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Drachengeist: Der Goldene
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eBook324 Seiten4 Stunden

Drachengeist: Der Goldene

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Über dieses E-Book

Teil 2 der Drachengeist-Trilogie: Nachdem Vynn im ersten Teil den Häschern des Grandugh entkommen konnte, findet er Unterschlupf bei den Westmeer-Söldnern. Auf der Suche nach seiner wahren Identität gerät Vynn mitten in den aufziehenden Kampf der beiden Städte Albastairn und Jestenburg - und entdeckt ein grausames alchemistisches Experiment.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Juni 2016
ISBN9783738074345
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    Buchvorschau

    Drachengeist - Falk Enderle

    Die Korallenburg

    Drachengeist Teil 2: Der Goldene

    Westmeer – Vierzig Seemeilen nordöstlich von Rhygidor

    Zwölf Stundengläser später ankerte die Sechir in der Nähe einer kleinen Felseninsel zwischen zwei riesigen Panzerbriggs - jestischen Kampfschiffen mit Doppelschlot und einer Hülle aus vierfach gefaltetem Diamantid; eine Information, die ihm völlig sinnlos erschien, aber unwillkürlich einfiel, als er die wie Perlen schillernde Oberfläche der schräg in die Höhe ragenden Platten sah. Die Flaute war zu Ende. Über allen Aufbauten flatterte der Wimpel von Jestenburg: das goldene Schiff auf grünem Grund. Die „Korallenburg" nannten die Soldaten jene miteinander vertäuten Kriegsschiffe, ihr vorgeschobener Kommandoposten im Westmeer.

    „Seit DeCulleon von der fixen Idee besessen ist, Jestenburg ausstechen zu wollen, sind wir hier, erklärte Grimstahl. Sie saßen zusammen an Deck, unterhalb des Ruderhauses der Sechir. Grimstahl schnippelte Kartoffeln für die Kombüse, während Nacht neben ihm lümmelte, das Gesicht in die Sonne gereckt, die Beine übereinandergeschlagen und auf einem Halm kaute. „Albastairn hat Soldaten ins Westmeer geschickt, die so tun, als seien sie die neuen Herren, bringen Schiffe auf und verlangen Zölle, vor allem von den Jesten.

    „Aber warum?" Vynn hatte von Barrel erfahren, dass DeCulleon zum Krieg gegen die Handelsstadt rüstete, aber den Grund hatte er nicht verstanden. Es ging um eine alte Fehde, die schon zwanzig Jahre oder länger zurücklag.

    „Solarit. Drachenkronen. Darum geht es immer, ließ sich Nacht vernehmen. „Der Oberbegriff heißt Politik.

    Grimstahl nahm sich eine neue Kartoffel und begann, sie in Stücke zu schneiden.

    „Die Handelsgilde von Jestenburg beherrscht seit einer Ewigkeit den Solarithandel. Albastairn ist der größte Lieferant, aber das hat den Vendemeers nicht gereicht."

    „Vendemeers?"

    Vynn erntete von Grimstahl einen argwöhnischen Blick.

    „Lebst du hinterm Mond?"

    Betreten blickte Vynn auf seine Stiefelspitzen. Wie sollte er das erklären?

    „Ich bin kaum aus meinem Heimatdorf rausgekommen."

    „Falsche Schlange, flüsterte Nacht und spie nach den Worten über die Reling. „Zwei Monate, hat sie gesagt. Und jetzt?

    „Immerhin bezahlt sie dein Rumgehocke, du undankbarer Arsch, raunzte Grimstahl zurück. Dann wandte er sich wieder an Vynn. „Vor fast dreißig Jahren haben die Vendemeers Albastairn dazu gezwungen, ihnen alle Minen zu übertragen. Der alte Fürst war irgendwie knapp bei Kasse, wegen den Theokratischen Kriegen. Die Jesten haben sich in Albastairn breitgemacht und ganz ordentlich Kasse gemacht, aber Albastairn hat von dem Geld kaum was gesehen. Jetzt hat DeCulleon das Rad wieder zurückgedreht, die Jesten enteignet und sich alle Minen und Handelsrechte wieder selbst unter den Nagel gerissen. Seitdem hortet er alles Solarit, verkauft es überall hin außer nach Jestenburg und rüstet mit dem Geld eine Flotte aus.

