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Ein Gedicht zum Todestag: Paris-Krimi
Ein Gedicht zum Todestag: Paris-Krimi
Ein Gedicht zum Todestag: Paris-Krimi
eBook398 Seiten5 Stunden

Ein Gedicht zum Todestag: Paris-Krimi

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Über dieses E-Book

In einem Karussell am Fuße des Eiffelturms wird eine Leiche gefunden – ein Mitglied der Pariser Unterwelt, wie sich schnell herausstellt. Doch haben es Kommissarin Victoire de Belfort und ihr Team wirklich mit einem Mord aus dem Milieu zu tun? Ein Gedicht, das bei dem Toten gefunden wird, gibt Rätsel auf. Als de Belfort kurz darauf zu einem Tatort nach La Défense gerufen wird, beginnt für die Ermittler ein Wettlauf gegen die Zeit, denn alles spricht dafür, dass ein Serienmörder Paris unsicher macht.
Ein spannender Krimi vor der Kulisse einer wunderbaren Stadt.. - Kommissarin de Belforts erster Fall
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783737519854
Ein Gedicht zum Todestag: Paris-Krimi

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    Buchvorschau

    Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé

    Sophie Lamé

    Ein Gedicht zum Todestag

    Paris-Krimi

    Kommissarin de Belforts erster Fall

    Imprint

    Ein Gedicht zum Todestag

    Sophie Lamé

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2014 Sophie Lamé

    Umschlaggestaltung: Erik Kinting - www.buchlektorat.net

    Titelbild: © Sandro Götze - Fotolia.com

    All rights reserved

    ISBN 978-3-7375-1985-4

    Zum Buch

    So hat sich der Stadtstreicher Faruk seine ersten Tage in Paris nicht vorgestellt. Eigentlich ist er aus Marseille gekommen, um mehr Ruhe und Sicherheit zu finden. Und nun ist ausgerechnet er es, der unweit des Eiffelturms eine Leiche entdeckt. Kommissarin Victoire de Belfort und ihre Leute nehmen die Ermittlungen auf. Es handelt sich um einen Giftmord, da ist sich der liebenswert schrullige Gerichtsmediziner Docteur Dupin sicher. Doch was hat das rätselhafte Gedicht zu bedeuten, das bei dem Toten gefunden wird? Noch während das Team der Brigade Criminelle den ersten Hinweisen nachgeht, wird im Büroviertel La Défense erneut eine Leiche gefunden. Und wieder ein Gedicht! Verbindet die Toten ein Geheimnis? Und wird es noch weitere Opfer geben? Eine erste Spur führt in die Pariser Unterwelt. Doch dann entdeckt Inspektor Perrec eine sonderbare Website …

    Die Autorin,

    die unter dem Pseudonym Sophie Lamé schreibt, ist in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen. Nach Stationen in Paris und Süddeutschland lebt sie dort auch heute wieder. Die Stadt Paris ist für sie zweite Heimat wie auch unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Und wenn auch Handlungen und Personen frei erfunden sind – die Orte des Geschehens existieren wirklich.

    Zuletzt erschienen ist ihr Paris-Roman Frühling im Oktober

    Donnerstag

    Pont Neuf, 1. Arrondissement

    Von Notre Dame schlug es zwölf Mal. Mitternacht. Faruk Ghoul hob den Kopf zum nachtschwarzen Himmel und betrachtete die schmale Sichel des Mondes. Je länger er schaute, desto mehr Sterne sah er aus dem samtigen Dunkel aufblitzen. Als hätte ich sie mit meinem Blick aus der Tiefe des Universums geangelt, dachte Faruk und lächelte. Der Gedanke gefiel ihm, doch er würde ihn schön für sich behalten. Er wusste was passierte, wenn er ihn mit den anderen teilte. Lachen würden sie und ihn einen Möchtegern-Poeten oder gar einen Spinner nennen. Heute Abend jedoch hätte er ihn sogar laut hinausschreien können, denn er war allein. Nicht, dass ihm die Einsamkeit etwas ausmachte. Er freute sich, dass er einen gemütlichen Platz gefunden hatte, an dem er ungestört und ganz für sich war. Faruk streckte seine Glieder und sog genießerisch Luft ein. Die Nacht war angenehm mild und die Wärme des Sommertages auch jetzt, da die Sonne längst untergegangen war, noch deutlich zu spüren. So, als spiele sie noch mit dem lauen Wind zwischen den Häusern der Stadt. Wie ein Kind, das man am Abend eines langen, heißen Junitages vergebens nach drinnen ruft. Faruk liebte es, sich solche Vergleiche auszudenken. Was sollte man auch sonst den ganzen Tag tun?

