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HOLO-TOD: Teil I: Museum der Morde Teil II: Die Rückkehr
HOLO-TOD: Teil I: Museum der Morde Teil II: Die Rückkehr
HOLO-TOD: Teil I: Museum der Morde Teil II: Die Rückkehr
eBook727 Seiten9 Stunden

HOLO-TOD: Teil I: Museum der Morde Teil II: Die Rückkehr

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Über dieses E-Book

Ein interaktives Museum der Morde ... Das geheimnisvollste Flugschiff der Erde ... Der Wunsch nach Unsterblichkeit ...

Der exzentrische Multimilliardär, Kunstsammler und geniale Erfinder Tom Rickman eröffnet im Jahr 2049 auf einer künstlichen Ostsee-Insel ein Museum mit originalen Tatorten. Ein heftig umstrittenes Projekt, denn die Besucher können hier Morde miterleben, die von holografischen Figuren aus verschiedenen Epochen realistisch und sogar interaktiv dargestellt werden.
Die Hamburger Privatdetektivin "Sam" Merkmann erledigt dort einen Routineauftrag - sie ahnt nicht, dass schon bald ein echter Mörder sein Unwesen treibt und sie selbst in einen gefährlichen Strudel unglaublicher Ereignisse gerät.
Die Mörder-Hologramme verlassen die Insel und verbreiten Tod und Schrecken. Doch niemand weiß, dass dies nur ein Ablenkungsmanöver ist. Dahinter steckt ein genialer Kopf mit einem größenwahnsinnigen Plan, der die Grundfesten der katholischen Kirche zu erschüttern droht und dessen Ziel nicht nur die Vernichtung der Kirche ist – sondern das Ende der Welt.

Ein intelligenter, ungewöhnlicher Thriller mit Elementen aus Historie und Science-Fiction. Amüsant geschrieben und mit vielen interessanten kulturhistorischen Bezügen, schillernden Charakteren und vor allem mit viel Freude am Skurrilen, Fantastischen und unvermuteten Wendungen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Juni 2017
ISBN9783742784841
HOLO-TOD: Teil I: Museum der Morde Teil II: Die Rückkehr

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    Buchvorschau

    HOLO-TOD - Klaus J. Dorsch

    Prolog

    Wenn Sie dies hier lesen, bin ich vielleicht schon tot, dann soll mein Mörder dafür bezahlen, Sie werden wissen, wer es ist, denn nur er allein hat ein Motiv. Wahrscheinlich bin ich aber sehr, sehr reich und weit, weit weg. Wie auch immer die Geschichte ausgeht, ich möchte nicht, dass er damit durchkommt. Nicht er! Nicht schon wieder! Egal, wieviel er gezahlt hat. Er soll dafür büßen! Er hält sein Verbrechen allen unter die Nase - der ganzen Welt - und keiner sieht es. Ist das seine Art der Sühne? Die Sühne für seinen Mord? Ich kann es beweisen. Und ich werde ihm zeigen, dass man mit Geld eben nicht alles machen kann.

    Ich muss mich zwingen, nicht durchzudrehen. Nicht jetzt, so kurz vor dem Erfolg.

    Der Reihe nach. Ich muss der Reihe nach berichten. Es darf nicht alles umsonst gewesen sein.

    Wo fange ich an? Vielleicht mit Cheops.

    Der Multimilliardär Dr. Tom Rickman saß in seinem Büro in einer Station mehrere hundert Meter tief im ewigen Eis der Antarktis und lächelte.

    Er dachte an Mord.

    Der Museumsdirektor Graf Gero von Parneck saß im Verwaltungsgebäude des „Rickman Museum of Crime Scenes" auf einer künstlichen Insel in der Ostsee und lächelte ebenfalls.

    Auch er dachte an Mord.

    Die Privatdetektivin Samantha A. Merkmann saß in der Café-Lounge des Restaurants „Störtebeker" am Hamburger Hafen und lächelte.

    Sie dachte an Streuselkuchen.

    Kapitel 1

    Rimania City, Antarktis, 30. April 2049

    Tom Rickmans Büro lag in der Antarktis, nahe dem Marie-Byrd-Land, in Richtung zum geographischen Südpol. Besser gesagt, es lag unter dem Eis der Antarktis. Und Büro war wohl der falsche Ausdruck für den riesigen, fensterlosen Raum mit den vier wandfüllenden Bildschirmflächen, die auf Wunsch dreidimensional und täuschend echt das Aussehen einer festen Mauer, einer Unterwasserlandschaft oder eines Ausblicks in den Weltraum annehmen konnten, meist aber Landkarten, Diagramme oder Nachrichtensendungen aus aller Welt zeigten. Kommandozentrale wäre die treffendere Bezeichnung, denn von hier aus steuerte Rickman sein weltweites Firmen-Imperium, leitete seine zahlreichen wissenschaftlichen Forschungsprojekte und koordinierte die Ankäufe für seine gigantische Kunstsammlung.

    Momentan zeigten die Wandflächen des Raumes nichts als ein sanftes, angenehmes Weiß. Rickman saß an einem Schreibtisch, der nur aus einer großen, ovalen Platte aus satiniertem, schwarzem Glas bestand, die auf zwei dünnen, fast unsichtbaren Säulen ruhte, welche aus der Nähe wie zerstoßenes Eis aussahen. Das ungewöhnliche Möbelstück war ein Entwurf des weltbekannten, zeitgenössischen Künstler Claas Vanraedam, dessen Werke Preise von mehreren Millionen Euro erzielten.

    Ansonsten war der Raum fast leer. Schubladen oder Schränke suchte man vergebens, bei Bedarf ließ der Computer die benötigten Elemente aus dem Boden hochfahren. Sämtliche Kontroll- und Bedienungselemente, die Rickman brauchte, konnten durch einen akustischen Befehl holografisch über und auf der Tischoberfläche projiziert werden. Selbst Beleuchtungskörper fehlten. Die Decke strahlte in einem gleichmäßigen, hellen Blaugrau, das dem Tageslicht entsprach und den Eindruck erweckte, als würde sich über dem Raum, der in Wirklichkeit in vielen Metern Tiefe lag, ein freier, wolkenloser Himmel öffnen. Manchmal brauchte Rickman das Gefühl, das ihm leere, weite Räume mit einfachen Strukturen vermittelten, um über komplexe Sachverhalte nachdenken zu können.

    Er atmete die kühle, klare Luft, deren feine Nuancen - von alpin bis mediterran - vom Umwelterhaltungssystem ganz nach Wunsch aus hunderten von Komponenten zusammengestellt werden konnten. Heute bevorzugte Rickman einen kaum wahrnehmbaren Hauch frischer Bergamotte.

    Er gab dem Computer den Befehl, die vier Wandflächen in eine Live-Ansicht der Außenwelt zu verwandeln. Die Illusion war mehr als perfekt. Man hätte glauben können, Rickman säße an seinem Schreibtisch inmitten einer sonnenbeschienenen, endlosen Eislandschaft. Er schätzte die meist ereignislose, weiße Fläche, die sein Domizil bis zum Horizont umgab. Oft war er es müde, seine Augen und seinen Geist mit überflüssigem Ballast zu belasten, den er gleichwohl durch seinen Reichtum fast unvermeidlich um sich herum ansammelte. Denn natürlich genoss er auch die Annehmlichkeiten, die sein extremes Vermögen mit sich brachte und die exklusiven Dinge, mit denen er sich oft in verschwenderischer Fülle umgab. Er zweifelte nicht, ein Recht darauf zu haben, schließlich hatte er sich dies alles hart erarbeitet - er allein. Sein früheres Leben hatte anders ausgesehen. Ganz anders.

    Rickman war jetzt 70 Jahre alt, aber unvoreingenommene Beobachter hätten ihn auf höchstens Mitte 50 geschätzt. Sein kurzgeschorenes, graues Haar und die stahlgrauen Augen, die ihr Gegenüber stets aufmerksam und meist etwas überheblich fixierten, standen in attraktivem Kontrast zu der glatt rasierten, sonnengebräunten Haut seines immer noch faltenlosen Gesichts. Die dünnen Lippen wirkten hart und kennzeichneten einen Menschen, der gelernt hatte, sich durchzusetzen und der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Auch seine geschmeidigen, kraftvoll wirkenden Bewegungen ließen nicht auf sein wahres Alter schließen.

