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Reste von Schnee: Roman
Reste von Schnee: Roman
Reste von Schnee: Roman
eBook327 Seiten4 Stunden

Reste von Schnee: Roman

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Über dieses E-Book

Völlig verstört entflieht die Physiotherapeutin Irene ihrem Leben in Frankfurt und reist nach Griechenland, wo sie zusammen mit ihrem Mann ein Haus besitzt. Durch Zufall hatte sie gerade entdeckt, daß ihr Mann sie seit Jahren mit ihrer besten Freundin (!) betrügt. In ihrem Dörfchen auf der Peloponnes verkriecht sie sich, um das Drama ihres Lebens zu vergessen. Doch es kommt ganz anders, als gedacht. In der Ferne kommt sie sich nämlich selbst bedrohlich nah, und dann taucht auch noch plötzlich ein geheimnisvoller Mann auf, von dem Irene sich magisch angezogen fühlt. Doch etwas scheint nicht zu stimmen, es ist zu schön, um wahr zu sein. Schafft sie es, diese Krise zu bewältigen, und ist das wirklich alles geschehen?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Juli 2015
ISBN9783738033748
Reste von Schnee: Roman

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    Buchvorschau

    Reste von Schnee - Ulrike A. Kucera

    erweitertes Impressum

    RESTE VON SCHNEE

    ROMAN

    VON

    ULRIKE A. KUCERA

    Reste von Schnee

    Deutsche Erstveröffentlichung

    Copyright © 2015 Ulrike A. Kucera

    Jegliche Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen ist rein zufällig.

    Namen und Handlung sind frei erfunden.

    Prolog

    Homer, Odyssee (XVII, 483-87) übersetzt von Christoph Martin

    „Denn in jedem Fremden kann sich ein Gott verbergen, heißt es.

    Unberechenbar nehmen die Unsterblichen mal diese, mal jene Gestalt an,

    suchen die Menschen auf und prüfen, ob sie Recht und Sitten

    respektieren oder aber Unrecht tun."

    Konrad lag auf dem Fußboden, während sie, bewaffnet mit einer Axt, über ihm stand und kraftvoll auf ihn einhieb. Zuerst trennte sie seine Arme ab, was nicht einfach war, denn die Knochen waren hart. Ein splitterndes Geräusch ließ Irene für einen Moment innehalten. Fontänengleich spritzte das Blut aus seinem Körper, kurz wandte sie sich ab. Doch sie durfte nicht aufhören, mußte weitermachen und holte tief Luft, um erneut auszuholen. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, hackte sie nun auf seine Beine ein. Die Oberschenkelknochen waren weitaus robuster als die der Arme, es knackte markerschütternd und brauchte einige Hiebe, um die Beine vom Körper zu trennen. Schweißüberströmt und wie von Sinnen hob sie aufs Neue die Axt und ließ sie auf seinen Torso niedersausen. Mit weit aufgerissen Augen starrte Konrad sie an, aus seinem Mund gurgelte dunkelrotes Blut, doch er bedeutete ihr, nicht aufzuhören. Es war ein fürchterliches Blutbad, und sie tat, wie Konrad ihr befohlen hatte, weil sie ein braves Mädchen war. Erst als sie den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, ließ Irene die Axt, entsetzt von ihrem Tun, fallen und kniete sich neben den zerstückelten, erstaunlicherweise noch immer lebenden Konrad. Verzweifelt versuchte sie seine Glieder wieder zusammenzufügen, was ihr freilich nicht gelang. Irene erwachte von ihrem eigenen Schrei und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht. Nicht schon wieder, flehte sie. Wann würde sie endlich diese Bilder loswerden? Schwerfällig wickelte sie sich aus der blauen Decke, in die die Gestalt eines Delphins eingewebt war, stand auf und ging zum Fenster. Erleichtert sah sie draußen das Meer wogen, das Schiff schwankte leicht, es war bereits Land zu sehen. In zwei Stunden, sie sah auf die Uhr, sollte die Fähre anlegen, und sie war froh, sich weit entfernt von Daheim zu befinden. Fluchtartig und ohne jemandem Bescheid zu sagen, war sie abgereist, um das Geschehene und Konrad hinter sich lassen. Auf eine seltsam perverse Art hatte diese Bluttat durchaus auch etwas Befriedigendes, fand sie und war über diesen Gedanken und sich selbst verblüfft. Er hatte es verdient.