    „In ein paar Monaten wird er Jestenburg plattmachen, wenn sich nichts ändert", flocht Nacht ein.

    „Blödsinn, gab Grimstahl zurück. „Die Stadt ist uneinnehmbar.

    Der Schütze zuckte mit den Achseln und wippte mit dem Fuß.

    „Tja und wir sind jetzt schon seit neun Monaten hier, bringen albastairnische Schiffe auf und versuchen, die Handelsrouten freizuhalten."

    „Der Krieg hat also schon begonnen?", fragte Vynn.

    Grimstahl nickte. „Auf See schon. Noch halten wir uns vom Land fern."

    „Nicht mehr lange, brummte Nacht. „Sobald wir eine Idee haben, wie wir Rhygidor zu Fall bringen.

    Der Hauptmann warf die Kartoffelstücke in den Eimer. „Rhygidor ist die Zuflucht von DeCulleons Kaperschiffen."

    Vynn nickte. „Ihr Heimathafen."

    Grimstahl sah kurz auf und nickte aber dann bedächtig. „Könnte man sagen. Ein Hafen und nicht nur das."

    „Eine alte albastairnische Festung, gebaut auf einem riesigen Felsen mitten im Westmeer", ließ sich plözlich eine jovial klingende Stimme vernehmen. Vynn fuhr herum. Der Mann, der hinter ihm stand, erinnerte ihn auf erschreckende Weise an Garland: groß, breitschultrig und bärtig wie der Oberst, doch war seine Gestalt gedrungener und seine Haut sonnengebräunt.

    „Kommandant", brummte Grimstahl und salutierte knapp.

    „Habt ihr in Thamhaven alles bekommen?"

    Schütze Nacht deutete beiläufig auf Vynn. „Kartoffeln, Speck, einen Hund und den da", antwortete er.

    Der Söldnerkommandant musterte Vynn mit einem geradezu huldvollen Lächeln. Er trug eine ärmellose, enge Wollweste und schwarzlederne Hosen. Sein Blick war wie das spiegelglatte Meer bei Flaute.

    Grimstahl klopfte sich die Kartoffelschalen von seinem Waffenrock und zog die Hose hoch. „Melde eine feindliche Bark weniger auf dem Wasser. Und dieser Bursche da ist Vynn, ein Albastairner. Hat uns geholfen. Und zu Vynn gewandt: „Raas Tuan'Baaro, Kommandant der Westmeersöldner.

    Der Kommandant hob die Brauen. „Wenn das in der Geschwindigkeit weitergeht, sind wir pleite, bevor unser Auftrag zu Ende geht."

    Er seufzte und setzte sich zu seinen Männern. Vynn wusste nicht, ob er auch salutieren sollte. Stattdessen neigte er kurz den Kopf und rückte etwas zur Seite.

    „Wie ist der Kerl denn an Bord gekommen?"

    Das Grinsen von Schütze Nacht reichte von einem Ohr zum anderen. „Еr hatte sich unter Ratten versteckt, aber als sie mit ihm spielen wollten, nahm er Reißaus."

    Der Blick des Kommandanten glitt über Vynns Gesicht und Gestalt. Mit der Rechten griff er unter Vynns Kinn, drehte seinen Kopf hin und her, brummte etwas und seufzte.

    „Ziemlich dünn. Vielleicht kann er einen Stock richtig herum halten."

    Vynn fuhr auf. „Ich habe ein Schwert und ich kann es benutzen. Wollt Ihr es ausprobieren?"