    Dies kam nicht von ungefähr. Nicht nur, dass er seit Jahrzehnten eisern ein strenges Fitness-Programm absolvierte und sich nach einem wissenschaftlich ausgearbeiteten Plan ernährte, es stand auch ein ganzes Team von Fachärzten und Physiotherapeuten sowie Heilpraktiker, Reiki-Meister, Fachleute für alte chinesische Medizin und sogar ein Schamane rund um die Uhr zu seiner persönlichen Verfügung. Für Notfälle gab es in der riesigen Station eine mit den neusten technischen Errungenschaften eingerichtete Klinik und einen Operationssaal, welcher dem der Charité in Berlin in nichts nachstand. Im Gegenteil. Seit dem Kollaps der staatlichen Gesundheitssysteme in den meisten Ländern und der fast weltweiten Abschaffung der Krankenkassen zugunsten einer „eigenverantwortlichen Vorsorge" - wie es damals euphemistisch in der politischen Propaganda hieß - waren erstklassige medizinische Dienstleistungen sowieso nur noch den Begüterten zugänglich und Rickman leistete sich auch hier das Beste vom Besten.

    Während er den Blick über die beruhigende Eintönigkeit seiner Umgebung schweifen ließ, dachte er an einen Aphorismus von Oscar Wilde, den er sehr schätzte. Wilde hatte einmal geschrieben, er habe einen einfachen Geschmack – immer nur das Beste.

    Rickman lebte nach diesem Motto. Die riesige Station, die er sich nach eigenen Plänen von einem Heer von Experten hatte bauen lassen, glich einer Festung. Einer sehr komfortablen Festung allerdings, denn es fehlte hier an keinem nur erdenklichen Luxus. Es gab sogar parkähnliche Gärten unter dem ewigen Eis. Mit immensem technischem und energetischem Aufwand war unter anderem eine Südseelagune mit üppiger Vegetation nachgebildet worden - ein Paradies, bei dem nur der strahlend azurblaue Himmel mit seinen sanft dahinziehenden, weißen Wölkchen auf einer optischen Illusion beruhte.

    Als man 1959 im Antarktis-Vertrag den unabhängigen politischen Status des Gebietes um den Südpol festgeschrieben und kein Staat der Erde klassische Territorialansprüche geltend gemacht hatte, wurde die Nutzung für friedliche und wissenschaftliche Zwecke gestattet, eine Klausel, die Rickman für sich zu nutzen verstand. Er beanspruchte im Jahre 2041 mit Billigung der UNO ein mehr als 70.000 Quadratkilometer großes Gebiet, was etwa der Fläche von Bayern entsprach, und errichtete darauf eine Forschungsstation. Er startete umfangreiche wissenschaftliche Projekte, welche die Möglichkeit menschlicher Siedlungen in einer 4500 Meter dicken Eisschicht testen und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Südpolregion und die gesamte Erde mit neuartigen Messtechniken untersuchen sollten.

    Seine Forschungsergebnisse überließ er allen Staaten der Erde uneingeschränkt und kostenlos. Darüber hinaus gab es in Rimania City, wie er die Station - das Zentrum seines Landes - nannte, bestens ausgestattete wissenschaftliche Labors mit Gästesuiten, die Forschern aus der ganzen Welt für unterschiedlichste Projekte frei zur Verfügung standen. Hochintelligenten jungen Menschen gewährte er großzügige Stipendien und Bildungsmöglichkeiten ohne Ansehen ihrer Herkunft und ohne lange zu fragen, ob ihre Forschungsziele sinnvoll seien, denn auch er hatte seine beispiellose Karriere auf Visionen aufgebaut, die fantasielose Bedenkenträger zunächst als Spinnereien abgetan hatten, bis er sie eines Besseren belehrte. Den Stipendiaten wurde auch gestattet, interdisziplinär Forschungseinrichtungen der Station zu nutzen und sich überall frei zu bewegen.

    Fast überall.

    Auf diesen großzügigen Gesten baute Rickman ein diplomatisches Bravourstück auf: Er wandelte seinen Besitz in einen Kleinstaat um, der von allen Mitgliedsstaaten der UNO zunächst rechtlich und politisch geduldet, später jedoch offiziell als souverän anerkannt wurde, wobei reichlich Geld geflossen sein soll. Seit die klassischen Staatengebilde des 20. Jahrhunderts von einer wirtschaftlichen Krise in die nächste schlitterten und vor allem Geld - viel Geld - brauchten, um ihre bankrotten Staatshaushalte zu sanieren oder wenigstens die Zinsen ihrer gigantischen Schuldenberge bedienen zu können, legte man Verträge und internationale Vereinbarungen oft etwas großzügiger aus und war manchem Ansinnen begüterter Zeitgenossen aufgeschlossener als früher.

    Tom Rickman hatte mit der Gründung seines Staates Rimania den Status eines Staatsoberhauptes über seine mehr als 1500 dort ständig lebenden Mitarbeiter erlangt und konnte daraus international etliche Privilegien ableiten, die ihm bei seinen Plänen und profitablen Geschäften äußerst dienlich waren und seinen ohnehin immensen Einfluss noch vergrößerten.

    Sein Blick ruhte immer noch auf der glitzernden Eisfläche.

    Er dachte an Mord. Genauer gesagt, an ein Haus, in dem zehn Morde geschehen waren. Und an sein Museum, in dem dieses Haus und die darin begangenen Gewaltverbrechen gezeigt werden sollten.

    Er telefonierte. Hierzu sprach er einfach in den Raum hinein, der Computer sorgte für die nötige Verbindung und garantierte deren akustische Qualität.

    „Krämer, nehmen Sie Kontakt zu Merkmann in Hamburg auf. Übergeben Sie die vorbereiteten Unterlagen und betonen Sie die Priorität der Mission. Sanders soll alle juristischen Probleme erledigen und im Erfolgsfall die sofortige Translozierung des Gebäudes veranlassen. Er hat alle Vollmachten. Ich erwarte schnelle Ergebnisse."

    „Wie Sie wünschen, Dr. Rickman."

    Das Gespräch war damit beendet. Rickmans Anweisungen waren wie immer klar und unmissverständlich. Rückfragen erübrigten sich wie stets. Seine persönlichen Assistenten erwarteten von ihm keine Höflichkeitsfloskeln oder gar eine Verabschiedung.

    Die Schiebetüren des geräumigen Lifts in Rickmans Büro schlossen sich lautlos, nachdem er die Kabine betreten hatte. Ausschließlich von hier aus - und dies war nur wenigen Menschen bekannt - konnte man bis in das 13. Stockwerk der riesigen Station hinunterfahren.

    Diese Etage barg das Allerheiligste, in das der Multimilliardär nur besonders auserwählte Gäste führte: seine Kunstsammlung. Unnötig zu erwähnen, dass es sich um die größte private Kunstsammlung der Welt handelte und nur Institutionen wie der Louvre oder die Vatikanischen Museen konnten es an Qualität und Quantität mit dieser Kollektion an Schätzen aufnehmen. Wenn überhaupt. Rickman hatte mehrere große Privatsammlungen aufgekauft sowie einige komplette kommunale Museen, die aus Mangel an öffentlichen Geldern schließen mussten. Finanzschwache Länder, wie etwa Ägypten, veräußerten Spitzenstücke aus ihren staatlichen Museen, um soziale und humanitäre Projekte zu finanzieren und wenigstens die dringendsten Probleme in den Griff zu bekommen, wobei Rickman sich stets äußerst großzügig zeigte. Er beschäftigte weltweit zahlreiche Agenten, die ständig nach neuen Optionen Ausschau hielten. Sie boten als Strohmänner für ihren Auftraggeber bei Auktionen, kauften für ihn verdeckt im offiziellen Kunsthandel, aber auch auf dem Schwarzmarkt und sogar von dubiosen Schatzsuchern, die es mit den örtlich geltenden Bestimmungen zum Schutz von Kulturgut nicht so genau nahmen.

    Gestohlene Objekte erwarb Rickman jedoch grundsätzlich nicht, und er gab auch keine Diebstähle oder Einbrüche in Auftrag. Er achtete die Gesetze so gut es ging, legte manche Bestimmung und Verordnung aber oft großzügig aus, wenn er deren Sinn in Frage stellte. So gab es Menschen und Behörden, die meinten, ein Kunstwerk müsse an seinem Ursprungsort verbleiben. Doch wo wären heute die herrlichen Parthenon-Friese eines Phidias, wenn nicht die Briten sie vor langer Zeit mehr oder weniger illegal aus Athen fortgeschafft hätten? Man konnte sie immer noch im Britischen Museum in alter Pracht bewundern, während die beklagenswerten Teile, die am Tempel auf der Akropolis verblieben, schon am Ende des 20. Jahrhunderts von den Autoabgasen der Millionenstadt bis zur Unkenntlichkeit zerfressen gewesen waren.

    Rickman hatte moralisch kein Problem damit, bedeutende Kunstwerke der Menschheit zu erhalten, indem er sie der Menschheit vorenthielt. Hier unten, tief im antarktischen Eis, lagerten unermessliche Schätze, die Kunsthistoriker in aller Welt das Staunen gelehrt hätten.