    1

    Wenige Stunden später schloß Irene das Hoftor auf, die Sonne war bereits untergegangen, dunkel und still lag der kleine Innenhof im letzten Dämmerlicht. Die alte Holztür knarrte beim Öffnen, die Scharniere seufzten laut. Mit einer Reisetasche und einem Koffer beladen, stieg sie die steinerne Treppe hinauf und schloß die Haustür auf, gleich darauf umarmte sie der vertraute Atem des Hauses. Drinnen herrschte winterliche Düsternis, doch Irene meinte, noch den Geruch des Sommers wahrzunehmen, und natürlich die anderen, für das Haus typischen Gerüche, den Duft der alten Holzdielen, der dicken Mauern aus Stein, schon durchdrungen von der Feuchtigkeit des Herbstes. So intensiv, glaubte sie, diese Aromen noch nie wahrgenommen zu haben. Müde von der langen Reise hob sie die Hand, schaltete die Sicherungen und dann das Licht ein, ging langsam durch die große Wohnküche, welche die gesamte untere Etage des alten Hauses ausmachte. Alles fand sie so vor, wie sie und Konrad es im September verlassen hatten. Fast wollte ihr scheinen, als sei sie nur für ein Stündchen nebenan bei ihrer Nachbarin gewesen und doch waren seit ihrem letzten Hiersein beinahe drei Monate vergangen. Irene blieb stehen und schaute sich um, alles war ihr so vertraut und dennoch ganz anders als sonst.

    Hallo Haus, flüsterte sie, als wolle sie es nicht erschrecken.

    Statt wie üblich bei ihrer Ankunft in Hektik zu verfallen und emsig die mitgebrachten Sachen zu verstauen, setzte sie sich an den Küchentisch, schloß für einen Moment die Augen und nahm die ungewöhnliche Stille wahr, dann hörte sie ein leises Knacken im Gebälk und ihren eigenen Atem. Im ersten Augenblick ängstigten Irene diese Geräusche, doch zwei Atemzüge später taten sie ihr gut, weil niemand um sie herumwuselte, Anweisungen gab oder fragte, wohin mit den Dingen oder keuchend die Steinstufen zum Hof auf und ab stampfte. Kühl zog die Abendluft ins Haus, und obwohl sie leicht fröstelte, blieb sie sitzen und vertiefte sich in die entfernteren Klänge, die der Wind mit sich brachte. Jetzt hörte sie auch das Meer, die ans Ufer rollenden Wellen und darüber ein leises Rascheln. Der Maulbeerbaum und der Weinstock vor ihrem Haus waren kahl, das abgeworfene Laub lag auf der Erde und schlurfte, vom Wind bewegt, knisternd über die Terrasse. Ihre Gepäckstücke standen auf der Schwelle wie Besucher, die darauf warteten, eintreten zu dürfen, und ihre Einkäufe, die sie auf dem Weg hierher getätigt hatte, lagen noch im Kofferraum des Autos. Gleichgültig zuckte Irene mit den Schultern, erhob sich, entnahm dem Holzregal unter der Spüle eine Flasche Wein und stellte sie auf den leeren Tisch. Nun sah es aus, als wolle das Haus sie begrüßen. Nebenbei bemerkte sie, daß genug Wein vorhanden war, im Herbst hatten sie einen kleinen Vorrat angelegt. Sie schaute sich um, wie seltsam war es doch, allein hier zu sein. Wäre Konrad nämlich bei ihr, hätte er schon geschimpft, sie solle endlich die Tür schließen. Die Mücken fressen uns auf, die Motten kommen herein - und seine nervöse Unruhe hätte sich bereits auf sie übertragen. Absichtlich langsam trug sie das Gepäck herein und holte dann die Einkäufe aus dem Auto, erst danach schloß sie die Haustür, öffnete jedoch die Fenster weit, denn um diese Jahreszeit gab es keine Mücken mehr, und die Motten waren müde.