    Die gewaltigen und noch warmen Steine der Pont Neuf fühlten sich an seinem Rücken wunderbar an, und er schloss für einen Moment die Augen. Es war richtig gewesen, nach Paris zu kommen. Zum Glück hatte er nicht auf seine Kollegen gehört. Jean, Fabio, ja sogar sein bester Freund Djamal – sie alle hatten ihm abgeraten, aus Marseille wegzugehen.

    „Was soll das?, hatte Djamal ihn gefragt, als er ihm von seinem Vorhaben erzählt hatte. „Geht es dir nicht gut hier? Die Stadt ist bunt und lebendig, es ist warm und wir haben das Meer. Einen besseren Platz gibt es nirgends.

    Doch davon hatte Faruk nichts wissen wollen. Lange genug hatte er seinen Plan im Kopf hin und her geschoben und Vorteile gegen Nachteile abgewogen. Nein, in Marseille wollte er nicht alt werden und auch nicht sterben. Für seinen Geschmack starben in dieser Stadt am Mittelmeer zu viele Menschen. Und zwar ohne, dass sie die Chance gehabt hatten, alt zu werden.

    „Mein Entschluss steht fest", hatte er seinem Freund an einem verregneten Abend im April mitgeteilt.

    „Das ist nicht dein Ernst! Komm schon, Kumpel, nur weil EINMAL schlechtes Wetter ist …"

    „Nein, Djamal, lachte Faruk, „das hat mit dem Regen nun wirklich nichts zu tun. Ich werde diese Stadt verlassen. Warte, er hob beschwichtigend beide Hände als er sah, dass die Augen seines Freundes groß wurden und er zu einer seiner endlosen Reden anheben wollte. „Ich werde dir erklären, warum ich gehe. Ich bin nicht mehr der Jüngste und eines Tages werde ich ein alter Mann sein. Und Marseille und das Alter, das passt nicht zusammen. Es gibt zuviel Gewalt auf den Straßen und in all den Jahren, die ich nun schon hier lebe, ist es immer schlimmer geworden."

    Djamal schüttelte energisch den Kopf. „Das bildest du dir ein, glaub mir. Jede Stadt hat ihre Gefahren." Er schaute Faruk an und sah den Zweifel in dessen Augen.

    „Also gut, ich gebe zu, dass es hier nicht gerade paradiesisch ist. Geräuschvoll zog er die Nase hoch. „Ich hatte ja selbst schon einmal ein Messer im Bauch, er grinste schief, „war halb so schlimm."

    Faruk legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Früher waren es Messer und heute muss man sich davor fürchten, in den Lauf einer Kalaschnikow zu blicken. Nein, Djamal, ich bleibe dabei. Ich gehe nach Paris."

    Bereits einige Tage später hatte Faruk sein Hab und Gut gepackt, sein Gespartes gezählt und sich ein Zugticket gekauft. In der städtischen Notunterkunft, die er sonst nur im Winter aufsuchte, hatte er eine ausgiebige Dusche genommen und seine wenigen Klamotten in die Waschmaschine gestopft. Nachdem er Justine – eine der freiwilligen Helferinnen – von seinem Plan erzählt hatte, hatte sie ihn kurzerhand auf einen wackeligen Küchenstuhl gesetzt und ihm Kopfhaar und Bart gestutzt. „Damit du schön bist für Paris", hatte sie gesagt und gelacht.

    Und nun saß er also hier in einer gemütlichen Nische auf einer der schönsten Brücken der Stadt und schaute sich den Mond an. Plötzlich nahm er einen hellen Lichtstreif wahr, der sich wie ein Suchscheinwerfer über den Himmel bewegte. Wie der Strahl des Leuchtturms am Hafen von Marseille, dachte Faruk und stand auf, um besser sehen zu können. Ah, jetzt konnte er die Quelle des Lichts erkennen. Er ging die wenigen Schritte zur gegenüberliegenden Brüstung und legte beide Hände auf die warmen Steine. Der Eiffelturm! Wie wunderschön und stolz er dort stand. Seit Faruk aus dem Süden hierher gekommen war, hatte er das Wahrzeichen der Stadt immer nur aus der Ferne betrachtet.