    Er erreichte die unterste Etage.

    „Letztes Stockwerk. Eine Weiterfahrt ist nicht möglich", hörte er die Computerstimme.

    „Weiterfahren. Autorisation Riker alpha."

    Rickman lächelte. So alt er auch sein mochte, er hing immer noch an seinen Jugenderinnerungen, vor allem an den Science-Fiction-Serien, die er damals regelrecht verschlungen und denen er letztlich seine berufliche Karriere und seinen heutigen Status zu verdanken hatte: Innovativster Erfinder. Reichster Mann der Erde. Staatsoberhaupt von Rimania und schon bald - Nobelpreisträger.

    Die Metalltüren glitten leise zur Seite und gaben den Blick auf einen schier endlos langen Korridor frei, von dem zahlreiche weitere Räume abzweigten. Ein dunkelgrauer, weicher Bodenbelag dämpfte seine Schritte. Das Licht war schwach und erhellte sich automatisch nur in den Räumen, die ein Besucher durchschritt.

    Die Luft roch auch hier frisch und angenehm. Relative Luftfeuchtigkeit und Temperatur waren optimal auf die jeweiligen Objekte abgestimmt und wurden vom Computer ständig überwacht und korrigiert.

    Rickmans Ziel war ein ganz bestimmter Raum. Vier großformatige Ölgemälde hingen hier, jedes an einer der Wände: Eine grausige Enthauptung des Holofernes, ein David mit dem blutenden Haupt des Goliath in der Hand, eine Darstellung von Abraham, der gerade seinen Sohn Isaak mit einem Messerstich opfern will, und an der Stirnseite Rickmans Lieblingsbild. Alle gemalt von einem der großartigsten und extremsten Künstler, den das frühbarocke Italien hervorgebracht hatte.

    Hierher kam Rickman oft, und das kleinste der Bilder, vor dem er nun stehengeblieben war, gehörte zu denen, die er immer und immer wieder wie aus einem inneren Zwang heraus betrachtete - dabei aber jedesmal erneut voller Genuss. Gewiss gab es in seiner großen Sammlung kunsthistorisch Bedeutenderes und künstlerisch Wertvolleres, etwa das monumentale Gemälde der Anghiari-Schlacht von Leonardo da Vinci - ein wunderbares, kraftvolles Motiv, von dem alle Welt glaubte, dass davon nur ein nie vollendetes und nach kurzer Zeit wieder übermaltes Wandgemälde im Palazzo Vecchio in Florenz existiert hätte, von dessen Aussehen heute nur noch einige Skizzen eine schwache Vorstellung vermittelten.

    Keines der über dreitausend Gemälde hier war beschriftet, denn Rickman wusste auch so, wer sie gemalt hatte und welche Geschichten sie erzählten. Ein Beschriftungsschild hätte den ästhetischen Genuss beim Betrachten des Kunstwerkes gemindert. Im Bedarfsfall hätte der Computer auch auf Zuruf über jedes Objekt erschöpfend Auskunft geben können. So auch über dieses.

    Caravaggio. Die Stigmatisierung des Hl. Franziskus. Gemalt für eine kleine Kirche in Triest: Santa Maria in Valletta. Als Rickman davor stehenblieb, entstand neben dem Gemälde aus dem Nichts eine holografische Figur mit dem Aussehen von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, anhand von Selbstbildnissen des Malers vom Computer rekonstruiert.

    Während Rickman in einem bequemen Fauteuil Platz nahm, blickte er dem Künstler in die Augen.

    In die Augen eines Mörders.

    Es war ein herrliches Bild, 92 cm hoch und 128 cm breit, das viele Jahre in der später abgerissenen Kirche hing, bevor es durch die Wirren des 2. Weltkrieges über viele Hände in amerikanischen Privatbesitz geriet, wo Rickman es aufkaufen ließ. Ein geniales Meisterwerk, gemalt von einem Mörder.

    Und nicht nur das - es erzählte auch die Geschichte seines Mordes.

    Rickman betrachtete das Bild so genau, als sähe er es heute zum ersten Mal: Vor einem fast schwarzen Hintergrund, der nur durch ein paar fahle, vegetabile Elemente belebt ist und in der Mitte mit wenigen hellen Strichen den nahen Morgen erahnen lässt, liegt diagonal hingestreckt die Gestalt des Heiligen Franziskus. Die braune Kutte hüllt ihn fast ganz ein, nur ein bloßer Fuß und die beiden Hände ragen hervor. Von den Stigmata, den Wundmalen Christi, die der Heilige gerade empfangen haben soll, ist eigenartigerweise nichts zu bemerken, die Handflächen sind wie zufällig nach innen gedreht. Nur ein kleiner Riss in der Kutte über der rechten Brust gibt dem kundigen Gläubigen einen Hinweis auf das soeben Geschehene. Der Kopf liegt zurückgesunken, die Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge kraftlos, ja leblos. Oberkörper und Kopf ruhen im Schoß eines jungen Engels, der sich zu Franziskus hinabbeugt und ihn sinnend, jedoch eigenartig betrübt betrachtet.

    Wenn man ganz genau hinsah, wie Rickman es jedes Mal tat, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Heilige nicht etwa überwältigt vom mystischen Geschehen in eine tiefe Ohnmacht gefallen, sondern tot war.

    Rickman war überzeugt davon, dass Caravaggio unter dem Deckmantel der Schilderung eines Wunders aus der Franziskus-Legende hier in Wirklichkeit ein Verbrechen zeigte.

    Sein eigenes Verbrechen.

    Der Engel, der sich über den Toten beugt, ist Caravaggio selbst, die Ähnlichkeit mit der aus den Selbstbildnissen generierten Holo-Figur war unübersehbar, die leblose Gestalt des Heiligen hingegen trägt die Züge von Rannuccio Tommasoni aus Turin, den der Künstler 1606 im Streit erschlagen hatte und daraufhin aus Rom geflohen war.

    In diesem Bild verarbeitete der damals 36jährige Caravaggio dieses traumatische Erlebnis, stellte sich selbst und sein Opfer der ganzen Welt vor Augen, indem er das Gemälde an die Kirche Santa Maria in Valletta verkaufte. Jedem Gläubigen, der das Gotteshaus besuchte, führte das vielbestaunte Meisterwerk Caravaggios dessen chiffriertes Geständnis vor Augen.

    Wollte er, dass alle Welt es sah? Dass die Öffentlichkeit Zeuge seiner Tat wurde? Seine Bekümmerung darüber erkannte, die sich subtil in den Gesichtszügen des Engels spiegelt? Strafte er sich dadurch selbst? War es seine Art der Sühne?

    Oder wollte er öffentliche Aufmerksamkeit, wie mancher Serienkiller? War es gar nur freche Eitelkeit, überheblicher Spott über die Unfähigkeit der Justizbeamten, denen er von der Kirchenwand herab eine lange Nase drehte?

    Oder wollte er vielleicht unbewusst einen Hinweis auf seine Schuld geben, um gefasst und angeklagt zu werden? Um endlich gestehen zu können, sich von dem Druck der Selbstvorwürfe zu befreien und endlich, endlich Ruhe zu finden?

    Stellte er vielleicht sein Verbrechen in einem Gotteshaus dar, unter den Augen des Allmächtigen, um dessen Gerechtigkeit und Gnade zu erflehen? Oder verhöhnte er mit seinem Geniestreich auch Gott und die katholische Kirche?

    Konnte ein so begnadetes Genie wie er überhaupt ein Mörder sein? War dies seine Entschuldigung? Gab er darum seiner Schuld eine so großartige, eine so überirdisch schöne Form, die man einfach nur staunend bewundern musste und um derentwillen man nicht anders konnte, als ihm sein aufbrausendes Temperament, seine spontane Tat zu verzeihen?

    Bestimmt hätte ein Psychologe die narzisstische Persönlichkeitsstruktur Caravaggios viel besser und wissenschaftlich fundiert erklären können.

    Doch Rickman konnte ihn verstehen!

    Er kannte diese Mischung aus Genialität und Mangel an Selbstbeherrschung, die morbide Vorliebe für das Schreckliche, die blinden Wutanfälle jenen gegenüber, die nicht verstanden und auch nicht verstehen wollten. Caravaggio versuchte seine Tat zu sühnen, indem er sie der ganzen Welt offenbarte. Und gleichzeitig erhob er sich durch die Großartigkeit der Darstellung geistig über die, die ihn nicht begreifen konnten, stellte sich mit seinem Genie einer höheren Gerechtigkeit als der irdischen. Kein Mord - Totschlag vielleicht, ein Anfall von Wut, ein Unfall, ein grausamer Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort.

