.

        Damals war er ein Heiliger gewesen, ein Held. Aber niemand hatte seine Taten zu würdigen gewusst. Niemand hatte ihn verstanden, meistens er selbst nicht. Menschen hatten damals geschrien und geweint, aber er hatte sie verändert. Er hatte ihnen etwas Neues gegeben, das sie allein nie an sich bemerkt hätten.

        Die Sonne schien ihm ins verbrauchte, gegerbte Gesicht, der Wind presste sich gegen seinen Körper und wehte ihm die letzten grauen Haarsträhnen in die Augen. Er sah den Leuten auf der Straße zu, wie sie an ihm vorbei schlenderten, wie sich Paare umarmten und küssten, wie Kinder lachten. Er beobachtete sie mit einem Lächeln im Gesicht. Einem neidischen Lächeln.

        Er war jetzt 53 Jahre alt und fühlte sich allein. Er hatte sich erst einmal in seinem Leben so einsam gefühlt, wie jetzt. Doch er war oft allein gewesen.

        Er musste nachdenken. Über sein Leben, seine Familie, seine Frauen. Er war stark gewesen, hatte mit seiner Arbeit Menschen das Leben gerettet und wurde sogar einmal geliebt. Wirklich geliebt. Bedingungslos.

        Wann war sein Leben nur in dieses paranoide Wettrennen gegen sich selbst abgedriftet? Was war der Auslöser für den ganzen Schmerz, den er Menschen zugefügt hatte? Für das ganze Blut an seinen Händen? War es sein eigener Schmerz gewesen, den er von anderen zugefügt bekommen hatte? Er wusste es nicht. Aber er würde es bald herausfinden.

        Das Leben war schon seltsam. Alles hatte damals so unscheinbar und einfach angefangen...

    2

    Los Angeles, Kalifornien, 1959

    Kurt Powell war ein ganz normaler, durchschnittlicher, achtjähriger Schüler, wie er in der 4. Klasse einer ganz normalen durchschnittlichen Grundschule in einem ganz normalen durchschnittlichen Vorort einer normalen amerikanischen Großstadt sein kann. Das dachte er zumindest. Man könnte auch sagen, er wünschte es sich in seiner perfekten, rosaroten Kindesrealität, die jedoch sehr bald in sich zusammenfallen sollte.

        Kurt war in den USA geboren worden und wuchs dort mit seinen aus Polen emigrierten Eltern auf, die aufgrund des kommunistischen, kompromisslosen Regimes der Sowjetunion mit viel Glück geflüchtet waren. Seine Eltern hatten nie etwas mit der wirtschaftspolitischen Lage ihrer Heimat anzufangen gewusst, doch vermochten sie erst vor neun Jahren genug Geld zusammen zu sparen, um sich die Ausreise aus ihrer Heimat und den Umzug ins Ausland leisten zu können. Die Vereinigten Staaten hatten damals ein Handelsembargo über die gesamte Union verhängt und jegliche Verwaltung wurde dadurch zentral auf Moskau verlagert, was das Sparen nicht gerade leichter machte.

        Die beiden Frischvermählten träumten schon lange von einem Haus an der Westküste der USA, wo sie es sich wärmer und sicherer vorstellten. Sie hatten genug von ihrer Heimat, mehr denn je wegen der Drohung Eisenhowers, einen Atomkrieg anzuzetteln. Also setzten sie alles daran, so schnell wie möglich in die Staaten emigrieren zu können. Sie versuchten, sich ein neues, freieres Heim aufzubauen, wie viele andere Familien damals. Die meisten ihrer Freunde waren bereits ausgereist, vor allem in die DDR, nach Westdeutschland oder nach Israel. Irgendwann schafften es die beiden auch wirklich, genug Geld zusammen zu sparen, um sich vier gefälschte Pässe (zwei für ihre noch ungeborenen Wunschkinder) und den Flug leisten zu können und sogar ein wenig Startkapital zu haben.

        Sie kamen planlos und überwältigt in den Staaten an, Kurts Mom mit ihm selbst hochschwanger. Kurts Dad fand bald einen schlecht bezahlten, harten Job als Bauarbeiter, den er zwar ungern machte, aber keine andere Wahl hatte. Bald zogen sie von einem billigen Motelzimmer in eine kleine Studentenwohnung am Rand von Los Angeles.

        Kurt bekam von all diesen Schwierigkeiten nicht viel mit - er wuchs, wie der Großteil aller Kinder, in seiner eigenen, kleinen, aber doch unendlich großen Welt in seinem Kinderkopf auf, die von neuen, aufregenden Abenteuern nur so strotzte. Egal, wie viel oder wenig sie sich leisten konnten, Kurt wurde als kleines Kind nie langweilig. Etwa ein Jahr nach seiner Geburt wurde Kurts Mom zum zweiten Mal schwanger und von Dad immer wieder verprügelt, weil sie sich, wie er meinte, kein zweites Kind leisten konnten und der Zeitpunkt gerade überhaupt nicht passte. Daddy meinte, Mom sei schuld an ihrer Schwangerschaft. Er war nervös. Er brauchte ein Ventil, auch wenn er trotz ihrer Geldsorgen selbst ein zweites Kind wollte. Kurt merkte davon nichts, außer dass er beobachtete, wie Moms Bauch langsam größer wurde und sie sich, wie sie meinte, öfters an irgendwelchen Kästen gestoßen hätte.