    Aus dem alten Küchenschrank, der einst ihren Großeltern gehört hatte, nahm sie ein Glas, drehte das Wasser auf, ließ es eine Weile ablaufen. Es roch brackig und nach Chlor, sie ärgerte sich darüber, doch zur Zapfstelle, unten auf der Straße, wollte sie jetzt nicht mehr gehen. Ihr fiel ihr ein, sie sollte nachschauen, ob genügend Holz da war, denn sie wollte über Weihnachten und Neujahr bleiben, vielleicht auch länger. Das hatte sie sich vorgenommen, wußte jedoch nicht, ob und wie sie das ohne Konrad überstehen würde. Überhaupt, ein Leben ohne Konrad - sie mußte es erst einmal ausprobieren. Nach zweiundzwanzig Jahren Ehe schien es ihr undenkbar, dieses Wir im Kopf zu teilen, um daraus ein Ich zu formen.

    Für genügend Brennholz hatte stets Konrad gesorgt, es geholt, gesägt, gespalten und akkurat aufgestapelt. Der kleine Bollerofen wollte geheizt, die Steinmauern wollten getrocknet werden, und die Matratzen waren sicher klamm. Im November, Irene wußte davon, hatte es hier viel geregnet. Sie konnte die Feuchtigkeit spüren. Mit der rechten Hand strich sie über die grob verputzte, kalte Wand, betrachtete die Unebenheiten, die diesem Haus von alters her eigen waren, schon seit mehr als zwei Jahrhunderten. Die gegenüberliegende Wand, die ihr Haus vom Nachbarhaus trennte, war unverputzt, jeder Stein war zu erkennen, keiner war wie der andere, ein jeder hatte seine Eigenheiten. Wenn die Wand von unten beleuchtet wurde, erschienen die Steine so plastisch und warm, als lebten sie. Tatsächlich, sie fühlte es, die Wände waren etwas feucht.

    Holz holen, sagte Irene und tat es.