    Genug.

    Das Hologramm Caravaggios erlosch, als Rickman den Raum verließ.

    Der Multimilliardär betrat wieder sein Büro und wies den Computer an, eine Karte des Museumsgeländes auf einer der Wandflächen zu zeigen. Augenblicklich erschien eine farbige 3D-Graphik, die aus der Vogelperspektive eine kreisrunde, offensichtlich künstlich angelegte Insel im Meer zeigte, die langsam um ihr Zentrum rotierte. Der eingeblendete Maßstab zeigte an, dass ihr Durchmesser etwa 600 Meter betrug.

    Auf der Insel standen sechs Gebäude, die in leicht rötlicher Einfärbung von den anderen abgehoben waren. Eines, mit der Grundrissform eines lateinischen Kreuzes, brachte es auf stattliche 153 Meter Länge, ein zweites, mit verschachteltem Grundriss, stand ihm hierin deutlich nach. Drei weitere hatten hingegen nur die Ausmaße von Wohnhäusern, während ein weiteres, wieder etwas größer, von zwei Nebengebäuden flankiert wurde.

    Bläulich eingefärbt waren das Verwaltungsgebäude mit dem angebauten Trakt der technischen Labors, das Wohnhaus des Personals, Hotel, Restaurant, Souvenirshop, Werkstätten und einige Lagerhäuser, die etwas abseits lagen.

    Der Hubschrauberlandeplatz und die beiden Terminals mit den Landungsstegen am Ufer waren grün gekennzeichnet.

    In fahlem Gelb stellte die Grafik die unterirdischen Anlagen dar, welche viele Stockwerke in den Meeresboden hinabreichten und die unglaublichen technischen Möglichkeiten des Museums erahnen ließen, über die bald weltweit Staunen herrschen würde.

    Rickmans Blick verweilte zufrieden auf der Darstellung, dann sagte er mit leicht erhobener Stimme: „Die Cheops startklar machen. Wir fliegen nach Usedom."

    Die akustischen Sensoren des im Raum integrierten Computersystems erfassten seine Äußerung in Sekundenbruchteilen. Der Rechner erkannte sie als Befehl und gab sofort die entsprechenden Anweisungen. Fast augenblicklich erschien mitten im Raum ein Hologramm in Gestalt einer jungen, sehr attraktiven, schwarzhaarigen Asiatin und gab mit angenehm modulierter, leicht gutturaler Stimme die Bestätigung: „Die Cheops ist startklar, Sir. Die Flugzeit wird drei Stunden und 16 Minuten betragen."

    Die Startklar-Meldung war im Grunde überflüssig. Die Cheops war rund um die Uhr startklar. Dafür sorgten drei Pilotenteams, die sich alle acht Stunden abwechselten, ebenso wie ein halbes Dutzend Techniker und Servicepersonal.

    Während Rickman mit dem Aufzug nach oben zum Hangar fuhr, liefen die Triebwerke einer fantastischen Maschine an - die der Cheops.

    Sie war ein von ihm weitgehend selbst entwickelter Prototyp und mit der Bezeichnung „Flugzeug - oder in Rickmans Diktion „Flugschiff - nur unzureichend beschrieben. Sie war in vielerlei Hinsicht einzigartig. Kein Staat der Erde wäre finanziell und technisch in der Lage gewesen, ein solches Fluggerät zu bauen. Die Cheops konnte sogar Ausflüge bis in die Höhe der Van-Allen-Gürtel unternehmen und dabei deren Strahlung trotzen oder als U-Boot den Druck in Tiefen noch jenseits von 10.000 Metern standhalten.

    Als sich die Lifttür öffnete, sah Rickman das mattschwarze Ungetüm vor sich. Obgleich - zumindest offiziell - ohne Bewaffnung, machte sie einen furchteinflößenden Eindruck und ihre Hülle aus Titan und speziellen Legierungen, die einer Panzerung gleichkam, hätte dem Bombardement modernster Kampfjets mühelos widerstehen können.

    Sie glich einem riesigen, gleichseitigen Dreieck, das sich an einer Seite wie das gefräßige Maul eines Urzeittieres zur Mitte hin aufwölbte und dort die Triebwerke barg. Die Außenkanten schienen von weitem von beängstigender Schärfe zu sein, in Wirklichkeit jedoch immer noch gut einen Meter stark. Die Seitenlängen lagen bei jeweils 120 Metern, die Höhe bei beachtlichen 27 Metern. Die Oberfläche war nicht glatt, wie man auf den ersten Blick meinen konnte, sondern facettiert wie ein unregelmäßig geschliffener Brillant.

    Captain Janette de St.Fleur sah Rickman über die unsichtbar integrierten Außenkameras kommen, denn selbst das Cockpit war ohne Fenster. Ihre Crew hatte längst die Plätze eingenommen. Fast alle trugen schwarze, elegant geschnittene Overalls mit einem goldenen, gleichseitigen Dreieck auf der rechten Brustseite. Der berühmte italienische Modeschöpfer Gianlorenzo Albertinelli hatte die Uniformen exklusiv für die Cheops-Besatzung entworfen. Eine weiße Lederkombination mit schwarzem Dreieck war dem jeweiligen Kommandanten vorbehalten.

    Den Amerikanern hatte Rickman über seine unerschöpflichen Verbindungen, die in alle Kreise der Politik, des Militärs und der Geheimdienste reichten, die neusten Entwicklungen der Stealth-Technologie abgekauft und in das Konzept seines Flugschiffs integriert. In vielen Fällen flog die Cheops daher außerhalb der Erfassbarkeit durch Radar oder auch durch das menschliche Auge, denn durch eine neuartige Lackierung auf der Grundlage von Carbonyl-Eisen-Ferrit und einer zusätzlichen Plasmaschicht, die es ermöglichte, die Farbe der Hülle beliebig zu wechseln und dem jeweiligen Hintergrund anzugleichen, konnte sie sich auch optisch nahezu unsichtbar machen.

    Die Cheops war auf der ganzen Welt bekannt und wo immer sie bei Starts oder Landungen kurz im sichtbaren Bereich auftauchte, verrenkten sich die Leute die Hälse, um sie für Sekunden zu bestaunen, bevor sie in den Wolken oder am Boden in speziellen Hangars verschwand, die auf den großen Flughäfen der Welt eigens für sie gebaut worden waren. Natürlich wurden die zuständigen Behörden über die meisten Flüge der Cheops informiert, denn entlang ihrer Routen gab es stets vermehrt Meldungen über angebliche UFO-Sichtungen - die aufgeregten Anrufer wurden von den offiziellen Stellen jedoch nur nachsichtig über ihren Irrtum aufgeklärt.

    Die meisten Menschen kannten die inzwischen legendäre Maschine aus vielen Dokumentarsendungen des Fernsehens oder aus dem Internet. Sie war der Star in Comics und Zeichentrickfilmen und fast jedes Kind hatte ein 3D-Modell oder ein Hologramm von ihr im Zimmer und träumte davon, einmal mit ihr zu fliegen oder sie gar als Pilot selbst zu steuern. Allerdings war das Kommando über die Cheops weniger romantisch und abenteuerlich, als viele es sich vorstellten, denn die meisten Vorgänge wurden von einem Autopiloten erledigt. Ein Triebwerksschub von mehr als 500 kN wäre von einem Menschen allein nicht mehr zu beherrschen gewesen. Die genaue Art der manuellen Steuerung blieb jedoch Rickmans Geheimnis – nicht das einzige der Cheops. Speziell entwickelte, computergesteuerte Andruckabsorber sorgten für das Wohlbefinden der Passagiere auch bei extremen Beschleunigungen und Geschwindigkeiten weit über der Mach-Grenze. Wie weit darüber, wussten nur Rickman und einige Techniker von Rimania City.

    Sie war nicht nur ein technisches Wunder - sie war auch sein zweites Zuhause. Ohne jemandem zu begegnen, suchte Rickman seinen privaten Raum an Bord auf. Hier erinnerte nichts daran, dass man sich in einem Flugschiff befand. Der großzügig bemessene, hohe Raum mit seiner hölzernen Kassettendecke war mit dunklen Mahagonimöbeln und Bücherregalen ausgestattet, auf denen erlesene Kunstwerke und wertvolle Antiquitäten, darunter ein Fernrohr aus dem Besitz von Galilei, standen. An der Wand hingen einige zauberhaft leichte Pastell-Skizzen von Degas. Eine Gruppe heller Lederfauteuils versank geradezu in dem dicken Teppich, der jedes Geräusch angenehm dämpfte. Gegen den Maschinenlärm waren alle Räume ohnehin absolut schalldicht isoliert. Man hätte meinen können, sich auf einem abgelegenen englischen Landsitz zu befinden. Wenn Rickman es gewollt hätte, würden die Wandbildschirme sogar die Illusion von großen Fenstern erzeugen, die den Ausblick in eine weite, sonnige Parklandschaft freigaben.