        Kurt hatte liebevolle Eltern, wenn man Dads sporadische Wutanfälle nicht mit zählte. Seine Mom wollte nur sein Bestes. Er hatte sich später zwar nie richtig an seine Kindheit erinnern können, doch er hätte sie im Großen und Ganzen wohl für schön und erfüllt befunden - bis er langsam ein individuelles Bewusstsein entwickelte und seine Umwelt plötzlich völlig anders wahrnahm. Der schöne Teil seiner Kindheit hörte auf, als er erkannte, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums war, sondern dass es noch so viele andere Menschen um ihn herum gab, die alle unabhängig von ihm existierten und arbeiteten und weinten und Spaß hatten.

        Und Kurt lernte dies bedeutend früher als jeder andere, den er kannte.

    3

    Kurt war mit acht Jahren ein recht mittelmäßiges Kind gewesen. Er war durchschnittlich gut in der Schule, hatte durchschnittlich viele Freunde und 'Feinde' unter seinen gleichaltrigen Schulkollegen, heckte zwischendurch einen Streich aus und benahm sich aber trotzdem die meiste Zeit höflich, wie es ihm von seinen Eltern beigebracht wurde.

        Doch als er seinen neunten Geburtstag feierte, passierte etwas. Irgendetwas veränderte sich. Kurt begann, seine Umwelt nicht mehr mit den verschleierten, erstaunten Augen eines Kindes zu sehen, sondern begriff – schrittweise, kontinuierlich mit jedem Tag mehr – die wahre Realität um ihn herum. Er begann, die Fehler in dem perfekten Mosaik zu sehen, als das er sein Leben und die ganze Welt bis jetzt betrachtet hatte. Er verstand, wie normal seine Familie wirklich war, wie unperfekt. Warum dies geschah, verstand er nicht, aber er konnte es nicht aufhalten. Es machte ihn traurig, ein Psychologe hätte es depressiv genannt.

        Kurts Vater hatte seit damals einen neuen, schlecht bezahlten Aushilfsjob, seine Mutter war den ganzen Tag - mit gestohlenen Schmerzmitteln vollgepumpt - zuhause und Kurt spielte draußen mit anderen Kindern, die ihn abgrundtief hassten. So normal war also sein Leben.

        Eine der vielen unbewussten Dinge, die Kurt schon als Kind registrierte, war, dass er plötzlich nur mehr die Schattenseite aller Menschen sah - was ihrer Meinung nach in ihrem Leben falsch lief und die Wut darüber. So sah sein neues Weltbild aus und es widerte ihn an.

        Diese besagten Schulkinder hänselten Kurt in den kommenden Wochen oft. Sie schienen die Veränderung in ihm zu spüren und sie gefiel ihnen überhaupt nicht – sie hatten insgeheim Angst vor Kurt oder verabscheuten ihn ... oder sie machten ihn einfach so aus Spaß nieder. Menschen haben seltsamerweise immer Angst vor Veränderung. Wobei Kurt dann meistens keine andere Wahl hatte, als vor den Schlägern wegzulaufen, was ihm klarerweise enormen Respekt unter seinen Schulkollegen einbrachte (ungefähr soviel wie dem Klassenstreber mit einer 10-Dioptrien Hornbrille, exzessiv durch gefetteten Haaren im Seitenscheitel-Look und orthopädischen Korrekturschuhen).

        Er war ein Kind, dass die Bosheit und die Frustration anderer Menschen zwar wahrnahm, aber nie verstand - und schon gar nicht hinterfragte. Möglicherweise war er dafür zu dumm, zumindest aber zu pragmatisch. Er dachte nicht darüber nach, dass es einen Grund dafür geben könnte, und schon gar nicht, was dieser Grund sein konnte. Er glaubte, dass alles gerecht abliefe und jedem außer ihm selbst sowieso alles geschenkt würde, so naiv wie er noch war. Das machte ihn neidisch. Aber er wusste nicht, was er dagegen machen sollte.

        Andererseits war Kurt ein Kind, das ein sehr gutes Gespür für die Gedanken und Gefühle anderer hatte. Vielleicht wäre er ein brillanter Psychologe geworden, sogar ein neuer Sigmund Freud, wenn er nur die Chance dazu gehabt hätte; die Zeit, das Geld und den Willen zur Ausbildung. Aber wir wollen nicht abschweifen...

        Kurt erfuhr mittlerweile täglich Geringschätzung, Herablassung und Erniedrigung. Seine Mitschüler jagten und verhauten ihn, seine Eltern hatten nichts als Nörgeleien für ihn übrig, seine Lehrer beschwerten sich über seine Noten, die sich dramatisch verschlechterten. Es ging ihm offensichtlich rundum gut!