    Ihm gefiel nicht, dass der Kommandant ihn behandelte wie ein Stück Vieh.

    Raas schmunzelte. „Grimstahl hat mir erzählt, dass du mit dem Schwert umgehen kannst. Wie alt bist du?"

    Vynn biss sich auf die Unterlippe. „Schätze dreißig, so ungefähr."

    Der Kommandant ließ sich nach hinten sinken und stützte sich mit den Ellbogen auf den Stufen ab, die zum Steuerhaus hinaufführten. „Ich denke, wir haben Verwendung für dich in der Dritten Kompanie. Korporal Winter!", brüllte er plötzlich und Vynn zuckte zusammen. Sein Mund öffnete sich, um etwas zu erwidern, doch dann schloss er ihn wieder. Raas hatte ihn überrumpelt, aber im Grunde war es keine schlechte Idee. Unter den Jestenburgern war er in Sicherheit. Hier konnte ihn die Garde nicht erreichen. Dennoch drängte es ihn, wieder zum Maarsee zurückzukehren – bei den Söldnern konnte er niemals herausfinden, was mit ihm passiert war.

    Er musterte Raas, während sich ein weiterer Söldner näherte. Dieser trug eine aus mehreren Ländern zusammengewürfelte Uniform, die jedoch schon bessere Tage gesehen haben mochte. Er wirkte halb so alt wie Vynn, aber das vernarbte Gesicht zeugte entweder von zahllosen Schlachten oder verlorenen Wirtshausprügeleien.

    „Winter, das hier ist..." Raas unterbrach sich und sann eine Weile nach.

    „Soldat Kleiner", ergänzte Nacht nach Unterstützung heischend und strahlte Vynn an, als habe er gerade einen grandiosen Einfall gehabt. Ob Nacht ihn damit wieder einmal beleidigen wollte?

    „Von mir aus. Das ist Soldat Kleiner. Raas neigte seinen Kopf zu Vynn herüber. „Мeine Soldaten haben ihre eigentlichen Namen abgelegt. Dies hier ist unsere eigene kleine Welt. Alles, was war und was kommt, zählt nicht mehr. Dann wandte er sich wieder dem Korporal zu. „Ich stecke ihn in deinen Haufen. Ihr seid die jüngsten und doch erfahren genug, um ihm ein paar Kniffe beizubringen."

    „Jawohl, Kommandant. Winter salutierte. „Was kriegt er?

    Raas überlegte kurz. „Eine Klinge hat er ja. Also Lederharnisch, Schwertscheide, Beinschützer und einen beschlagenen Lederhelm. Und vielleicht einen Dolch, falls du noch einen entbehren kannst."

    Winter salutierte wieder und verschwand.

    Nacht blickte ihm verächtlich nach.

    „Winter tut so, als seien wir..."

    „Eine reguläre Armee? unterbrach ihn Raas lauernd. „Sind wir. Und ich rate dir, so etwas nicht vor Soldaten zu sagen, Hauptmann. Sonst muss ich Euch die verdammten Augen ausstechen lassen, mit denen Ihr angeblich sogar im Dunkeln einer Stechmücke die Eier wegschießt. Er lächelte wölfisch und der Schütze verstummte missmutig. Raas' Wechsel zwischen dem vertrauten „Du zum förmlichen „Euch" war Vynn nicht entgangen.

    „Wir sprachen von der Festung, Kommandant", erinnerte ihn Grimstahl schnell. Er schenkte einen Becher Wasser ein und reichte ihn Raas.

    „Die Festung, ja. Jetzt, da der Kleine hier einer von uns ist, kann er es auch hören. Raas setzte sich wieder auf, während die beiden Hauptleute ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn richteten. „Unsere Späher haben uns berichtet, dass die Insel schwierig einzunehmen ist. Sie ist steil, felsig und das Wasser rundherum voller Riffe. Auf dem Gipfel sitzt die Festung, wo die Piraten ihre Schiffe proviantieren. Der Kommandant nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher. „Wie dem auch sei, wir nehmen sie in die Zange, beschießen Casthil Rhygidor mit den Donnermäulern, klettern über die Mauern und schneiden ihnen die Köpfe von den Schultern. Und sind in einem Monat wieder zu Hause."