    Die Medienbibliothek des Schiffes konnte nahezu alle je gedrehten Kinofilme auf Zuruf abspielen sowie Millionen Musikstücke jeglichen Genres. Sie verfügte über ein umfassendes Archiv mit Hunderttausenden von Fernsehsendungen weltweit und konnte auf alle jemals digitalisierten Bücher oder Schriftstücke zugreifen und diese sogar akustisch präsentieren.

    Rickman ließ das Nocturne in G-Dur von Chopin in der Interpretation von Rubinstein abspielen und entspannte sich.

    Ein luxuriöses Schlafzimmer mit allem Komfort, eine Sauna, ein Dampfbad, ein Trainingsraum und ein Pool gehörten ebenso zur Ausstattung der Cheops wie eine geräumige Bar mit echtem Kamin.

    Das Flugschiff konnte mehr als 300 Tonnen Nutzlast befördern. Im riesigen Frachtraum, in dem mehrere Panzer vom Typ Leopard III spielend Platz gefunden hätten, befanden sich normalerweise ein Power-Boot, ein schnelles Motorrad sowie eine Enduro-Maschine, ein Geländewagen vom Typ Hummer, eine große Lincoln-Stretch-Limousine neuster Bauart und ein 1985 gebauter, roter Ferrari Testarossa, der als Oldtimer mehr denn je Aufsehen erregte, wo immer er auftauchte, wenngleich sein Benzinmotor auch oft die Gemüter umweltbewusster Menschen erregte. Das exklusivste Fahrzeug an Bord war ein von BMW 2048 gebauter Pandora SX15, von dem es in dieser Version nur ein einziges Exemplar auf der Welt gab.

    Bei Unglücksfällen und Naturkatastrophen in aller Welt hatte Rickman die Cheops schon häufig für humanitäre Hilfsaktionen wie Evakuierungen oder Lebensmitteltransporte zur Verfügung gestellt, jedoch Anfragen diverser Regierungen zu militärischen Kriseninterventionen stets strikt abgelehnt.

    Warum die Cheops diesen geheimnisvollen Namen trug, wusste nur Rickman selbst. Die schmalen Lippen des Multimilliardärs verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Die Weltöffentlichkeit hätte wohl ein Gesprächsthema mehr, sollten seine Gründe je bekannt werden.

    Doch diese sollten Rickmans Geheimnis bleiben. Ein kleines nur, denn die Festung unweit des Südpols verbarg noch weitaus größere. Geheimnisse, die er sich mit seinem Geld erkauft hatte. Es gab nichts, was man für Geld nicht kaufen konnte.

    Fast nichts.

    Er hob die Stimme:

    „Gibt es Nachrichten vom Nobelpreis-Komitee?"

    „Nein, Sir, immer noch nicht."

    Die Frage war überflüssig gewesen, man hätte ihn selbstverständlich sofort informiert. Er ärgerte sich über seine Ungeduld.

    Die Cheops glitt lautlos aus dem Hangar und ließ bereits wenig später die Antarktis hinter sich. Nachdem sie eine Flughöhe weit oberhalb der gängigen Flugrouten erreicht hatte, beschleunigte sie scheinbar mühelos auf Mach 4.

    Kapitel 2

    Hamburg, 30. April 2049

    Samantha A. Merkmann war seit über acht Jahren Privatdetektivin, oder jedenfalls nannte sie sich so. Sie saß in der kleinen Lounge des „Störtebekers" am Hamburger Hafen vor ihrem Cappuccino und überlegte, ob sie ein großes oder ein kleines Stück des verführerisch duftenden Streuselkuchens wählen sollte, den ihr der Kellner auf einem kleinen Servierwagen vorführte. Das hing auch ein klein wenig davon ab, wer die Rechnung zahlen würde.

    Ihre Freunde nannten sie liebevoll-ironisch „Sam, eine Anspielung auf Sam Spade und die Riege der klassischen Groschenroman-Detektive, mit denen Sam so rein gar nichts gemein hatte. Im Gegensatz zu realen Kriminalkommissaren, die für ihre Kollegen aus Büchern oder Filmen nur ein geringschätziges Lächeln übrig hatten, weil das doch alles in Wirklichkeit ganz anders sei, liebte Sam alte Kriminalromane über alles und schwärmte geradezu für Film-Klassiker dieses Genres. Die Verfilmung des „Malteser Falken mit Humphrey Bogart als Privatdetektiv Sam Spade hatte sie schon mindestens ein Dutzend Mal gesehen und unter den Favoriten ihrer Medienbibliothek gespeichert. Ihre Arbeit als Privatdetektivin sah allerdings etwas nüchterner und farbloser aus, als die ihrer fiktiven Kollegen. Wenn sie ehrlich zu sich war, sogar ziemlich.

    Sam hatte genau vor einem Monat und zwei Tagen ihren 43. Geburtstag gefeiert und zu diesem Alter bekannte sie sich auch, denn sie hielt wenig von übertriebenem Make-up oder allzu häufigen Friseurbesuchen. Sie gehörte nicht unbedingt zu den Frauen, nach denen sich die Männer auf der Straße noch einmal umdrehten, obwohl sie durchaus als attraktiv zu bezeichnen war. Auf ihre Weise. Sie stand mit beiden Beinen fest auf der Erde und wirkte vielleicht manchmal in ihrer lebenslustigen Art ein klein wenig zu kumpelhaft. Ein guter Bekannter hatte sie einmal als „unverschnörkelt bezeichnet und sie wusste bis heute nicht, ob sie dies als Kompliment auffassen sollte oder lieber nicht, genauso wie das mit dem Kumpel zum Pferdestehlen und dem spröden Charme", den Harry angeblich an ihr so geschätzt hatte. So konnte Sam unter den Männern zwar auf viele gute Freunde zählen, aber auf relativ wenige gute Liebhaber. Im Moment eigentlich auf gar keinen.

    Ihr halblanges, dunkelblondes Haar widersetzte sich allzu oft den Versuchen, es in eine bestimmte Form zu zwingen und sie hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass diverse Wirbel ein unbezähmbar stürmisches Eigenleben auf ihrem Kopf führten. Der eine Spur zu rundliche Körperbau, der von ihrer Leidenschaft für bestimmte alkoholgefüllte Süßigkeiten herrührte, gab ihr ein sympathisches, fast ein wenig gemütliches Aussehen, was dazu führte, dass viele Leute Sam unterschätzten, was sie wiederum nicht selten zu ihrem Vorteil zu nutzen wusste. Man sah ihr eher weibliche Intuition und weniger den scharfen Intellekt an, mit dem sie schon manchen aus der Fassung gebracht hatte.

    Diese Mischung wog das Manko auf, dass Sam wohl bei wilden Verfolgungsjagden über dunkle Hinterhöfe den Kürzeren gezogen hätte, denn Sport, in welcher Form auch immer - vom Schach vielleicht mal abgesehen - zählte nicht gerade zu ihren ausgewiesenen Leidenschaften. Doch Verfolgungsjagden hatte sie gar nicht nötig. Sie bediente kaum ein Klischee, das man sich von einer Privatdetektivin gemacht hätte. Sie lief weder mit dem altenglischen Habitus einer Miss Marple mit Strickzeug und seltsamen Hüten durch die Gegend, noch mit schwarzem Lederdress unter hochglänzenden Lack-Overknees und ihre rudimentären Karatekenntnisse hatte sie sich bei einem vierwöchigen Selbstverteidigungskurs für Frauen an der Hamburger Volkshochschule erworben. Und das auch nur, weil sie für eine Freundin eingesprungen war, die nach der ersten Stunde bereits buchstäblich das Handtuch geschmissen hatte. Sam hatte die Gelegenheit vor allem ergriffen, weil der Kurs praktisch kostenlos gewesen war - die von Sybille im voraus entrichteten Kursgebühren wären sonst ohnehin verfallen.

    Seit vier Jahren arbeitete Sam fast ausschließlich für Rickman und seine Unternehmen, jedoch ohne fest bei ihm angestellt zu sein. Das hätte ihr Selbstbewusstsein gar nicht zugelassen. Vor allem aber, musste sie sich eingestehen, war ihr das Angebot bislang nie gemacht worden. Rickman beauftragte sie nicht damit, bösen Jungs über die erwähnten Hinterhöfe nachzuhetzen, dafür hatte er ganz andere Leute auf seiner Lohnliste. Er forderte vielmehr Sams weibliches Einfühlungsvermögen, ihren pragmatischen Verstand und ihre oft unkonventionellen Methoden. Ihren berühmten Auftraggeber hatte sie noch nie persönlich zu Gesicht bekommen, sie kannte ihn nur aus dem Fernsehen oder dem Internet und erhielt ihre Aufträge stets von einem seiner Assistenten.