        Natürlich ging dies alles ganz und gar nicht spurlos an Kurt vorbei. Aber wie wohl jedes andere Kind in seinem Alter und seiner Situation dies getan hätte, verdrängte er es. Alles.

        Nun, naja, fast alles.

        Er war der typische genetisch und psychologisch vorprogrammierte Verlierer, der sich schon so an eine tägliche Abfolge von Enttäuschungen gewöhnt hatte, dass er in seiner infantilen Naivität ein Spiel daraus machte, wie viel Bevormundungen und Zurechtweisungen und Entwürdigungen er am Tag aushalten konnte, bis er kurz vor den Tränen war.

        Er war in diesem Spiel der ungeschlagene Champion gewesen. Aber er bekam leider nie eine Medaille...

    4

    Dann gab es da noch Kurts Bruder Paul, der ein Jahr jünger als er war.

        Paul war interessanterweise größer gewachsen und muskulöser als der schlaksige, kleinwüchsige Kurt und musste seinen großen Bruder jedes Mal vor den nimmermüden Schulverfolgern und darauf folgenden Abschürfungen und Knochenbrüchen retten. Seltsam, nicht? Tja, dies wiederum ließ Kurt noch lächerlicher erscheinen und ihn zur absoluten Witzfigur der Schule und des Viertels, in dem sie wohnten, avancieren.

        Alle diese heldenhaften Rettungsaktionen waren jedoch in Wahrheit nur Teil von Pauls eigenem, sadistischen Teufelskreis, den dieser um Kurt spann. Nicht nur, dass Kurt sich wehrlos verprügeln ließ, er ließ sich von seinem jüngeren Bruder retten, der stärker als er selbst war. Das war wirklich der Brüller in seiner ganzen Klasse gewesen.

        Paul war abgrundtief bösartig, obwohl niemand einen Grund für seinen Hass heraus gefunden hätte.

        Die ganze Sache wurde wohl durch die Tatsache noch skurriler und komischer, dass Paul seinen großen Bruder absichtlich - also genau aus diesem Grund, dass alle Kurt nur noch mehr verachten würden – rettete. Nicht, weil er sein Bruder war, sondern weil sie ihn verachten sollten. Weil Kurt ein Würstchen war, ein Verlierer. Weil jeder ihn verachten sollte. Verdammt noch mal alle.

        Paul war wirklich ein kleiner Teufel.

    5

    Eigentlich war Paul ein guter Junge. Er war alles andere als schlecht in der Schule, er spielte niemandem Streiche - außer Kurt, wovon nur sie beide wussten - und war immer pünktlich und gewaschen zum Abendessen da, um vor seinen Eltern wie ein braver Soldat zu salutieren.

        Kurt fand es lächerlich, doch die Augen ihrer Eltern leuchteten geradezu spürbar vor Stolz. Es fühlte sich an, als würden tausende kleine Nadeln in Kurts Herz gestoßen werden, Sekunde um Sekunde tiefer dringend. Doch er konnte sich nicht wehren, konnte Paul nicht mal verprügeln, weil er wusste, dass er schwächer als sein kleiner Bruder war. Paul bemerkte Kurts Frust sehr schnell und er genoss es geradezu. Wie sehr Kinder doch hassen können... Neid ist wohl eines der wirkungsvollsten Rachemotive. Doch auf was war Paul neidisch?

        Paul war großartig darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Kurt somit die soziale Hölle auf Erden zu bereiten – nicht mal die Streber hatten Respekt vor ihm. Kurts Eingeweide verkrampften sich regelmäßig vor lauter Wut und Scham, während in Pauls Gesicht ein diabolisches Grinsen eingebrannt zu sein schien. Tag für Tag dieses Grinsen. Tag für Tag diese Erniedrigung.

        Es war eigenartig. Kurt beneidete Paul wegen dem Stolz ihrer Eltern, wegen seiner Stärke und wegen seiner Lebensfreude. Paul beneidete seinerseits Kurt. Nur nicht mal Paul selbst war klar, warum er Kurt so hasste, so beneidete, so verabscheute. Es war ein Gefühl, das tief aus seiner Seele kam und das er nicht beeinflussen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber Paul war zu jung, um das Gefühl hinterfragen zu können, oder zu wollen. Er befriedigte einfach seinen Trieb, besser als Kurt zu sein; Kurt runter zu ziehen.

        Paul ging es dabei auch gar nicht um das Taschengeld seines Bruders oder Spielsachen, im Gegensatz zu den vier anderen, älteren Schlägern, die Kurt täglich belagerten - deren Namen Kurt nicht einmal wusste. Nicht, dass er sich je dafür interessiert hätte. Nein, Paul ging es allein um Kurts Hass, Kurts Frustration und seine eigene grässliche, süße Befriedigung an Kurts Leid.

        Ein jüngerer Bruder, der größer war als der Ältere und diesen vor Prügel schützen musste. Zwei Brüder, die sich tagtäglich einen psychologischen Blitzkrieg lieferten. Und Kurt verlor immer. Jeden Tag. Jede Stunde. Und seine Wut darüber brannte sich ein, bis in die hintersten Winkel seines jungen Hirns.