    „Am besten mache ich mich gleich auf den Weg, sagte er laut und nickte entschlossen mit dem Kopf. Er konnte ohnehin nicht schlafen und nichts liebte er mehr, als nachts spazieren zu gehen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, wie er die anderen Obdachlosen oft nannte, trug er nur wenige Dinge bei sich. Ich reise gerne mit kleinem Gepäck, pflegte er zu sagen, wenn sie sich lautstark wunderten, dass er nichts als einen gefüllten Rucksack besaß. So hatte er es schon immer gehalten. Faruk hatte Prinzipien und, neben sauberer Kleidung und einem gepflegten Aussehen, war ihm die Ordnung in dem alten Wanderrucksack das Wichtigste. In ihn stopfte er nun also seine dünne Wolldecke, die Baguettereste vom Abendessen und eine angebrochene Flasche Wein mit Drehverschluss. Zu guter Letzt schnallte er seine rosafarbene Isomatte fest. Allah wusste, wie oft er dafür schon ausgelacht worden war. Aber sie war bequem, und als Obdachloser durfte man schließlich nicht wählerisch sein. Sollten sich die anderen ruhig darüber amüsieren, das hielt er aus. Als algerischer Einwanderer, der 1964 im Alter von acht Jahren nach Marseille gekommen war, hatte er wahrlich Schlimmeres erlebt, als wegen einer rosa Matte ausgelacht zu werden. Faruk schulterte seinen Rucksack und marschierte, den Eiffelturm vor Augen, entschlossen los. Er orientierte sich am Lauf der Seine und prägte sich all die herrlichen Gebäude ein, die ihm auf seinem Marsch begegneten. Die goldene Kuppel des Institut de France, das Musée d‘Orsay mit seiner riesigen Bahnhofsuhr und das langgestreckte Gebäude des Louvre auf der anderen Seite des Flusses. Seine Füße begannen schon zu schmerzen, als er schließlich die gewaltigen Streben des Eiffelturms vor sich aufragen sah. Faruk hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Schritt zu schrumpfen wie eine dieser Comicfiguren, die er als Kind im Kino gesehen hatte. Was für ein unglaubliches Bauwerk. Er kam sich winzig vor und hob staunend den Kopf. Voller Ehrfurcht versuchte er, die Gesamtheit dieses Stahlkolosses zu erfassen. Ein seltsames Gemisch aus Ergriffenheit und leiser Furcht überkam ihn und er spürte, wie ein Schauer seinen Körper durchlief. „Es ist doch ein wenig unheimlich, sich mitten in der Nacht unter einem solchen Riesen aufzuhalten, flüsterte er sich selbst zu. Um diese Zeit waren kaum Menschen an dem Ort, an dem es tagsüber von Touristen nur so wimmelte. Die gigantischen Stahlfüße der eisernen Dame, wie die Pariser den Eiffelturm gerne nannten, erschienen Faruk bedrohlich. Je länger er die Streben fixierte, desto unheimlicher wurde ihm zumute. Hatte sich dort drüben nicht gerade ein Schatten aus dem Dunkel gelöst? Faruk stand vor Anspannung ganz starr und lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben. Nein, da war nichts zu hören außer den Motorengeräuschen der wenigen Autos, die in dieser mondhellen Nacht auf der nahen Straße vorbeifuhren. Faruk kratzte sich nervös am Kinn und beschloss, sich lieber ein wenig abseits ein Plätzchen für seine Nachtruhe zu suchen. Er schaute sich um und entschied, den Pont d‘Iéna zu überqueren, der sich in Richtung Trocadéro über die Seine spannte. Hier konnte er den Eiffelturm aus der Ferne bestaunen und würde sicher ruhiger schlafen und auch besser träumen. Auf der Brücke kam ihm ein junger Mann entgegen, der ihn interessiert anblickte. Faruk lag schon ein höfliches Bonsoir auf den Lippen, als ihm auffiel, dass der Blick des Fremden etwas zu intensiv ausfiel. So senkte er nur die Augen und lief stumm an ihm vorbei. Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, sah er zwei weitere Männer, die nicht weit von ihm entfernt in einem öffentlichen Toilettenhäuschen verschwanden. Während er mit großen Schritten geradeaus lief, betrachtete er den weitläufigen Platz unterhalb eines wuchtigen Gebäudes, das wohl der Trocadéro sein musste. Oder war dies nur der Name für die Grünfläche mit den Fontänen, die sich dazwischen erstreckte? Faruk wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er besah sich die Wege, die in weiten Bögen zu den gewaltigen Mauern hinaufführten und den großzügig bemessenen Brunnen auf der gesamten Länge in ihre Mitte nahmen. In der Nähe einer hübsch angelegten Blumenrabatte, die von zierlichen Sträuchern begrenzt wurde, löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel. Faruk schaute sich erstaunt um. Dieser Ort schien ein beliebter Treffpunkt zu sein, besonders für einsame Männer. Es dauerte eine Weile, bis Faruk begriff. So hatte eben jeder seine Vorlieben, dachte er und zuckte mit den Schultern. Er interessierte sich nicht für männliche Liebhaber, aber selbst wenn … Natürlich hatte dieser Platz einen gewissen Charme und der Anblick des Eiffelturms tat ein Übriges. „Für meinen Geschmack aber eindeutig zu einsam und fast schon unheimlich, murmelte Faruk in die nächtliche Stille. Hier gab es keine Wohnhäuser, und weder Cafés noch Restaurants belebten diesen Ort. Er blieb stehen und kratzte sich ausgiebig am Kopf. Nein, als Schlafplatz kam diese Gegend wohl nicht infrage. Aber irgendwo musste sich doch eine Übernachtungsmöglichkeit finden lassen! Er war müde und die Füße taten ihm weh. Faruk ließ seinen Blick schweifen, bis seine Augen an einem auffälligen Gebilde hängen blieben. Keine zweihundert Meter von ihm entfernt stand ein Karussell. Seltsam, dachte er. So etwas kannte er sonst nur von Jahrmärkten. Nun ja, das war eben Paris. Kopfschüttelnd schob er die Gurte seines Rucksacks zurecht und machte sich auf den Weg. Als er bis auf wenige Meter herangekommen war, blieb er staunend stehen. Wie wunderschön es war! Faruk betrachtete das altertümlich anmutende Dach, das ihn an ein Zirkuszelt erinnerte. Eine Plane versperrte den Blick ins Innere, doch die aufwendig gearbeiteten Stufen ließen erahnen, dass es auch dort Nostalgisches zu bestaunen gab. Faruk umrundete das herrliche Spielzeug und heftete seine Augen fest auf die Plane. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo eine winzige Öffnung. Und dann würde er endlich einen Schlafplatz haben. Und was für einen! In aufgeregter Vorfreude rieb er sich die Hände und blieb wenig später abrupt stehen. Tatsächlich! Direkt vor ihm war ein kleiner Spalt zwischen den beigefarbenen Plastikbahnen zu erkennen. Er kletterte auf die unterste der rot bemalten Stufen, die sich um das Karussell zogen und berührte die Stelle vorsichtig. Und wirklich – die Plane gab dem leichten Druck nach. Faruk spähte in tiefes Schwarz. Er überlegte, ob er seine Taschenlampe aus dem Rucksack holen sollte, doch dann verwarf er die Idee. Schließlich wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. „Geduld, Geduld, flüsterte er und starrte weiter in das stockdunkle Innere. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Schwärze und mit einem Mal konnte er erste Konturen erkennen. Sein romantisches Herz hüpfte vor Freude. Kunstvoll verzierte Pferde und üppig geschmückte Kutschen in den phantasievollsten Formen nahmen vor seinen Augen Gestalt an. Wie schön musste dies alles erst bei Tageslicht aussehen. Und während er ins Dunkel blickte, war es ihm, als sähe er die Pferdchen und Kutschen vor sich, wie sie zur Musik ihre Runden drehten. Fast konnte er das glückliche Kinderlachen hören, das sie dabei begleitete. Genug jetzt, dachte er und riss sich aus seinen Gedanken. Ich bin müde und werde mir hier nun schnellstens ein bequemes Plätzchen suchen! Entschlossen tastete er sich zwischen mehreren Reihen von hölzernen Kutschen und Pferden voran. Nein, die sahen nicht gemütlich aus.