    Der junge Mann, der ihr nun gegenüber saß, gehörte in diese Kategorie. Er stellte sich als Rickmans persönlicher Assistent vor und Sam fragte sich, wie wohl ein unpersönlicher Assistent aussehen würde. Er kam ihrer Vorstellung von einem unpersönlichen Assistenten nämlich sehr nahe. Sein unauffälliger, aber kostspieliger Designer-Anzug passte zu der makellosen Frisur und dem sportlich-leicht und doch elegant riechenden Aftershave, das sich etwas eigenartig mit dem Duft von Kaffee und Puderzucker mischte - Sam achtete immer sehr auf Düfte und Gerüche in ihrer Umgebung. Seinen Namen hatte sie schon wieder vergessen, obwohl er ihn bei seiner formvollendeten Verbeugung genannt hatte. Rickmans Assistenten wechselten so oft, dass sie kein Interesse hatte, sich mit unnötigen Informationen zu belasten. Er würde nach Aushändigung der Unterlagen und womöglich der knappen Erläuterung ihres Auftrages so unauffällig und unpersönlich verschwinden, wie er aufgetaucht war.

    Für wichtige - oder ihr wichtig erscheinende - Dinge hatte Sam hingegen ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Als Kind hatte sie geglaubt, dass ihr Nachname sie dazu prädestinieren würde, sich Dinge ganz besonders gut merken zu können, und sie war geradezu versessen darauf gewesen, diese Fähigkeit zu trainieren und Leute damit in Erstaunen zu versetzen, wie damals in der 3. Klasse, als sie bereits fast alle Elemente des Periodensystems auswendig hersagen konnte ohne recht zu wissen, was sich hinter diesen seltsamen Begriffen eigentlich verbarg. Etwas später hatte sie erkannt, dass es eine weitere Bedeutungsfacette ihres Namens gab, nämlich etwas bemerken. Sie hatte ihr Augenmerk auch darauf gerichtet und versucht, an merkwürdigen Kleinigkeiten ihrer Umgebung, die anderen nebensächlich vorkamen, Beobachtungen anzustellen, die sie oft zu erstaunlichen Schlussfolgerungen führten, wie damals, als der kleine Koberke unbemerkt aus der Klassenkasse Geld entwendet und Sam bemerkt hatte, dass sein Konsum an Süßigkeiten plötzlich sprunghaft angestiegen war, obwohl sein Geburtstag schon ein halbes Jahr zurücklag. Sie war erfreut und erstaunt zugleich, als sie später bei der Lektüre alter Kriminalromane auf die Figur der Miss Marple stieß, die mit ähnlichen Methoden ihre Fälle zu lösen pflegte.

    „Agatha Christie?, fragte Sam erstaunt und höchst interessiert, als sie einen ersten, flüchtigen Blick in die Unterlagen geworfen hatte. „Die First Lady of Crime? Oh, ich vergöttere sie … Das Ende des Satzes ging akustisch ein wenig unter, da Sam herzhaft in ein großes Stück Streuselkuchen biss, dessen Krümel sich nun kaskadenartig auf ihrer dunkelblauen Bluse verteilten und der kristalline Zucker auf der etwas fülligen Oberweite kleine helle Sternhaufen und Galaxien nachbildete. Sie wischte mit einer energischen Handbewegung darüber, wodurch die Galaxien zu Kometen mit langen, weißen Schweifen wurden.

    „Und der Alte will wieder mal das Haus!"

    Der Assistent überhörte etwas indigniert die respektlose Formulierung und erklärte bemüht höflich: „Wenn Sie es ermöglichen könnten, hierbei dienlich zu sein, wären wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Frau Merkmann. Kosten spielen, wie gesagt, nur eine untergeordnete Rolle. Sie können sich in formal-juristischen Fragen auch gerne der Unterstützung von Dr. Sanders bedienen. Der junge Mann sah etwas ungeduldig auf die winzigen Zeiger seiner Rado, deren Keramikarmband tiefschwarz und glänzend sein Handgelenk umschloss. „Hier sind die restlichen Unterlagen, den Roman kennen Sie ja vielleicht.

    Sam schnaufte verächtlich auf - war der Papst katholisch? Sie nahm gleichzeitig aus dem Augenwinkel befriedigt zur Kenntnis, dass der Fahrer inzwischen leise mit dem Kellner sprach und offenbar die Bezahlung der Rechnung im voraus regelte.

    „Und hier ist noch der übliche Vorschuss - in bar, wie Sie es immer wünschen, ein leichter Unterton zurückhaltender Missbilligung schwang in seiner Stimme, „wenn Sie bitte hier unten quittieren möchten. Vor- und Zuname ... Danke. Dr. Rickman erwartet eine baldige Rückmeldung. Ich wünsche Ihnen für Ihre Mission viel Erfolg und darf mich nun empfehlen?

    Natürlich durfte er. Es war auch nicht wirklich eine Frage gewesen, obwohl er die Stimme am Satzende gehoben hatte, sondern eine abschließende Feststellung. Sam war froh, ihn schnell wieder los zu sein. Ob sie den Roman schon mal gelesen hätte? Was bildete sich dieser junge Schnösel eigentlich ein? Alles keine Männer nach ihrem Geschmack! Sie sah ihm nach, wie er in den Fond der grauen Limousine einstieg, die vor dem Eingang auf ihn gewartet hatte - Parkplätze bekam man hier unten am Hafen um diese Zeit sowieso nicht.

    „Geld-Pack! Glauben, mich einfach kaufen zu können!" Trotz der gemurmelten Verwünschung lagen Sams Finger fast liebevoll auf dem kleinen Bündel Banknoten, das sie aus dem schwarzen Umschlag mit dem goldenen Dreieck zog. Immer stilvoll, der alte Rickman, dachte Sam und lächelte. Sie hielt ihn für einen idealistischen Spinner, vielleicht sogar ein wenig durchgeknallt, aber solange er gut zahlte, war ihr das ziemlich egal.

    Der Auftrag war überdies von der Sorte, die Sam liebte, Verfolgungsjagden und übermäßiger Körpereinsatz garantiert ausgeschlossen. Sie überflog noch einmal das kurz gefasste Memo: „Die Geschichte in Agatha Christies Roman 'Zehn kleine Negerlein' basiert angeblich auf einer wahren Begebenheit. Verifizieren Sie diese Vermutung und liefern Sie Unterlagen zum tatsächlichen Hergang der Tat. Finden Sie das Haus, in dem die Morde begangen wurden. Notar Sanders ist ermächtigt, das Gebäude zu jedem Preis zu kaufen und unverzüglich die notwendigen Schritte zu seiner Translozierung zu ergreifen. Rickman."

    Die unprätentiöse Art des Multimilliardärs kam Sam sehr entgegen und der Vorschuss von 8.000.- Euro ebenfalls.

    „Haben Sie auch Weinbrandbohnen?", fragte sie den Kellner, der gerade an ihr vorbeilief.

    „Weinbrandbohnen?, er wirkte über den Wunsch leicht irritiert, Ich bedauere, leider nicht."

    Sam liebte Weinbrandbohnen über alles. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts waren sie Kult gewesen, so wie Käse-Igel und Fliegenpilze, die man aus halben Tomaten mit Mayonnaisetupfen gemacht hatte. Aber das war fast 100 Jahre her. Sam seufzte. Heutzutage bekam man Weinbrandbohnen nur noch selten. Oder runde Herz-Kirschen in Zartbitter-Schokolade, die mit Likör gefüllt waren. Oder Katzenzungen. Sie bezog ihre immer von Klarbach, einem Hamburger Delikatessenladen an der Binnenalster.

    „Ich nehme noch einen Streuselkuchen."

    „Ein kleines oder ein großes Stück?"

    „Ist ... ich meine, hat ... ich meine, die Rechnung ..."

    Der Kellner begriff und half ihr diskret aus der Verlegenheit. „Der Herr hat die Rechnung zur Gänze übernommen."

    Sam lächelte. „Ein großes, sagte sie, „und noch einen großen Cappuccino.

    Zur Gänze, natürlich zur Gänze. Sie hatte richtig kombiniert. Vielleicht würde sie sogar hinterher noch Bratheringe bestellen, die hier sehr gut waren. Sie liebte einen pikanten Abschluss nach zuviel Süßem. Und umgekehrt.