        Wie gesagt, ganz normal eben, wie bei vielen anderen. Und am Abend kam ihr Vater nach Hause und verprügelte sie beide ganz normal, wie immer.

    6

    Dad hatte die unglaubliche Fähigkeit, Kurt und Paul in zeitlich - mit einer erschreckend mathematischen Genauigkeit – in gerade so gewählten Zeiträumen zu schlagen, dass man es nicht regelmäßig nennen konnte und dass es keinem Nachbarn wirklich auffiel, geschweige denn auffallen wollte.

    Es wäre beinahe komisch gewesen, wenn es nicht so abgrundtief abstoßend wäre.

    Und er schlug sie nicht etwa, weil sie schlechte Noten hatten oder weil sie mit einem Baseball ein Fenster zerschlugen. Er schlug die Jungs, weil sich einer die Schuhe nicht richtig zugebunden hatte; oder weil einer seinen Scheitel zu mittig gekämmt hatte. Oder aus irgendeinem anderen verfluchten Vorwand, jemand solange zu verdreschen, bis er vor lauter Anstrengung das Pulsieren von Blut in seinen eigenen Händen bemerkte.

    Es machte Dad verdammt noch mal großen Spaß, es irgendjemandem endlich einmal richtig zeigen zu können - egal ob derjenige ein Drittel seiner Körpergröße maß (wenn überhaupt), oder nicht.

    Krankhafter Sadismus musste in der Familie liegen.

    Trotzdem liebten sie ihren Dad. Und sie hassten ihn dafür, aus tiefstem Herzen.

    Dad arbeitete nun schon einige Zeit in einem italienischen Nobelrestaurant am anderen Ende der Stadt, was eine tägliche Autofahrt von einer knappen Stunde erforderte. Dies hieß jeden Tag weniger Geld und weniger Nerven für Dad.

    Er arbeitete dort als Bodenwischer, Tellerwäscher, Geschirreinräumer, Müllrausträger, oder anders gesagt 'Sklave für alles' – Drecksarbeit, die eben so anfiel. Unglaublich befriedigend! Jeden Tag mehr am Abgrund des resignierten Wahnsinns, der absoluten Erschöpfung.

    Das Problem war, Dad fand nichts Anderes. Er konnte nichts Anderes, war zu nichts Komplizierterem fähig. Eine scheinbar angeborene Nervenkrankheit, die aber erst vor wenigen Jahren ausgebrochen war und die seine gesamte Feinmotorik zu einem Lottospiel machte, pendelnd zwischen Ruhephasen und heftigen Schüttelanfällen. Keine Heilmethode. Zu lebensgefährlich und zu komplex - und zu teuer. Viel zu teuer.

    Das netteste Wort, dass Dad in diesem Restaurant jeden Arbeitstag zu hören bekam, war: 'Feierabend!', anstatt vielleicht so etwas wie 'Gute Arbeit!' oder 'Danke für deine Hilfe!'. Abgesehen davon war er durch seine regelmäßigen Schüttelanfälle – einer heftigen Impulsentladung der Nerven – zur Lachnummer unter seinen Arbeitskollegen auserkoren.

    Tja, wie der Vater, so der Sohn. Paul kam wohl eher nach Mom.

        Nun, wie man sich vorstellen kann, waren Dads Aufstiegschancen in so einer Situation endlos variabel – etwa gleich wahrscheinlich, wie Schneeflocken in der Wüste zu entdecken.

    Die Worte 'Weihnachtsgeld' oder 'Lohnerhöhung' oder 'höhere Steuerklasse' waren für Kurts Familie ohnehin nicht mehr als geheimnisvolle, bedeutungslose Fremdwörter. Diese Begriffe waren so weit von der Realität entfernt, dass man sie eigentlich nie benutzte, außer vielleicht als eine Begründung dafür, wenn sie sich dieses oder jenes nicht leisten konnten, weil diese Illusionen wie zerbrechliche Wölkchen zerfließen würden, wenn man sie entweihte, ihren Zauber durch zu häufige Erwähnung zerstörte.

    Von dem Lohn, der für sie vier nicht einmal ansatzweise ausreichte, konnte er nicht mehr als die Wohnung und gerade noch etwas zu Essen für alle bezahlen. Für alles weitere, wie Kleidung, Schulbücher, Möbel oder Spielsachen brauchten sie schon meist das zusätzliche Geld, das ihre Mutter bei gelegentlichen Putzterminen bei reichen Emporkömmlingen und anschließenden Diebstählen verdiente. Mom tat dies allerdings ebenso für ihren täglichen, kleptomanischen Kick als für das Wohlergehen des Familiensparschweins.

    Falls einer ihrer Kunden einmal bemerkte, dass etwas fehlte und wutentbrannt mit der Polizei drohte, hatte Mom immer sehr überzeugende Gegenargumente, welche sie mit diesen allein besprach...