    „Mist! Faruks Rucksack war an dem geschwungenen Rand einer Art Muschel hängen geblieben und er drehte sich danach um, um sich zu befreien. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr. Nanu, was war denn das? Das sah ja aus wie … Er machte ein paar vorsichtige Schritte und dann stand er direkt davor. Tatsächlich! Die Nachbildung eines Fesselballons! Der kleine Korb wurde von einem hübsch bemalten Ballon getragen, mit dem er durch dicke hölzerne Schnüre verbunden war. „Mein Nachtlager, rief Faruk erfreut aus und machte sich an der kleinen Tür zu schaffen, um hineinzuklettern. „Verflixt, ist das dunkel hier drinnen", fluchte er und stützte sich mit einer Hand an der Kante des Korbes ab. Irgendwo in diesem Ding musste es doch ein Bänkchen oder etwas Ähnliches geben. Faruk schnaufte und machte einen Schritt nach vorne.

    Die Berührung traf ihn wie ein Stromstoß.

    „Bleib ruhig, ermahnte er sich selbst und versuchte, das Zittern zu kontrollieren, das sich plötzlich in seinem Körper ausgebreitet hatte. Er war gegen etwas gestoßen. Etwas Bewegliches, Weiches. Faruk atmete tief ein und versuchte seine Gedanken zu sortieren, die im ersten Erschrecken ordentlich durcheinander gewirbelt worden waren. „Kein Grund, in Panik zu verfallen, beruhigte er sich leise murmelnd. „Das ist nun einmal ein begehrter Schlafplatz. Sein Schrecken wandelte sich erst in Enttäuschung und gleich darauf in Wut. Das durfte doch nicht wahr sein! Faruk schnaubte. „Zut alors! Er war wohl nicht der Einzige, der die Idee gehabt hatte, die Nacht in einem historischen Karussell zu verbringen. Es war ihm jemand zuvorgekommen. Aber so war es nun einmal, es nützte nichts und niemandem, einen Wutanfall zu bekommen. Er schielte auf die halb ausgestreckte Gestalt, deren Umrisse er mehr erahnte, als dass er sie erkennen konnte.

    „Bin schon weg, schlaf weiter", raunte er und wollte sich gerade umdrehen, als er plötzlich innehielt. Irgendetwas störte ihn. Faruk lauschte angestrengt. Nein, da war nichts. Noch einmal horchte er in die Dunkelheit …

    Die Erkenntnis traf ihn wie ein greller Blitz. Nichts. Er hörte rein gar nichts. Kein Schnarchen, kein Murmeln, nicht einmal ein Atmen. Faruk stand wie erstarrt, während die Gedanken wild durch seinen Kopf rasten. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach wegzulaufen und hatte gleichzeitig das Gefühl, keinen einzigen seiner Muskeln bewegen zu können. Es war ihm, als würde dieser Zustand völliger Lähmung eine kleine Ewigkeit dauern. Doch dann kündigte ein zartes Kribbeln in Armen und Beinen an, dass Körper und Geist bereit waren, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Faruk gingen die Worte eines Koranverses durch den Kopf und eine Weile lang konzentrierte er sich auf sein Gebet. Er musste versuchen, wieder klar und logisch zu denken. Doch was sollte er nun als Erstes tun? Du musst von hier weg, sagte er sich und dann wurde seine innere Stimme noch etwas eindringlicher. Mach schon, Mann, bloß weg hier! Faruk stolperte die Stufen des Karussells hinunter und rannte wie ein Gehetzter den Weg entlang, der zum Trocadéro hinaufführte. Seine Lungen begannen bereits pfeifende Geräusche von sich zu geben, als er so abrupt stehenblieb, dass er auf dem Untergrund aus Kies und Sand ausrutschte. In seinem linken Knie spürte er einen heftigen Schmerz. „Verflucht", brummte er und betastete vorsichtig sein Bein. Es war lange her, dass er so schnell gerannt war und noch dazu bergauf. Faruk hielt sich die Seite, die nun zu allem Überfluss auch noch unangenehm zu stechen begann. Nein, das brachte nichts, überlegte er. Dort oben am Ende des Weges gab es vielleicht einige Restaurants, aber die hatten um diese Uhrzeit sicher alle längst geschlossen. Wo sollte er an diesem gottverlassenen Ort denn jemanden finden? Er blickte zum Eiffelturm hinüber, dessen Silhouette sich dunkel und bedrohlich vom mondbeschienenen Himmel abhob.