    Das Brennholz, stellte sie zufrieden fest, würde mehrere Wochen reichen. Als die Flammen im Öfchen loderten und das Holz knisterte, begann sie damit, die mitgebrachten Lebensmittel zu verstauen. Käse, Brot, Butter und Tomaten legte sie auf den Tisch. Nachdem der Ofen heftig bollerte und die Flammen das Holz verschlangen, schloß sie die Fenster, schnupperte den Duft des brennenden Holzes und öffnete den Wein. Alsbald breitete sich die Wärme in der Küche aus und stieg ins obere Stockwerk, wo sich die beiden Schlafräume befanden. Wie sehr liebte sie diesen Geruch von Holzfeuern, der hier im Winter überall den Kaminen und Schornsteinen entströmte. Er hatte etwas Anheimelndes, und ganz entfernt erinnerte er sie an Kartoffelfeuer und die Herbste ihrer Kindheit. Sie stieg die knarrende, eng gewundene Treppe hinauf. Im vorderen Schlafraum stand das große Bett, das sie nun für sich allein haben würde. Um die Leere zu vertreiben, öffnete Irene auch hier die Fenster und schaute hinaus, es widerstrebte ihr, das leere Bett anzustarren. Am Himmel waren vereinzelt Sterne zu erkennen, der Mond war noch nicht aufgegangen, von Westen kommend schob sich eine Wolkenwand über Himmel und Meer. Die Lichter des unteren Dorfes waren nicht allzu fern, und am gegenüberliegenden Ufer auf dem anderen Landfinger, ungefähr zehn Kilometer entfernt, erstrahlte die klare Lichterkette der dortigen Ortschaften. Wie schon im September bemerkte sie die zunehmende zivilisatorische Verdichtung, dennoch war es ein vertrauter, beruhigender Anblick; die erleuchteten Hafenzeilen von Koroni und Petalidi, während im Norden hinter den Bergen wie stets die Lichtglocke von Kalamata schwebte, der nächst größeren Stadt. Nebenan warf das Fenster ihrer Nachbarin Eftichia ein viereckiges Licht in den Hof, und jetzt entdeckte sie den Kater, der zu ihr nach oben blickte, das Glühen seiner Augen verriet ihn. Am Rand des Lichtfelds nahm sie weitere Bewegungen wahr, wilde Dorfkatzen, die Irenes Kommen bemerkt hatten und bereits darauf lauerten, ob etwas Eßbares für sie abfiel. Als begrüße er sie, maunzte der Kater laut, doch Irene wußte, es war eine Forderung. Moussi-Moussi war der Chef des Dorfes, Herr und Vater aller Kätzinnen und Katzer im Umkreis. Irene schnalzte lieber nicht mit der Zunge, um ihn zu locken, sonst würden sämtliche Katzen einen herzzerreißenden Gesang anstimmen, in der Hoffnung auf ein verdauliches Honorar. Bevor sie die Katzen fütterte, wollte sie erst einmal das Haus beleben. Sie wandte sich wieder dem Zimmer zu, vereinzelt hingen Spinnweben an den Wänden und von der Decke, Weberknechte warteten auf Beute. Auf dem Fußboden und auf der Matratze lagen kleine Leichen verteilt, Stinkwürmer und verschiedene Käfer, die sich vor dem Regen ins Haus hatten retten wollen. Mehrere Schmetterlinge, gelb und blau, die den Herbst nicht überlebt hatten. Skorpione oder Schlagen, die in ihrem Haus überwintern wollten, konnte sie zum Glück nicht entdecken. Mit Handfeger und Kehrschaufel bewaffnet, klaubte sie die Kadaver zusammen, schmiß sie in hohem Bogen aus dem Fenster in den Garten, und obwohl die toten Körper ausgetrocknet waren, hinterließen sie einen seltsam muffigen Geruch von Vergänglichkeit.

    Inzwischen war es neun Uhr abends, Irene wollte nicht mehr hinunter ins Hauptdorf laufen, sie war müde und wollte mit niemandem reden müssen. Nicht jetzt, nicht heute, bloß keine Fragen beantworten. Wie geht es? Wo ist Konrad? Ihr fiel keine gute Antwort ein, außerdem wollte sie sich von der Reise und den Geschehnissen daheim ausruhen, die sie mehr als erschöpft hatten. Überstürzt war sie abgereist, beinahe ohne zu überlegen. Sie hatte einfach nur fort gewollt, ihre Sachen gepackt und alle Behandlungen bis auf weiteres abgesagt. Dabei war es ihr nicht egal, was ihre Patienten davon hielten, im Gegenteil, im Grunde ihres Wesens war sie ein pflichtbewußter Mensch, stets pünktlich und zuverlässig, wie ihre Eltern sie erzogen hatten, also in vielerlei Hinsicht mit typisch deutschen Charaktereigenschaften ausgestattet, die ihr selbst kaum bewußt waren. Wenn sie allerdings mehrere Wochen hintereinander nicht arbeitete, konnte das durchaus ihren finanziellen Ruin bedeuten, denn allein auf die Treue ihrer Patienten durfte sie nicht vertrauen. Doch nach all dem, was geschehen war, konnte sie nicht zu Hause bleiben oder gar arbeiten. Ihr Magen zog sich zusammen, so etwas hatte sie noch nie getan, aber so etwas war ihr auch noch nie passiert. Schuldgefühle waren ihr anerzogen und im Laufe der Jahre in Zwanghaftigkeit übergegangen, wie überhaupt vieles in ihr sich zum Manischen hin entwickelt hatte. Deshalb war sie ja auch hier, in der Mani und kehrte seit mehr als zwanzig Jahren immer wieder in diese Gegend zurück, eben zwanghaft und mani mani, Hals über Kopf. Während der Überfahrt auf dem Schiff, die ihr unendlich lang vorgekommen war, hatte sie ausgerechnet, wie lange ihr Geld eventuell reichte, zumal Konrad sie nun nicht mehr unterstützen würde. Ungefähr vier Wochen, meinte sie. Das hörte sich erst einmal lang und gut an, doch sie wußte auch, wie schnell die Zeit vergehen konnte.