        Glücklicherweise warfen diese Termine immer eine überraschend anständige Summe an Geld und Schmuck ab, womit sie sich wenigstens ein wenig besser über Wasser halten konnten. Mom und Dad kamen ja aus dem kommunistischen Osten und die hatte man in Amerika zu dieser Zeit wohl wegen der geographischen und politischen Lage nicht besonders gern, was dazu führte, dass sie auch nicht besonders viel Unterstützung von irgendwelchen Ämtern zu erwarten hatten.

    Den Menschen reicht ein kalter Krieg wohl nicht, sie wollen Action, sie wollen Aggression. Und Hass.

    7

    Da wir gerade bei Kurts Eltern sind: Diese hatten – wenn es nach den beiden ging, was eigentlich immer der Fall war - grundsätzlich keine 'normalen' Vornamen, sie waren nur 'Mom und Dad'. Niedlich, findet ihr nicht? Herzallerliebst, oder?

        Nun, Kurt und Paul hatten kein großes Problem damit. Abgesehen davon, dass sie ihre Eltern nie wirklich als normale, gleichwertige Menschen – wie Freunde oder spätere Vorgesetzte – sahen und sich daher geistig nie komplett von ihnen trennen konnten. Tief in ihrem Inneren, obwohl sie es beide nie zugegeben hätten, waren die beiden Brüder bis zu ihrem Tod immer noch Kinder, die ihren Dad verehrten und ihre Mom liebten.

        Aber sie waren glücklich, naja, sie versuchten es jedenfalls zu sein. Das war es, was ihr Dad am allermeisten satt hatte - diese Verpflichtung, alles schön und friedlich und unerschütterlich perfekt erscheinen zu lassen. Und immer schön zu lächeln.

        Kurt wurde irgendwie durch die Schule geschoben mit C's und D’s, seine Frau klaute zeitweise aus Spaß mehr als manche Idioten aus einer Tankstelle zerren konnten - er hätte ihr aber nie gesagt, dass er das wusste - und verglichen mit seinem Job war die Hölle mitsamt Fegefeuer ein Wochenendausflug an den See mit anschließendem Familien-Picknick.

        Dads einziger Lichtblick war Paul, der überaus sportlich begabt war und gleichzeitig gute Noten nach Hause brachte, was Kurt – neben seiner Demut als beschützter großer Bruder - vor lauter Neid und Eifersucht in den Wahnsinn trieb.

        Paul war (in Dads Augen) ein Abziehbild der ureigensten amerikanischen Anschauung von Perfektion - ein junger, blonder, strahlender, durchtrainierter Captain America, der im Krieg gegen die bösen Kommunisten tapfer seine Heimat verteidigte.

        Trotz ihrer osteuropäischen Abstammung hatten sie – Mom und Dad – schon immer ein Faible für den amerikanischen Traum, Patriotismus und republikanische Ideale gehegt. Interessante Kombination, oder?

        In ihrer Heimat hatten sie immer als Spinner gegolten, als Freaks, die man bei jeder Gelegenheit benutzen konnte, um sich selbst aufzuwerten; um über sie lachen und sich besser fühlen zu können.

        Wäre Paul nicht gewesen, hätte ihr Vater sich sicher mittlerweile in einem Whisky-Vollrausch mit seinem '45er Colt Revolver eine Kugel in den Kopf gejagt. Diesen bewahrte er übrigens - wie jeder andere pflichtbewusste Familienvater - sorgsam unter dem Kopfpolster (und dem militärischen Bürstenschnitt seines Kopfes) auf seiner Seite des Bettes auf.

    8

    Kurt hatte von alledem keine Ahnung.

    Sein Verständnis der unperfekten Realität um ihn herum reichte nicht bis zu seinen Eltern. Er liebte seine Eltern, trotz der Tatsache, dass er täglich angeschrien und runtergemacht wurde. Er dachte - wie wohl alle Prä-Teenager in ihrem Rest von kindlichem, perfekten Idealismus – nicht im Traum daran, dass es seinen Eltern irgendwie schlecht gehen könnte; dass sie Probleme haben könnten, mit denen sie aus belanglosen Gründen niemals fertig werden könnten. Und schon gar nicht daran, dass der Stolz und die Beruhigung, dass ihre Kinder vielleicht doch in ihrem Leben allein bestehen konnten, das Einzige war, was ihnen noch echte Freude bereitete und sie noch am Leben erhielt.

    Eltern sind für ihre Kinder immer unbesiegbar – wenigstens bis zur Pubertät.

    Nein, daran dachte er nicht einmal. Kurt schwankte meistens zwischen frustrierter Aggression durch die permanente Aufmerksamkeit, die wie ein Scheinwerfer auf seinen Bruder gerichtet war (anstatt wenigstens manchmal auf Kurt selbst), und resignierter Apathie, die ihm das tägliche Leben aufdrängte - das für ihn größtenteils aus Entwürdigungen und Geringschätzung und unerfüllten Erwartungen bestand. Dabei dachte er übrigens noch gar nicht an seine körperlichen und psychischen Wunden, die ihm jeden Tag durch Paul und dessen Kollegen von Schulterroristen zugefügt wurden.