    Raas Tuan'Baaro erhob sich, klopfte Vynn leicht auf die Schulter und stieg grußlos die Treppe hinauf. Als er außer Hörweite war, gab Grimstahl Nacht einen heftigen Klaps auf den Hinterkopf.

    „Da drin ist doch nichts als abgestandene Luft!"

    Nacht wischte Grimstahls Hand ärgerlich beiseite.

    „Schon gut!"

    „Dann halt die Klappe, verflucht. Ich habe keine Lust, meine paar Jahre, die ich noch habe, im Bau zu verbringen. Grimstahl warf dem Schützen einen bösen Blick zu und wandte sich an Vynn. „Raas legt ziemlich großen Wert auf Etikette. Wir sind zwar Söldner, aber dennoch eine Armee und daran erinnert er uns jeden Tag. Nur unser Schütze hier muss immer wieder querschießen. Sein Glück, dass er der Beste ist, sonst würde seine Leiche längst mit Blähbauch irgendwo rumbaumeln.

    Vynn nickte geistesabwesend. Casthil Rhygidor. Er schloss die Augen und durchforstete die leeren Hallen in seinem Kopf nach dem Namen. Nichts. Nur Taramaree und Lowyan. Er tauchte ein in die Wärme des Wassers, die Wärme der Erinnerungen in der heißen Quelle nahe Larissas kleiner Zuflucht. Lowyans Lachen, Barrels Wein. Das Gesicht von Engel, als er sie zum ersten Mal erblickte. Wie ein Wanderer im Sturm klammerte er sich an diese vergangenen Augenblicke. Denn wohin ihn die Söldner auch bringen mochten, diese Erinnerungen blieben sein Zuhause.

    Und er traute Raas nicht. Der Kommandant beherrschte das Spiel, tänzelte zwischen jovialer Geselligkeit und der kühlen Arroganz seiner Macht hin und her wie ein taktierender Boxer. Vynn beschloss, vorsichtig zu sein. Nur hier, hinter seinen Augen, blieb die gefahrvolle Welt fern. Hier war er sicher, hinter Bildern seiner kurzen Vergangenheit. Und dennoch fühlte er sich in diesem Moment wie ein Grashalm, der auf einem kahlen Felsen verzweifelt um Leben rang. Wie ein Sandkorn im weiten Meer.

    Aber nicht allein.

    Die Stimme seines Instinktes, dunkel und scharrend wie knirschender Kies.

    Narr. Kann der Instinkt antworten? Nein, nicht einmal deiner kann es.

    Verwirrt sah Vynn auf. Grimstahl redete leise auf Nacht ein, doch der winkte nur unwirsch ab.

    „Was hast du gesagt?" fragte Vynn und Grimstahl hielt inne.

    „Ich habe langsam genug davon, diesem Sturschädel Manieren beizubringen", schimpfte der Söldner und Nacht zischte verächtlich.

    „Das sagt der Richtige..."

    Nicht er ist es, der zu dir spricht.

    „Was ist? Willst du etwa behaupten, ich sei ein Dickschädel, heh? Ich bin der großherzigste Mensch, den ich kenne - nach meiner Mutter, die Götter mögen sie behüten!"

    „So großherzig, dass sie dich nicht sofort im Badezuber ersäuft hat, als sie dich zum ersten Mal gesehen hat!"

    Vynn stand auf, sah sich um, doch da war sonst niemand. Alle Söldner lungerten auf dem Deck der benachbarten Brigg herum und sonnten sich. Außer einigen Seeleuten und Wachen im Krähennest war niemand in der Nähe.

    „Wer spricht denn da?"