    Alleinsein, wie sollte das denn gehen, und nur weil andere es konnten, hieß das nicht, sie könne es ebenfalls, Irene mußte erst einmal üben. Und hier, glaubte sie, war sie am richtigen Ort, ein anderes Asyl kam für sie nicht in Frage.

    Aus dem Schrank nahm sie saubere Wäsche, bezog ihr Bett, nur eins und legte zwei dicke Decken dazu, falls es nachts kalt werden sollte. Danach ging sie, die Stufen zählend, wieder hinunter in die Küche, preßte noch vier Holzscheite, die sie ebenfalls zählte, in den Ofen und setzte sich an den Tisch. Sie konnte sich nicht aufraffen, Koffer und Tasche auszupacken, deshalb griff sie zum Wein und trank, knabberte appetitlos am Käse und am Brot, ein Kloß hing in ihrer Kehle fest. Das Wasser aus der Leitung, sie kostete kurz davon, schmeckte widerlich, zum Frühstück würde sie das gute Taigetoswasser von der Zapfstelle holen.

    Normalerweise verrichtete sie alle Tätigkeiten nach einer ganz bestimmten logischen Reihenfolge, doch seit einiger Zeit ging es in ihrem Kopf drunter und drüber. Die Zeiten, in denen sie erst die Arbeit und dann das Vergnügen absolvierte, schienen der Vergangenheit anzugehören. Kopfschüttelnd nahm sie die Weinflasche, las Wort für Wort das Etikett, zählte sogar die Wörter, um dem inneren Chaos eine Ordnung zu diktieren, was mißlang. Es war Konrads Lieblingswein. Irene erinnerte sich, wie sie im letzten Sommer den Wein gemeinsam bei ihrem Winzer gekauft hatten und goß nach, obwohl das Glas noch halb gefüllt war. Als sie es gegen das Licht hob, schimmerte die Flüssigkeit tintig violett.

    Auf mich, seufzte sie.

    Das hätte sie besser nicht sagen sollen, denn plötzlich öffneten sich hemmungslos die Schleusen ihrer Augen, wie einige Stunden später, als sie in ihrem Bett lag, die Schleusen des Himmels. Der Regen schlug gegen die Fenster und bat um Einlaß, er wurde ihm nicht verwehrt, die alten Rahmen waren undicht. Es war einer dieser typischen Winterregen, die sich mit ungeheurer Intensität über Land und Meer ergossen, als habe eine Sintflut eingesetzt. Das Wasser sammelte sich auf den breiten, innen liegenden Fensterbrettern, floß dann an der Wand hinab und bildete auf den Holzdielen eine Lache. An der weißgekalkten Wand hatten sich über Jahre die bräunlichen Rinnsale verewigt. Leise sickerte das Regenwasser weiter durch die Ritzen der Dielen, in die darunter liegende Küche. Dort lief es, in den vorgeschriebenen Bahnen der Herbst- und Winterregen vergangener Zeiten, wieder an der Wand hinunter. Irene hörte den rauschenden Wassern zu, vor denen sie nur durch die Ziegel und die Holzverkleidung der Decke geschützt wurde. Im Gegensatz zu den Fenstern war das Dach absolut dicht. Eigentlich liebte sie dieses Geräusch, vor allem wenn sie beschützt und warm zugedeckt neben Konrad im Bett lag. Aber Konrad war nicht hier, und so empfand sie das Trommeln und Pladdern fast als bedrohlich, trotzdem schlief sie irgendwann ein.