    Kurt hätte so ein netter Junge werden können. Wenn man ihn nur gelassen hätte.

    Er hatte eigentlich keine wirklichen Interessen, ließ sich durch den Tag treiben und wartete verzweifelt auf ein Zeichen, auf eine Spur eines Ziels, das er verfolgen konnte, das er verfolgen wollte, dass einen wirklichen Sinn machte. Einfach irgendetwas Gutes, an dem er sich festhalten konnte.

        Natürlich fand er nichts. Nichts Ultimatives. Jetzt noch nicht.

    Die Schule war Kurt, im Gegensatz zu seinem perfekten Bruder, nicht wichtig und sein Dad prügelte sowieso auf ihn ein, ob er nun A’s nach Hause brachte oder F’s. Wahrscheinlich würde sich nicht einmal etwas daran ändern, wenn er an einem Tag eine Auszeichnung als Amerikas klügster, genialster, frühreifster Schüler daher schleppen und am nächsten Tag mit einem blauen Auge nach Hause kommen würde, weil er seinen Lehrer als Schwuchtel beschimpft hätte.

    Aber Kurt war seinem Dad deswegen nicht böse. Natürlich wurde er während der Schläge rasend wütend, aber er hätte nie zurückgeschlagen. Er verstand irgendwie langsam, warum sein Dad das tat. Das tun musste.

    Dad war unzufrieden und machtlos, etwas daran zu verändern. Dad hasste sein Leben. Und ihm fehlte einfach die Kraft dazu, den unbegabteren, unfähigeren Sohn von beiden auch noch abgöttisch zu lieben.

    Es waren nicht mal die Schläge, die Kurt jedes Mal dabei die Tränen in die Augen schießen ließen, es war das Schluchzen und Weinen seiner Mutter aus der Küche.

    Es war die Hilflosigkeit, die absolute Gewissheit, dass sie selbst nichts dagegen unternehmen oder es gar verhindern konnte.

    Und Mom wusste auch gar nicht, was sie anderes hätte tun sollen, als ihren Mann anzuschreien und irgendwie von den armen, blutenden Jungs loszureißen, ihm ein kaltes Bier in die Hand zu drücken und ihn mit allen Mitteln, davon abzulenken, nochmal die harte Faust niedersausen zu lassen; ihn nur irgendwie aus der Wohnung kriegen, und wenn sie ihn buchstäblich aus der Tür schieben musste. Als sich alles wieder beruhigt hatte, pflegte sie ihre Söhne, so gut es ging mit den wenigen Medikamenten, die sie sich leisten konnten, oder die sie bei den Nachbarn unentdeckt mitgehen hatte lassen. Sie konnte sich nicht wehren. Sie konnte nur weinen, pflegen, trösten und verdrängen.

    Da Kurt Powell als Kind nie der wirklich hellste Kopf gewesen war, hatte er einen kleinen Wunschtraum, den er seiner Mutter immer nach den (mehr oder weniger) sporadisch stattfindenden Prügel- und ihren anschließenden Pflegeepisoden erzählte. Wenn sein Dad einmal tot wäre (was er nur in leisestem Flüsterton zu sagen wagte), würde er ihn begraben und dann seine Mom heiraten und sie müsste dann nie mehr weinen.

    Wenigstens schaffte er es damit - wenn auch nur für ein paar Minuten -, dass sie lächeln musste, egal wie kindlich und naiv sich das anhörte oder wie ernst sie ihn dabei nahm. Dabei sah Kurt sie jedes Mal in ihre blonden, langen Haare weinen, die - an manchen Stellen schon früh grau geworden und verzweifelt wieder hellblond gefärbt waren - ihr in vollen Strähnen vom Kopf ins müde, faltendurchzogene Gesicht fielen.

    Kurt besaß soviel Mitleid, soviel Leidenschaft und soviel Dummheit. Das Mitleid wurde ihm jedoch durch die tägliche emotionale Folter immer stärker genommen.

    9

    Dad redete viel über Krieg, vor allem über den einen Krieg, der gerade in Vietnam (oh, Entschuldigung - in Charlie-Land) wütete. Mittlerweile hatte sich die gesamte Familie von ihren polnischen Wurzeln entfremdet und vollkommen dem amerikanischen Patriotismus jener Zeit verschworen. Ein Lehrbuchbeispiel für den echten 'american way of life'.

    Dad war in seinem Element. Er saß, von seinen beiden Jungs, drei ihrer Freunde und zwei Six-Packs Dosenbier umringt, auf einem alten vergilbten Campingsessel im Innenhof des Apartmentblocks, in dem sie alle wohnten. Vor Dads Füßen stapelten sich schon ein paar Dosen und sein Mundwerk war im Gegensatz zu sonst schon ordentlich gelockert „Ich bin wirklich froh,", meinte Dad überschwänglich, „dass den verdammten Charlie-Schweinen endlich mal gezeigt wird, wo der Hammer hängt. Wir Amerikaner sind doch nicht irgendwelche verweichlichten Schwuchteln, die man herumschubsen kann, wie es einem gefällt." Mom und Dad hatten sich bereits seit ihrer Ankunft in den Staaten als wahre Amerikaner bezeichnet, was sie genau genommen rechtlich ja auch waren.