    „So ein Mist, schrie Faruk dem Stahlkoloss entgegen. Vor Wut kamen ihm die Tränen und er bemerkte, wie ein verzweifeltes Kichern seine Kehle hinaufkroch. Seine ersten Tage in der Stadt des Lichts hatte er sich nun wirklich anders vorgestellt. „Schluss jetzt, ermahnte er sich laut. „Reiß dich zusammen!" Er wandte seinen Blick nach Osten, wo am Horizont bereits ein kleiner, helloranger Streifen zu erkennen war. Langsam und eindringlich sprach er ein weiteres Gebet und fühlte sich gleich darauf ruhiger. Allah war ihm schon immer eine wichtige Stütze gewesen, dachte Faruk voller Dankbarkeit. Doch was ich jetzt vor allen Dingen brauche, fügte er im Stillen noch hinzu, ist ein menschliches Wesen! Er wandte seinen Blick vom Himmel ab und schaute sich um. Etwa hundert Meter links von ihm nahm er den Umriss eines ovalen Gebäudes wahr. Natürlich! Faruk schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie hatte er das nur vergessen können: Das Toilettenhäuschen! Der Treffpunkt der Homosexuellen! Hier würde er sicher jemanden finden, der ein Handy dabeihatte. Bitte, Allah, lass noch jemanden hier sein, bitte! Faruk fing an zu laufen und begann schon nach wenigen Sekunden laut zu schnaufen. Ich muss dringend etwas für meine Kondition tun, dachte er und schnappte gleich darauf vor Erleichterung nach Luft. Ein Mann trat hinter dem Klohäuschen hervor und schien für einen kurzen Moment in Faruks Richtung zu blicken. Der riss sofort beide Arme nach oben und begann sie über seinem Kopf zu bewegen wie ein Ertrinkender.

    „Heee, hallo, Monsieur, schrie er aus Leibeskräften. „Au secours, s´il vous plaît! Bitte, Monsieur, bitte warten Sie, ich brauche Ihre Hilfe!

    Der Mann blieb tatsächlich stehen und schaute scheinbar regungslos in seine Richtung. Und noch während Faruk auf ihn zu rannte, mischte sich ein anderes, seltsam nagendes Gefühl in seine Erleichterung. Was machte ihn eigentlich so sicher, dass von diesem Typen, dem er mit jedem Schritt näher kam, tatsächlich Hilfe zu erwarten war?

    Avenue van Dyck, 8. Arrondissement

    Kommissarin Victoire Eléonore de Belfort gähnte. Gerade noch war sie im Traum über eine wunderschöne Blumenwiese spaziert und nun saß sie schlaftrunken zwischen den durcheinandergeratenen Laken ihres Bettes und tastete nach dem Handy. Ihr Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit. Die schweren Brokatvorhänge vor den bodentiefen Doppelfenstern ließen nicht den kleinsten Schimmer des Mondlichtes eindringen, das draußen die Bäume des Parc Monceau versilberte. Vic, wie ihre Freunde sie nannten, hielt sich das bläulich leuchtende Viereck des Displays direkt vors Gesicht und blinzelte. Ein entgangener Anruf. Offenbar hatte sie so fest geschlafen, dass sie die Melodie ihres Ruftons als Teil ihres Traumes wahrgenommen hatte. Die Nummer sagte ihr nichts, aber es musste Loïc Perrec gewesen sein, der da gerade versucht hatte, sie zu erreichen. Sie seufzte tief und betrachtete resigniert die kleinen Zahlen, die ihr die Zeit anzeigten. Wer sonst sollte sie auch an einem Donnerstagmorgen um vier Uhr dreiundzwanzig anrufen? Offensichtlich hatte sie die Mobilnummer ihres Inspektors noch nicht zu den Telefonkontakten hinzugefügt. Der junge Bretone gehörte erst seit gut einer Woche zu ihrem Team. Er hatte einige Jahre in einer kleinen Dienststelle an der Côte d‘Armor gearbeitet und sich nach einer Weiterbildung an der École Nationale de Police in Saint-Malo für die höhere Beamtenlaufbahn im Polizeidienst qualifiziert.

    „Ein äußerst intelligenter junger Mann, war de Belforts Vorgesetzter, Monsieur le Préfet, voll des Lobes gewesen. „Meine uneingeschränkte Hochachtung vor jungen Menschen, die aus, wie soll ich sagen, der Chef der Polizeibehörde hatte sich umständlich geräuspert, „die aus dem einfachen Volk kommen und sich aufgrund ihrer Intelligenz und einer großen Portion Ehrgeiz in die oberen gesellschaftlichen Ränge emporarbeiten." Während er sprach, hatte er eine fast militärische Haltung angenommen und ausgesehen, als wolle er in Kürze das Défilé der französischen Ehrenlegion abnehmen. De Belfort verstand sich sehr gut mit dem Präfekten, der, stolzer Repräsentant eines alten Pariser Adelsgeschlechtes, mit vollem Namen Édouard Philippe Charles de Montmirail hieß. Obwohl Éd, wie er in der Brigade genannt wurde sobald er außer Hörweite war, wie die personifizierte Definition für Großbürgertum daherkam, war er ein kompetenter und charakterstarker Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Am Quai des Orfèvres, dem Sitz der Brigade Criminelle, der Pariser Mordkommission, genoss er daher hohes Ansehen und das absolute Vertrauen seiner Mitarbeiter. De Belfort gähnte erneut. Während sie sich ihr linkes Auge rieb, drückte sie mit der anderen Hand die Taste, die sie mit Perrec verbinden würde.