    Grimstahl musterte Vynn prüfend. „Alles in Ordnung mit dir? Vielleicht solltest du dich in den Schatten setzen."

    Sei still, Vynn. Deine Fragerei beschwört nur den Unmut der anderen.

    Diesmal hatte Grimstahl seine Lippen nicht bewegt und Nacht starrte grimmig aufs Meer hinaus. Vynn runzelte die Stirn. War das das Ende seiner Kräfte, verlor er gerade seinen Verstand?

    Geh zum Bug, fort von den anderen.

    Unsicher blickte Vynn nach allen Seiten, gehorchte aber. Er tat, als würde er Grimstahls Rat befolgen und schlenderte langsam zum Bugspriet der Sechir. Dort angelangt kniete er sich im Schatten hinter die großen Aufbauten, hinter denen die Trommel der Bugkette verborgen lag. Hier wähnte er sich außer Sicht und Hörweite aller anderen Söldner.

    „Zeig dich!", presste Vynn fast unhörbar zwischen seinen Zähnen hervor.

    Das tue ich. Ich offenbare mich dir in Worten.

    „Das reicht nicht. Wo bist du?"

    Überall dort, wo auch du bist.

    Die Stimme schien tatsächlich von überall zu kommen. Sie war gleichzeitig laut und leise und schwebte wie eine Feder von einem Ohr zum anderen.

    Hör mir zu. Das, was ich dir sage, ist von größter Bedeutung und ich kann dir nicht ständig helfen. Casthil Rhygidor besitzt einen geheimen Zugang vom Meer aus, einen Kanal, der von den tiefsten Eingeweiden der Festung bis hinab zum Wasser reicht. Das ist der einzige Zugang, der unbewacht blieb, tief unter dem Nordturm. Wendet euch von dort aus nach Süden, dann nach Osten. Ihr erreicht eine große, runde Halle mit Dutzenden von Türen. Dort musst du mich suchen. Dort wirst du mich finden.

    Die Stimme verebbte unvermittelt wie eine kraftlos gewordene Brise. Vynn holte tief Luft. Sein Herz pochte bis zum Hals.

    „Woran erkenne ich dich?", fragte er leise. Doch diesmal kam keine Antwort. Vynn sank in sich zusammen. Die leichte Brise vom Meer her ließ sein Hemd flattern. Eine Möwe zog ihre einsamen Bahnen über den blauen Horizont.

    Was war mit ihm geschehen? Er presste die Hände an seine Ohren. Doch außer dem Rauschen der Wellen und dem seines Blutes hörte er kein anderes Geräusch. Zähneknirschend erhob er sich, stützte sich auf die Reling und starrte auf seine Hände. Er konnte das rissige Holz spüren.

    Es war kein Traum gewesen. Der Nordturm. Endlich. Endlich erinnerte er sich an etwas. Die Erinnerung stand eingraviert in seinen Kopf geschrieben. Ruckartig drehte er sich um.

    „Hauptmann Grimstahl!, rief er und eilte zurück zum Achterdeck. „Ich muss mit dem Kommandanten sprechen. Sofort!

    * * *

    Raas Tuan'Baaro betrachtete Vynn mit einem Gesichtsausdruck, der ihn wortlos der Lüge bezichtigte. Nacht lehnte mit skeptischem Blick an der Tür der Kapitänskajüte und Grimstahls Miene wechselte beständig zwischen ungläubigem Erstaunen und tiefer Nachdenklichkeit.

    „Mal angenommen, ich würde dir glauben wollen. Warum sollte ich das wohl tun?", fragte Raas langsam.

    Vynn zuckte die Achseln. „Ich weiß, es klingt, als würde ich..., er suchte nach Worten, „als wäre ich ein Köder. Ich kann es nicht erklären.

    Stumm wechselte Raas zweifelnde Blicke mit Grimstahl und Nacht.