    „Jetzt, wo diese Scheiß-Kommunisten-Wichser anfangen, diesen verdammten Ho-Chi-Minh-Pfad zu bauen", meinte ihr Vater mit einer Dose Bier in der Rechten und immer lauter werdender Stimme, die geballte linke Faust immer wieder auf den linken Oberschenkel knallend, „jetzt fängt sie an, die Zeit für unser Land zu KÄMPFEN, uns vor dem Feind zu verteidigen!"

    Dad dachte dabei, wie viele andere Amerikaner dieser Zeit, nie an die Zehn- und Hunderttausende von toten, bäuerlichen Zivilisten und die sich gegenseitig über den Haufen knallenden Soldaten des Nordens, Südens und Amerikas. Und schon gar nicht daran, dass der Konflikt Jahre andauern würde, ohne ein nennenswertes Ergebnis zu liefern – außer die amerikanische Wirtschaft dramatisch aufzubessern -, bis es zum tragischen Ende kommen sollte.

    Sie als Amerikaner müssten, brauste Dad auf, endlich aufwachen und kapieren, dass der Kommunismus immer weiter vordringe und dass man dies verhindern müsse und Paul würde ihnen schon allen zeigen, zu was ein Amerikaner fähig wäre, wenn seine Zeit einmal in ein paar Jahren kommen würde, diesen elenden Dreckskerlen.

    Jetzt redete er schon wieder über Paul. Nie lobte er Kurt! In solchen Momenten hätte er Paul erwürgen können. Immer nur Paul dies, Paul das! Dad sollte ihn endlich auch einmal so ansehen! Er hasste Paul! Er hasste ihn wirklich. Aber er hatte nie den Mumm gehabt, sich zu wehren. Oder die Kraft. Oder die Skrupellosigkeit. Und Paul wusste das ganz genau, als er ihn jedes Mal mit einem triumphierenden Lächeln ansah, wenn Dad ihm den Kopf tätschelte und Kurt ignorierte.

    10

    Nachdem Dad sein fünftes Dosenbier in einem Schluck hinunter gewürgt hatte und lautstark rülpsen musste, fuhr er mit seinem Monolog vor den Söhnen und drei ihrer – oder eher Pauls - besten Freunden an einem sonnigen Samstag Nachmittag im Innenhof ihres Häuserblocks fort. Sie waren mittlerweile von einem Kranz umgeben, der aus auf Dads Stirn zerdrückten leeren Bierdosen bestand.

    Dad schrie in der Zwischenzeit - schon mehr als leicht berauscht - Eisenhower hätte noch Prinzipien. Er kreischte schon zwischen kurzen, sich abwechselnden Hust- und Würganfällen. Dad hatte sich wohl verschluckt. Trinken und Luft holen gleichzeitig war keine gute Idee, erkannte er.

        Sie, da sie ja noch Kinder wären, würden sich nicht erinnern können, aber vor ungefähr zwei Jahren hätten diese Idioten im Kongress endlich Eisenhowers Vorschlag zugelassen, die verkackten Sowjets aus dem mittleren Osten raus zu drängen und selbst Truppen hin zu schicken. Das sollten sie (die Kinder) sich merken, dies wäre die 'Eisenhower Doktrin' gewesen und das wäre das einzig Richtige gewesen und er (Dad) hätte das ganz genauso gemacht.

        Was interessierte Kurt schon irgendeine doofe „Eisenhower-Dohtrien"? Was sollte das überhaupt sein?

        „Was aber ein verdammter Fehler war", meinte Dad schon unverständlich nuschelnd, aber sehr laut, „war als eure Politiker vor ein paar Monaten Castros beschissene Kommunisten-Regierung in Kuba zugelassen haben. Wozu soll der Mist gut sein? Aber einen gibt es, das sag' ich euch, der eine Wende herbeiführen wird. Der es ihnen allen zeigen wird. Einen, der genau weiß, wie man was an zu packen hat." Er meinte Senator Joseph McCarthy.

     Dads Gesicht formte sich zu einem benebelten, verehrenden, fast verliebten Lächeln.

        Dieser McCarthy wüsste, wie man mit diesem Gesocks von sozialistischen Bastarden umzugehen hätte. Während diesem vor Stolz überschäumenden Monolog fing er durch die schnell zunehmende Alkoholmenge in seinem Körper immer stärker an zu lallen.

        Kurt wunderte sich, was mit seinem Vater auf einmal los war. Natürlich verstand er Dads momentanen Zustand nicht. Die Kinder hatten ihrem Vater noch nie vorher beim Trinken zugesehen und hatten auch das Verhalten der wenigen Betrunkenen, die sie bis jetzt gesehen hatten, nie mit besonderem Interesse studiert. Sie hatten keine Ahnung, wie Dads gegenwärtiger geistiger Zustand aussah.