    Erst am späten Vormittag, nachdem sie Kaffee getrunken und die Wasserlachen in der Küche beseitigt hatte, war der Himmel wieder blau. Sie entschloß sich, hinüber zu ihrer Nachbarin zu gehen, um sie zu begrüßen. Natürlich hatte Eftichia Irenes Ankunft längst bemerkt, gestern Abend das Auto gehört, die Lichter gesehen und ihre Schritte auf dem Hof vernommen. In der ersten Helligkeit des Morgens hatte sie dann Irenes Wagen identifiziert, sie parkte immer unterhalb des Mäuerchens, das Eftichias Gemüsegarten umschloß. Das Dorf war viel zu klein, um Neuankömmlinge nicht zu bemerken. Der alte Dorfkern bestand nur aus zwölf eng aneinandergebauten Steinhäusern und -türmen, die zahlreichen, neu errichteten Häuser ringsum zählten nicht wirklich, sie störten vor allem.

    Eftichia freute sich, Irene zu sehen, sie hatte nicht vor dem nächsten Frühjahr mit ihrem Kommen gerechnet. Ihr zahnloses Lächeln hieß sie willkommen, Eftichia breitete die Arme aus und schmatzte Irene feuchte Küsse auf beide Wangen. Seit sie und Konrad die damalige Ruine gekauft hatten, war Eftichia ihre Nachbarin. Dieses Haus hatte einst ihrem Onkel gehört, doch da die Familie ausgewandert war, hatten ihre Cousins und Cousinen das seit Jahren leerstehende, verfallende Haus kurzerhand verkauft, damals zu einem Spottpreis. Konrad und Irene bauten es wieder auf wie es gewesen war, auch nach den Erinnerungen und Anleitungen ihrer Nachbarin. Tatsächlich veränderten sie nur weniges, fügten allerdings ein zuvor nicht vorhandenes Bad mit Spülklosett hinzu, das erste überhaupt im Dörfchen, was Eftichias große Bewunderung fand. Immer wieder ließ sie es sich vorführen und probierte es mehrere Male heimlich aus. Wenn Irene und Konrad nach Deutschland zurückkehren mußten, hatte Eftichia die Bauarbeiten überwacht, und sie war stolz darauf. So blieben das Haus und das dazugehörende Gründstück in familiärer Obhut, obwohl Ausländer es gekauft hatten. Eftichia war darin geübt, das Beste aus dem Schicksal zu machen, sie wußte, das Leben war nichts für Feiglinge, und das Alter erst recht nicht.

    Zusammen mit dem alten Panajotis Kolokotronis, der drei Häuser weit von ihr entfernt wohnte, war sie die letzte Ureinwohnerin des kleinen Dorfes, alle anderen hatten es aussterben und die Häuser verrotten lassen. Eftichia war hier geboren, und Irene konnte nur schätzen, wie alt Eftichia wirklich war, wahrscheinlich wußte nur sie es allein, wenn überhaupt. Irene hatte sich nie getraut, danach zu fragen. In den letzten zweiundzwanzig Jahren hatte Eftichia sich kaum verändert, schon damals wirkte sie wie eine Greisin mit ihrem schneeweißen, zu Zöpfen geflochtenem Haar, das sie im Nacken zusammensteckte, und immer trug sie ihre Witwentracht. In ihrem ganzen Leben war sie niemals weiter als bis nach Kalamata gereist, und diese knapp vierzig Kilometer bedeuteten noch heute eine weite Reise für sie. Ob sie lesen konnte, wagte Irene nicht zu beurteilen, denn Eftichia sah schlecht und trug keine Brille, einen derartigen Luxus konnte sie sich mit ihrer minimalen Rente gar nicht leisten. Eine reguläre Krankenversicherung, wußte Irene, gab es erst seit einigen Jahren, und im fortgeschrittenen Alter waren die monatlichen Prämien unerschwinglich. Optiker und Augenärzte gab es nur in Kalamata oder Patras, damit war Hilfe viel zu weit entfernt. Manchmal las Irene ihr Gebrauchsanweisungen oder amtliche Schreiben und Rechnungen vor, wenn sonst niemand in der Nähe war. Die billige Lesebrille, die Irene ihr aus Deutschland mitgebracht hatte, lehnte sie ab zu benutzen, weil sie so einen Drahtesel auf der Nase unbequem fand, behauptete sie.