    Sie schob ihr Rad den Berg hinauf bis zum Millerntor und fuhr die Reeperbahn und die Königstraße stadtauswärts Richtung Övelgönne. Sie bog in die Kirchentwiete ein, eine kleine Querstraße in der Nähe der Elbchaussee. Hier hatte sie in einem älteren Haus am Steilhang zur Elbe eine kleine Wohnung im oberen Stockwerk gemietet. Die Hauseigentümerin Henriette Hansen, eine alte Kapitänswitwe, wohnte im Erdgeschoss. Das Haus war weder modern noch besonders repräsentativ, eigentlich nichts Besonderes, kein Protzkasten wie die großen Villen der reichen Reeder, Konsuln, Großkaufleute und Holo-Fabrikanten an der Elbchaussee, wo Sam sich nicht einmal eine Untermiete hätte leisten können - wenn solche Leute überhaupt untervermieteten. Aber dieses Haus passte zu ihr. Sam liebte seinen ... spröden Charme.

    Es war bereits Frühling und die Nachmittagssonne hatte schon an Kraft gewonnen, der Wind der Aprilstürme, die sich durch den Klimawandel der letzten Jahrzehnte immer weiter verstärkt hatten, wehte aber manchmal noch recht kühl vom Fluss herauf. Sie saß in dem schmalen, leicht vorspringenden Erker ihres behaglichen Wohnzimmers und sah aus dem noch durch echte Holzsprossen geteilten Fenster. Von Energiesparmaßnahmen hielt die Hauseigentümerin wenig - wie von fast allen technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Einen jungen Beamten der Stadt, der damit beauftragt worden war, die Einhaltung von vorgeschriebenen Modernisierungen an Mietshäusern zu überprüfen, hatte sie einmal mit ihrem Besen aus der Tür gejagt und auf der Straße laut um Hilfe gerufen. Seither war niemand mehr darauf zurückgekommen.

    Die Sonnenstrahlen, die jetzt angenehm wärmend durch die schmutzigen Scheiben fielen, machten Sam klar, dass dringend Fensterputzen angesagt wäre. Das war der Nachteil der nostalgischen Scheiben, die noch keine selbstreinigende Lotus-Oberfläche aufwiesen. Doch sie schob, wie so oft, den Gedanken erst einmal beiseite und genoss das leicht verschmutzte, aber herrliche Panorama des trägen, grauen Stromes, auf dem Frachter mit bunten Containern und große, weiße Passagierschiffe, manche mit fantasievoller Bemalung, ruhig oder aufgeregt tuckernd in die weite Welt fuhren. Auch wenn das Wetter nicht unbedingt direkt dazu animierte, schwang für Sam beim Anblick der Kreuzfahrtschiffe ein Hauch von Südsee, Palmen und exotischen Stränden mit. Vielleicht sollte sie sich von dem Erfolgshonorar, das sie mit diesem Auftrag verdienen könnte, auch wieder einmal eine große Reise leisten. Hawaii vielleicht, die Füße im warmen Sand, oder in einer Hängematte liegen, zum Diamond Head hinüberschauen, einen kühlen, orangeroten Mai Tai mit einem grünen Schirmchen - oder noch besser: einem gelben - und einen verdammt gutaussehenden, muskulösen Mann, der abends noch nichts besseres vorhatte.

    Sam seufzte leise und gab sich schließlich einen Ruck. Sie holte aus ihrer Jackentasche den MPC, ein flaches, graues Kästchen, legte es auf das etwas wackelige, dafür aber echt antike Tischchen unter der Fensterbank, wo sie gerne zum arbeiten saß und schaltete das Gerät akustisch durch Nennung des Passwortes an.

    „Jailhouse Rock! - Avatar-Modus!"

    Auf das Passwort hin wurde eine holografische Tastatur und ein ebensolcher Monitor projiziert und im Avatar-Modus entstand zusätzlich ein bunter Lichtwirbel, der sich auf der Tischplatte zu einer kleinen Figur mit menschlichen Umrissen verdichtete.

    „Vergrößern!"

    Sam mochte es nicht, sich mit einem Zwerg zu unterhalten. Der etwas höhere Energieverbrauch machte den Kohl heute auch nicht fett. Der kleine Lichtwirbel fiel wieder in sich zusammen, formierte sich fast augenblicklich neben dem Tisch neu und nahm die lebensgroße Gestalt eines jungen Mannes an, mit schwarzem Haar, das sich an der Stirn zu einer Tolle hochdrehte, großen Koteletten und etwas aufmüpfig hochgeschürzten Lippen. Die Figur trug einen weißen, mit Strass reich bestickten Overall mit weiten Beinen, Fransen an den ebenso weit geschnittenen Ärmeln und einem hochgestellten Kragen.

    Sam musste zugeben, dass ihr Elvis nicht unbedingt eine Schönheit war - das teigige Gesicht erinnerte an eine Gummipuppe, manchmal flackerte die Darstellung sogar etwas und wurde durchsichtig. Natürlich war ihr MPC nicht mehr der allerneueste und auch nicht besonders teuer gewesen. Die Einstellparameter für den Avatar reichten gerademal über Geschlecht, Alter, Körperbau, Augenfarbe, Haarfarbe, Haarfrisur (da gab es viel zu wenige zur Auswahl und die Tolle war ein sehr unbefriedigender Kompromiss gewesen) bis hin zur Bekleidung, außerdem war die Haut wenig differenziert dargestellt und die Oberflächentexturen, besonders bei der Kleidung, ließen auch zu wünschen übrig - von den etwas ruckeligen Bewegungen gar nicht zu reden. Als lebensecht konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, sein Erscheinungsbild machte eher den Eindruck einer schlechten Karikatur aus einer 3D-animierten Kinder-Serie und erinnerte daher fatal an die späten Lebensjahre des Rock-Stars.

    Ein etwas dümmliches Lächeln von Elvis zeigte an, dass der Avatar betriebsbereit war.

    „Anfrage an alle Standard-Suchmaschinen, begann Sam, während sie eine Schachtel mit Weinbrandbohnen bereitstellte, „Agatha Christie. Zehn kleine Negerlein.

    „903.638 Ergebnisse. Englischer Kriminalroman von Agatha Christie. Erschienen 1939 unter dem Originaltitel ‚Ten Little Niggers or the Last Weekend’, alternativer Titel: ‚And Then There Were None’, verfilmt 1945, 1965, 1974 und 1987. Inhaltsangabe: Der angebliche U. N. Owen lädt zehn Menschen, die aus seiner Sicht eines Verbrechens schuldig sind, aber von der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten, zu einem Wochenende in sein Haus auf einer einsamen Insel ein, wo sie ihrer Verbrechen bezichtigt werden. Die Gäste werden einer nach dem anderen ermordet, nur ..."

    „Stopp! Vorherige Suche fokussieren: Verfilmung. Originalschauplatz."

    „Die deutsche Verfilmung von 1966, unter der Regie von George Pollock, fand am Originalschauplatz statt. Darsteller: Mario Adorf, Shirley Eaton, Daliah Lavi ..."

    „Stopp! Suche im aktuellen Text-File: Name des Originalschauplatzes."

    „Keine Angaben." Sam fischte sich eine Weinbrandbohne aus der Schachtel und entfernte sorgfältig die Goldfolie. Nichts hasste sie mehr, als auf ein Stückchen kleben gebliebene Goldfolie zu beißen, was einen überraschend unangenehmen, metallischen Geschmack hinterließ. Es gab sie auch unverpackt, aber Sam bevorzugte die verpackten, da sie sich oftmals welche in die Jackentasche steckte.

    Sie erinnerte sich nun, dass in dem Roman, den sie mehr als ein Mal gelesen hatte, so etwas ähnliches wie „Negerinsel oder „Negerkopfinsel vorkam.

    „Text-File aus Medienbibliothek aufrufen: Literatur. Autor: Agatha Christie. Titel: Zehn kleine Negerlein."

    „Text-File steht vollständig zur Verfügung. Wollen Sie online lesen, einen Ausdruck erhalten oder den Text anhören?"

    „Lass mal laufen."

    „Eingabe unverständlich."

    „Gott nochmal! Text anhören!"

    „Richter Wargrave, der vor einiger Zeit pensioniert worden war, saß in der Ecke des Raucherabteils und ..."

    „Stopp. Volltextsuche. Alle Begriffe aufzählen, die in Zusammenhang mit dem Wort 'Insel' auftreten."

    Sam schob sich die Weinbrandbohne in den Mund und kaute genüsslich.

    „Kleine Insel ... unheimliche Insel ... verlassene Insel ... gottverdammte Insel ... Negerkopfinsel ... felsige ..."

    „Stopp!, rief Sam mit vollem Mund und bemühte sich um eine verständliche Aussprache, Auf die englische Original-Ausgabe zugreifen und die Suche auf zusammengesetzte Begriffe mit dem Bestandteil 'Island' ausdehnen."