    „Guten Morgen, Madame le Commissaire", vernahm sie kurz darauf die herzliche und ein wenig aufgeregte Stimme ihres Inspektors.

    „Ich bin mir sehr sicher, dass er ganz und gar nicht gut ist, habe ich recht?, entgegnete de Belfort, ohne sich lange mit einem Gruß aufzuhalten. „Sie werden mich nicht ohne Grund zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geklingelt haben.

    Kaum waren die Worte ausgesprochen, taten sie ihr auch schon leid. Ihr Inspektor konnte schließlich nichts dafür, dass es offensichtlich wieder einmal Zeit war, einen Mord aufzuklären. Und in den meisten aller Fälle geschahen derlei Dinge nun einmal nicht am Nachmittag. Noch weniger aber konnte er dafür, dass sie bereits mit einer geradezu unterirdisch schlechten Laune zu Bett gegangen war. Daran hatte Étienne Schuld, ihre große Liebe und zuverlässiger Quell für prickelndes Glücksgefühl und dunkelsten Herzschmerz. In welche Richtung der Kompass der Emotionen gestern Abend ausgeschlagen hatte, das hatte ihr Inspektor soeben zu spüren bekommen.

    „Perrec, sind Sie noch dran?", fragte sie und achtete darauf, ihre Stimme so freundlich und warm klingen zu lassen, wie es ihr unter den gegebenen Umständen eben möglich war.

    „Ja, entschuldigen Sie, Commissaire, selbstverständlich, ich war kurz abgelenkt, kam seine Antwort, nun eine winzige Spur kühler als zuvor. „Wir haben hier eine Leiche.

    De Belfort legte geistesgegenwärtig die Hand über den Lautsprecher des Telefons, bevor sie genervt einen Schwall Luft ausstieß. Sie verdrehte die Augen zur Decke und ihre Lippen formten ein stummes: Womit habe ich das bloß verdient? Dann führte sie ihr Handy zurück ans Ohr und sagte betont aufgeräumt:

    „Hören Sie, lieber Perrec, Sie können davon ausgehen, dass ich nicht erwartet habe, mit diesem Anruf zu einem Frühstück in die Bar des Palais de Chaillot eingeladen zu werden." Sie musste über ihren Einfall selbst schmunzeln und fragte sich, wie sie nun gerade auf dieses Restaurant gekommen war, in dem sie seit Jahren nicht mehr gegessen hatte.

    „Alors, Perrec, sagte sie aufmunternd, „sagen Sie mir, wo!?

    „Trocadéro, kam die zögerliche Antwort aus der Leitung und es klang fast wie eine Frage. „Aber was hat das mit Frühstück zu tun?

    De Belfort rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. Das durfte alles nicht wahr sein. Sie erhob sich von ihrem Bett und lief im schwachen Licht des Handydisplays zum Fenster. Mit der freien Hand zog sie die schweren Vorhänge zurück und blickte zum Himmel, an dem der Vollmond groß und erstaunlich dreidimensional zu sehen war. Hatte Éd wirklich von eben diesem Loïc Perrec gesprochen, als er sich in nicht enden wollenden Lobeshymnen ergangen hatte? Sie betrachtete den Park, der nur ein paar Meter von ihrem Fenster entfernt lag. Der herrschaftliche, schmiedeeiserne Zaun, der ihn umgab, verlieh diesem grünen Fleckchen Paris eine ganz besondere Schönheit. Ihr Blick blieb in den silbrig glänzenden Baumkronen hängen, die sich sachte im Wind bewegten. Womöglich schlief sie noch und diese Szene war nur ein absurder Teil eines verworrenen Traumes.

    „Madame? Hören Sie mich noch, Madame le Commissaire?"

    De Belfort räusperte sich und hielt sich ihr Mobiltelefon direkt vor den Mund, bevor sie betont langsam zu sprechen begann. Perrec musste annehmen, dass sie ihn für einen kompletten Idioten hielt, aber momentan war sie von diesem Gedanken nicht allzu weit entfernt.