    Nur Eftichia und Panajotis hatten die Häuser ihrer Väter hier oben am Berg nicht verkauft und bewohnten sie im Urzustand, weder hatten sie Bäder noch Heizungen. Die Toiletten waren naturbelassen, ohne Spülung. Ein kombinierter Herd-Ofen in der Küche mußte im Winter für das ganze Haus genügen. Schon in den sechziger Jahren war das alte Choridaki, von allen liebevoll „das Dörfchen" genannt, aufgegeben worden. Die inzwischen längst erwachsenen Erben und Nachkommen lebten unten am Meer oder in Kalamata, Thessaloniki und Athen oder waren in alle Welt verstreut. Viele waren zu Wohlstand gekommen, selbst die, die hier in der Mani geblieben waren, vor allem durch die seit einigen Jahren massenhaft heranströmenden Touristen aus England, Deutschland und Norwegen und teils auch dank europäischer Fördergelder. Die Fremden, die in den Siebziger und Achtziger Jahren diesen verlassenen, kargen Landstrich für sich entdeckt und für einen Apfel und ein Ei Häuser gekauft hatten, würden immer Fremde bleiben, wie Irene und Konrad, auch wenn sie dafür gesorgt hatten, daß es endlich Strom und fließendes Wasser in den bewohnten Häusern gab. Einige Wege waren inzwischen für Autos befahrbar, wenigstens im Sommer, wenn die Urlauber einfielen. Dann begann auch das kleine Dorf wieder zu leben, Türen und Fenster wurden geöffnet, auf den Leinen hingen bunte Badetücher und tropften, Essensgerüche schwebten in der Luft, blasse Kinder brüllten sich die Seele aus dem Leib. Die wenigen Parkmöglichkeiten im Choridaki waren dann schnell erschöpft. Im Winter jedoch blieben Eftichia und Panajotis meist unter sich. Selten kamen die fremden Hauseigentümer, um die Weihnachtsfeiertage in dieser Einsamkeit zu verbringen. Zu dieser Zeit war das Leben im Dorf spartanisch, nur wenige Läden und Restaurants in der Umgebung hatten geöffnet. Oft gab es keinen Strom, weil wieder irgendwo ein Blitz eingeschlagen oder ein Sturm die Stromleitungen beschädigt hatte.

    Momentan, berichtete Efitichia Irene, gab es wenigstens ausreichend Wasser, obwohl es monatelang nicht geregnet hatte. Zum Glück hatte Ende November der Regen eingesetzt, viel zu spät für die Oliven. Es wird wieder eine magere Ernte, klagte Eftichia.

    Sie sagte jetzt Mädchen zu Irene, nicht Kinder wie sonst zu ihr und Konrad. Und natürlich wollte sie wissen, wo Konrad sei und wie es ihm ging.

    So lala, viel Arbeit, antwortete Irene knapp und konnte in den Augen ihrer Nachbarin leise Skepsis lesen, weil sie der Frage nach Konrad auswich.

    Eftichia legte den Kopf schief, sah Irene prüfend an, hielt ihre Hand etwas länger als gewöhnlich und fragte, ob sie ein Kaffeechen trinken wolle.

    Keine Zeit, später vielleicht, log sie und errötete.