    „Ein Begriff gefunden: Nigger-Island."

    „Okay. Neue Anfrage an alle Suchmaschinen: Nigger-Island."

    „Die Anfrage enthält rassistische oder diskriminierende Elemente und kann nicht beantwortet werden."

    Sam fluchte. „Okay, okay, du blöder Kasten. Sondererlaubnis für kulturhistorische Suche. Autorisation Samantha A. Merkmann, Privatdetektivin. Passwort: Jailhouse Rock 2049. Anfrage wiederholen."

    „Zugriff wurde registriert und genehmigt. Mehrere Bedeutungen sind möglich:

    1. Nigger Island in Devon, Nähe Sticklehaven. Handlungsort des englischen Kriminalromans von Agatha Christie: Zehn kleine Negerlein."

    „Stopp! Geographische Daten von Sticklehaven anzeigen."

    „Ein solcher Ort existiert geographisch nicht."

    Na klar, dachte Sam, so einfach kann es ja auch nicht sein, sonst hätte Rickman sich einfach selbst ins Internet gehängt und sein Geld sparen können.

    „Vorherige Suche fortsetzen. Jeweils nur eine Begriffserklärung nennen."

    „2. Im 18. Jahrhundert von Piraten bewohnte Insel westlich von Sansibar."

    „Weiter."

    „3. Von 1969-1972 Kneipe im Künstlerviertel von San Francisco. Damals sehr berühmt für Free Jazz-Aufführungen von farbigen Musikern. Sam stellte sich einen farbigen Musiker vor, gelb-blau kariert mit grünen Punkten, und grinste. Die Bezeichnung „Neger oder „Nigger galt seit langem als rassistisch und war seit vielen Jahrzehnten aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Auch den früher gebräuchlichen Begriff Negerküsse, der Form und Farbe dieser Süßigkeit so herrlich anschaulich beschrieb, hatte man nach der Jahrtausendwende durch ein bürokratisches schokoliertes Schaumgebäck ersetzt, was Sam eigentlich um der Farbigkeit des Begriffes willen bedauerte. Aber Farbiger" fand sie nun auch etwas seltsam.

    Weiter.

    Keine weiteren Ergebnisse.

    Sam schluckte. Standard-Suchmaschinen verlassen. Die englische Suchmaschine 'Colloquial Language' aufrufen. Gleicher Suchbegriff.

    „Umgangssprachliche Benennung einer offiziell namenlosen, kleinen, privaten Insel unweit der Westküste von Penbrokeshire in Wales, Großbritannien, vorgelagert der Insel Skomer, die für ihre geheimnisvollen Steinkreise, Menhire und ihre grandiose Vogelwelt bekannt ist. Erwähnt in dem Essay „Revelation von Flannery O'Connor ...

    „Stopp! Geht doch! Umgebung der Insel Skomer anzeigen. Satelliten-Ansicht. Live. Auf den Hauptmonitor legen. Bildschirmfüllend."

    Eine Wand ihrer Wohnung, die gerade eben noch ein Muster aus bunten Orchideen auf violettem Hintergrund geziert hatte, verwandelte sich. Es erschien die Luftansicht einer kleinen Insel, welche rechts in einer fast abgetrennten Halbinsel auslief. Davor lag noch eine viel kleinere Insel - mehr oder weniger nur ein größerer Felsen.

    „Rechte Bildhälfte vergrößern."

    Auf einem felsigen Plateau stand ein großes Haus, sonst war die Insel leer, bis auf eine Holzhütte am Strand. Irgendwie machte das Haus auf Sam selbst aus der Ferne einen unheimlichen Eindruck.

    „Bingo, ich meine: Stopp! Bild und geographische Daten der Insel speichern unter Rickman_neu." Ihr fielen immer keine passenden Dateinamen ein, wenn es darauf ankam.

    „Speicherung erfolgt", lächelte Elvis.

    „Alle Tabs schließen. Verbindung mit Great Star Alliance."

    Das Hologramm verwirbelte und baute sich erneut auf, diesmal zu einer Angestellten der größten Luftfahrtgesellschaft der Welt, die Rickman vor nicht allzu langer Zeit aufgekauft hatte. Dieser Avatar, auf den der MPC online zugriff, war wesentlich detailgetreuer gebildet als Sams Elvis und ließ sich kaum von einem lebenden Menschen unterscheiden. Das auf Befehl des MPCs von einem holografischen Projektor an der Zimmerdecke mithilfe einer archimedischen Spirale erzeugte dreidimensionale Abbild vermittelte in seinen Texturen sogar die gute Qualität des Stoffes der dezenten, dunkelblauen Uniform mit dem Kranich-Logo und dem gelben Seidenhalstuch und Sam glaubte sogar, ein dezentes Parfum riechen zu können, was aber sicherlich eine Täuschung war, denn olfaktorische Darstellungs- und Übertragungstechniken waren schon vor Jahrzehnten in der Entwicklung steckengeblieben, weil niemand so etwas wirklich brauchte. Das Gesicht der Frau, fand Sam, war etwas ausdruckslos geraten, aber wohlgeformt und würde mit dem dezenten Make-up wohl auf die meisten Kunden angenehm und sympathisch wirken. Wahrscheinlich waren der Programmierung der Figur zahlreiche Umfragen und psychologische Studien im relevanten Kundensegment vorausgegangen. Mit Sicherheit aber stammte das hochwertige Produkt aus einer Hologramm-Schmiede Rickmans.

    „Guten Tag und herzlich willkommen bei Great Star Alliance. Was kann ich für Sie tun?"

    „Ich möchte den nächsten, möglichst billigen Flug von Hamburg nach London. Erstmal nur hin."

    Sam ging ohne zu zögern durch das Abbild der Frau hindurch, um sich einen Notizblock zu holen und die Abflugzeit zu notieren.

    „Der nächste Flug nach London-Stansted, sagte der Avatar davon unberührt, startet um 19.15 Uhr ab Hamburg. Ankunft in Stansted um 19.55 Uhr. Der Betrag von 86 Euro beinhaltet alle Gebühren, Umweltschutzabgaben und Nebenkosten und wird bei Bestätigung der Buchung von ihrem mit ihrer IP-Adresse verlinkten Konto abgebucht. Bitte bestätigen Sie ihren Auftrag."

    Sam legte den Daumen flach auf ein dafür vorgesehenes Feld der Tastatur, das grün aufleuchtete und damit den Abschluss bestätigte.

    „Vielen Dank für ihre Buchung. Bitte geben Sie Ihr Gepäck am Schalter auf. Sie erhalten durch ihren Daumenabdruck Zugang zu Gate 26. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug. Wenn Sie die Buchungsunterlagen ausdrucken oder weitere Services in Anspruch nehmen möchten ..."

    Sam unterbrach die Verbindung bevor das endlose Werbegesülze einsetzen würde. Sie hatte noch genügend Zeit. Die Magnetschwebebahn würde sie problemlos in zehn Minuten zum Flughafen bringen, das Einchecken keine fünf Minuten in Anspruch nehmen.

    Sie packte einen kleinen Reisekoffer, schloss die Fenster, fütterte King, den schwarzen Beo, der ihr ständig „Love me tender nachrief, goss noch einmal alle Pflanzen, prüfte, ob die Hausgeräteüberwachung an und alle Lichter aus waren. Den MPC reduzierte sie wieder auf Zigarettenschachtelgröße und steckte ihn in ihre Jackentasche. In den Koffer legte sie obenauf eine neue Packung Weinbrandbohnen, die sie von einem mittelgroßen Stapel im Küchenschrank nahm, wobei sie sich fragte, ob sie die im Flugzeug mitnehmen durfte. Wie viel Flüssigkeit ergaben 20 Weinbrandbohnen? Sie verzichtete auf eine Anfrage bei der Fluggesellschaft - im schlimmsten Fall würde sie einfach alle vorschriftswidrigen Teile vor dem Flug aufessen. Eine zweite Schachtel klemmte unter ihrem Arm, als sie die Wohnungstür mit einem altmodischen Sicherheitsschlüssel abschloss. Frau Hansen hielt wenig von „modernem Kram. Halt, der Müll musste ja auch noch weg! Frau Hansen hatte sich bis heute ebenso erfolgreich gegen die Bemühungen der Stadt gewehrt, das Haus an das zentrale Müllentsorgungssystem anzuschließen.

    Wenig später balancierte Sam - beladen mit Reisetasche, Koffer, Weinbrandbohnenschachtel und Mülleimer - die Treppe hinunter. Wie sie schon richtig vermutet hatte, wurde die Tür im Erdgeschoss genau

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