    „Hören Sie Perrec, ich weiß, dass das Palais de Chaillot am Trocadéro ist. Die Erwähnung dieses Restaurants war ein Scherz. Das gleiche gilt für das Frühstück. Ein Scherz, Perrec! Ich verstehe ja Ihre Aufregung, schließlich ist das Ihr erster Toter. Aber nun konzentrieren Sie sich bitte und berichten mir, an welchem Ort Sie sich gerade befinden. Wo zum Teufel sind Sie?"

    „Trocadéro, wiederholte der Inspektor und nun klang er wie ein trotziges Kind. „Ich befinde mich im Jardin du Trocadéro und zwar direkt bei diesem historischen Karussell. Das kennen Sie doch sicher, Madame le Commissaire.

    Auch wenn es aufgrund der immer noch herrschenden Dunkelheit unerheblich war, so spürte de Belfort in diesem Moment, wie ihre Gesichtsfarbe in schneller Abfolge von einem tiefen Rot zu fahlem Bleich und wieder zurück wechselte.

    „Entschuldigen Sie bitte, Perrec, ich dachte, ich meine, ich dachte, Sie hätten, ach, Himmel noch mal, ich bin einfach noch nicht richtig wach …"

    „Schon gut, Madame le Commissaire, kam seine Stimme ein wenig scheppernd durch den Lautsprecher. „Wir haben wohl aneinander vorbeigeredet. Ein Missverständnis, halb so schlimm.

    Er lachte fröhlich, doch de Belfort konnte die Unsicherheit heraushören, die sich dahinter verbarg.

    „Nein, Inspektor, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, sagte sie mit ernster Stimme, die kurz darauf einen weniger förmlichen Ton annahm. „Und nun geben Sie mir noch ein paar Minuten, ich bin gleich bei Ihnen.

    „Soll ich Ihnen einen Beamten schicken, der Sie mit dem Wagen abholt?"

    „Non merci, das ist nicht nötig, ich nehme das Rad."

    Noch bevor ihr Mitarbeiter etwas erwidern konnte, drückte sie die Gespräch beenden-Taste ihres Handys und warf es hinter sich aufs Bett. Mit energischen Schritten ging sie zur Schlafzimmertür und trat in den stuckverzierten Flur, der ihre Wohnung auf einer Länge von elfeinhalb Metern durchzog. Hochherrschaftlich! Nobel! Königlich! Mit diesen oder ähnlichen Ausrufen bedachten ihre Freunde ihr Appartement, wenn sie es zum ersten Mal betraten. Was vor allem daran lag, dass sie selbst zumeist einen Bruchteil all der Quadratmeter bewohnten, die sie hier staunend und mit offenem Mund durchwanderten. Doch abgesehen von der Größe und der 1A-Lage direkt am Park, zeigte de Belforts Wohnung keinerlei Anzeichen großbürgerlicher Gesinnung. Die komplette Inneneinrichtung bestand aus alten, zum Teil deutlich abgenutzten Möbeln, die in kreativem und sehr gemütlichem Durcheinander die Zimmer füllten. Die Kommissarin liebte es, über die Antikmärkte in den Straßen von Paris zu wandern. Und mit den Schätzen, die sie dort entdeckte, hatte sie sich ihr Zuhause geschaffen.

    Sie sprang unter die Dusche und zog kurz darauf in aller Eile Jeans und ein langärmeliges Poloshirt aus dem Schrank. Auf dem Weg zur Wohnungstür schnappte sie sich ihre Jacke und schlüpfte in die dunkelblauen Turnschuhe, während sie schon den Hausschlüssel von einem filigranen Brett gleich neben der Tür nestelte. Verflixt, jetzt hätte sie fast ihr Handy vergessen. Auf Zehenspitzen, damit die Nachbarn in der Wohnung unter ihr nicht aus den Betten fielen, rannte sie ins Schlafzimmer und zog das Telefon zwischen den Laken hervor. Kurz darauf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Aus einem kleinen Abstellraum in der großzügigen Eingangshalle des typisch pariserischen Haussmann‘schen Gebäudes zog sie ein weiß lackiertes Mountainbike hervor. Nur wenige Sekunden später trieb die Kommissarin ihr Rad mit kräftigen Tritten die nahezu menschenleere Avenue Hoche hinunter. Victoire de Belfort liebte diese Art der Fortbewegung. Und morgens um kurz vor fünf genoss sie sie ganz besonders. Sie spürte den angenehm kühlen Lufthauch auf ihrem Gesicht, während sie in rasantem Tempo die Avenue bis zur sternförmig angelegten Place Charles de Gaulle-Étoile entlangfuhr. Um diese Uhrzeit waren kaum Autos unterwegs und so schoss sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Platz. Bevor sie in die

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