    Sie müsse hinunter ins Dorf, um einzukaufen. Bevor sie ging, reichte Eftichia ihr zum Willkommen zwei Orangen. Ihre rissigen, gefurchten Hände, waren für Irene die schönsten, die sie je gesehen hatte, denn in ihnen war ein ganzes Leben verzeichnet, Täler und Berge, Ackerfurchen und viele Olivenernten, wie die jetzige Ernte bereits ihre dunklen Spuren auf Hornhaut und Schwielen hinterließ. Eftichias von der Sonne gegerbtes Gesicht barg unzählige Falten und Fältchen, besonders wenn sie lachte oder gähnte. Jetzt bemerkte Irene zum ersten Mal die Anzeichen eines grauen Stars bei ihrer Nachbarin. Ihre einstmals klaren, dunkelbraunen Augen waren von einem grauen Schimmer überzogen, als hätten sie sich verschleiert und doch waren sie voller Leben. Behutsam nahm Irene die Früchte, trug sie hinüber zu ihrem Haus und legte sie auf den Terrassentisch. Ein Strahlen ging von ihnen aus, das durch die darauf fallende Sonne noch verstärkt wurde. Wie zwei kleine Gegensonnen leuchteten sie Irene an. Der morgendliche Wind hatte die schweren Regenwolken vertrieben, der Himmel war von gereinigtem Blau und färbte das Meer, während hinter dem Haus die hohen Berge des Taigetos aufragten, auf deren Gipfel Reste von Schnee leuchteten. Im Westen tanzten weiße Haufenwolken über dem Meer am Horizont entlang, wie üblich aufgereiht zu einer Polonaise. Irene starrte auf die Orangen. Wäre Konrad hier, würde er das Messer zücken und sie fachkundig schälen, um sie genüßlich zu verspeisen, wie er es einst von Panajotis abgeschaut hatte - aber er war nicht hier.

    In einer Woche war Weihnachten, und Irene wußte nicht, wie sie die Feiertage ohne Konrad verbringen sollte, obwohl ihre hier lebenden Freunde sie sicher einluden, wie sie es immer taten, wenn sie und Konrad den Jahreswechsel im Choridaki verbrachten. Sie konnte sich nicht vorstellen, am Heiligen Abend allein in ein Restaurant zu gehen, deshalb war sie entschlossen, notfalls allein zu Hause zu bleiben. Auf Glück getrimmte Familien könnte sie jetzt ohnehin nicht ertragen, sie wollte keine Familie mehr. Konrad hatte sie verlassen, dachte sie und korrigierte sich, denn es stimmte nicht ganz. Irene hatte Konrad verlassen oder ihn besser zur Teufelin geschickt. Oh, ja - Thea. Fünfzehn Jahre lang war Thea ihre beste Freundin - gewesen, und auch das stimmte nicht, wenn sie es genau bedachte, denn Freundinnen tun so etwas nicht. Auf den Rest ihrer Familie konnte sie pfeifen. Irenes Eltern waren gestorben, eigene Kinder hatte sie klugerweise nicht. Sie und Konrad waren sich selbst genug. Kinder, so hatten sie beide entschieden, waren mit ihren Berufen unvereinbar. Allerdings, sie mußte seufzen, hatte Irene im Gegensatz zu Konrad zwei Schwestern und einen Bruder. Sie konnte sich den Ausdruck ihrer Gesichter vorstellen, wenn sie erfuhren, was zwischen ihr und Konrad geschehen war, schadenfrohe Häme und vielleicht ein ganz klein wenig Mitleid.

    Es war bereits Mittag, sie blickte über die bis ans Meer reichenden Olivenhaine und die dunkle Zypressengruppe mitten darin, unten am kleinen Kirchlein. Hier und dort ragten sandfarbene Ziegeldächer aus dem Silbergrau der Olivenkronen, dazwischen stiegen vereinzelt Rauchsäulen auf. Irene schnupperte gierig, doch der Wind trug den Duft der Holzfeuer nach Norden. Im Hintergrund leuchtete das Meer, noch war es vom nächtlichen Unwetter bewegt, auf den Wellen tanzten Schaumkronen, das konnte sie von hier aus gut erkennen. Dieser Blick von ihrer Terrasse beruhigte sie. Hier oben hatte sie einen Horizont, die Weite des Himmels und das Meer, ihr gegenüber lag der sogenannte erste Finger der Peloponnes. Seine Konturen zeichneten sich nach

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