    McCarthy würde „'en verhammt'n Kowunjismus en'lich volstän'ig auslöshn", damit endlich alles richtig in der Welt liefe, brachte Dad noch brüllend hervor, bevor er schallend rülpsen musste und sich beinahe übergeben hätte. Er hatte bereits mehr als genug, was unmissverständlich durch den Speichelfaden angezeigt wurde, der sich allmählich seinen Weg von Dads Gesicht bis zum Boden bahnte.

    11

    Drei Monate später - das wusste er natürlich da noch nicht - würde Kurt eine Sondersendung der Abendnachrichten sehen, in der eine Ansprache eines pausbäckigen Senators mit Halbglatze gezeigt würde. Der Senator würde über den fernen Osten und die Gefahr sprechen, die sich dort befände.

        Er würde davon reden , dass diese Gefahr sogar schon auf Menschen des Westens übergegriffen hätte und dass dies die fürchterlichen Auswirkungen des Kommunismus seien, welche man unverzüglich ausrotten und im Keim ersticken müsse.

        Er würde zudem noch einen Wissenschaftler, zwei Schriftsteller und sogar einen seiner Kollegen des Kongresses anklagen, kommunistische Aktivitäten betrieben zu haben und sich „anti-amerikanisch" verhalten zu haben.

        Oder etwas in der Richtung.

        Drei dieser vier Leute waren Jugendfreunde ihres Dads gewesen, als sie als jung verheiratetes Paar voller Hoffnung in die USA gekommen waren, Mom mit Kurt schwanger.

        Diese vier unterschiedlichen Leute, die sich nicht wirklich gekannt hatten (und ganz nebenbei vollkommen unschuldig waren) würden gezwungen werden, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Arbeit, ihre Häuser und ihren Ruf aufzugeben und sollten ohne finanzielle Mittel nach Europa oder sonst wohin abgeschoben werden - Hauptsache weit weg, wohin interessierte das Gericht eigentlich gar nicht so sehr.

        Kurt würde für etwa zehn Sekunden ausdruckslos und desinteressiert auf den Fernseher starren und ihn danach abdrehen. Sein Vater würde nie etwas davon erfahren.

    12

    Dad öffnete sein achtes Bier, bevor er mit seinen Lobeshymnen über McCarthy fortfuhr. Kurt und Paul hatten keine Ahnung, von wem ihr Vater da überhaupt redete und ihre Freunde natürlich auch nicht. Es war Kurt auch egal, aber wenigstens tätschelte sein Vater ihm jetzt manchmal auch den Kopf, wenn er über irgendwelche Politiker und Amerika redete und einen stolzen Glanz in den Augen bekam, anstatt sie beide zu schlagen oder an zu brüllen.

    Außerdem fiel ihm bei dem ganzen Politik-Gefasel der Schulausflug zum Pentagon ein, auf den er sich schon freute. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihn dort erwarten würde...

    Aus seinen Gedanken gerissen, horchte Kurt auf, als sein Vater, der gerade wieder etwas ruhiger geworden war, vor Ärger und Frustration wild mit den Armen in der Luft gestikulierte. Er referierte gerade darüber, wie man in Gottes Namen einen Diktator praktisch vor der eigenen Haustür (in Kuba) ungestraft sein anti-amerikanisches, dreckiges Treiben zulassen konnte. Dad hatte es nie besonders mit Fremdworten und die wenigen, die er kannte und benutzte, waren bald ausgeschöpft. Trotzdem wiederholte er sie immer und immer wieder, wohl um intelligenter wirken zu wollen. Wie man sehen kann, hat es nicht ganz den gewünschten Effekt, aber Kurts und Pauls Dad ließ sich darin nicht beirren, von niemandem.

    Wie jemand es von einer Regierung wie der ihren abgesegnet bekommen konnte, brauste Dad weiter, sein terroristisches Gift in die Köpfe anderer Menschen hinein bringen zu dürfen. Nun gingen Dad endgültig die Redewendungen aus...

    Paul starrte wie gebannt mit vor Staunen und Stolz und Patriotismus leuchtenden Augen auf ihren lallenden, stockbesoffenen Vater.

    (Platsch! Igitt! Was zum ...?)

    Sie wurden abrupt und unvermittelt von einem Schwall Abwaschwasser aus dem dritten Stock des Blocks unterbrochen, vor dem sie auf dem Asphalt inmitten der leeren Bierdosen hockten.

    Weiters wurden sie recht ungehalten von einem anderen Unbekannten darauf hingewiesen, dass es mittlerweile 10 Uhr abends wäre und dass manche Menschen morgen um fünf Uhr früh aufstehen und zur Arbeit hetzen müssten und dementsprechend gern schlafen würden.

    Nach einer nicht weniger rohen Antwort von Dad machten sie sich also alle auf den Nach-Hause-Weg, als ihnen plötzlich eine merkwürdige, dunkle Gestalt entgegenkam.

    13

    Die Gestalt war ganz in schwarz gekleidet, trug einen wallenden, langen Wintermantel und hatte

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