    „Das klingt so unglaubwürdig, dass es einfach wahr sein muss, nicht wahr? murmelte Nacht mit leichtem Unglauben in seiner Stimme. „Warum sollten die Albastairner uns so einen dämlichen Spion schicken? Glauben die, wir sind so bescheuert, offenen Auges ins Verderben zu laufen?

    „Warum sollten sie, pflichtete ihm Grimstahl langsam bei. „Schickt die Späher wieder hin und lasst es sie überprüfen. Wenn der Kleine uns angelogen hat, wird er bestraft. Hat er Recht, er zuckte die Achseln, „dann ein dreifach Hoch und wir tauchen in ihrem Rücken auf. Grimstahl räusperte sich. „Wir haben doch nichts zu verlieren, oder?

    Raas presste hörbar die Luft heraus und stieß sich vom Kartentisch ab. Eine Weile stand er mit verschränkten Armen da und sinnierte über das, was er gehört hatte.

    Natürlich hatte Vynn nicht die Stimme erwähnt, sondern nur das, was sie gesagt hatte. Er war sich nur nicht sicher, ob sie ihn nicht in die Irre führen wollte und mit ihm das gesamte Jestenburger Westmeerkommando. Doch all das, was er in der kurzen Zeit von Barrel und Larissa gelernt hatte, bestärkte ihn darin, dass sie es ernst gemeint hatte: Seine Sinne hatten ihn nicht getrogen. Die Stimme hatte zu ihm gesprochen. Sein Herz sagte ihm, dass sie die Wahrheit sprach. Vielmehr noch als das: Er erinnerte sich an den mächtigen Nordturm. Aber wieso? War er doch Soldat in Diensten DeCulleons gewesen und hatte an Bord der Kaperschiffe gedient?

    „Kommandant, begann Vynn leise, „ich weiß, dass Ihr mir nicht traut. Fragt nicht, woher ich es weiß. Wie ich schon gesagt habe, der Überfall bei Thamhaven hat mich all meiner Erinnerungen an das beraubt, was ich vorher war. Aber als Ihr Casthil Rhygidor erwähnt habt, ist etwas in mir erwacht. Etwas, das wie ein verschollener Teil von mir scheint, alte Bilder und Gerüche tauchen wieder auf. Ich war schon einmal dort. Davon war nur der letzte Satz vielleicht wahr, dachte Vynn. Es kam aber immerhin der Wahrheit am nächsten und er war sich sicher, dass Raas ihm Gehör schenkte, sobald er sich den Regeln der Söldner unterwarf. „Ich werfe mein Leben in die Waagschale dafür", schloss er.

    Raas sah auf. „Tja, du hast keine Wahl, Soldat."

    „Ich bin mir dessen bewusst. Vielleicht war ich Soldat, bevor ich in Albastairn aufgewacht bin. Vielleicht habe ich nur Schiffe beladen oder bin mit ihnen auf Kaperfahrten gewesen. Sicher bin ich mir nicht, doch eines weiß ich: Sollte dieser Gang nicht dort sein, wo ich ihn vermute, dann bin ich tatsächlich der Spion, der euch alle in eine Falle tappen lassen wollte – wenn auch eine ziemlich blöde, meint ihr nicht?"

    Vynn wusste, er spielte mit seinem Leben. Aber er war sich in der kurzen Zeit, in der er sich überhaupt seines Lebens bewusst war, noch nie so sicher gewesen, dass er das Richtige tat. Deshalb sprach er weiter. „Wenn der Gang aber zum Sieg führt..."

    „Du verlangst einen Preis?", unterbrach ihn Raas lauernd.

    Vynn schüttelte den Kopf. „Ich will kein Geld."

    Jetzt blitzte tiefes Misstrauen in Raas' Augen auf und der Kommandant straffte sich. „Was sonst?"

    Vynn beugte sich vor. „Das einzige, was ich auf der Welt noch habe, sind ein paar Menschen, die mir geholfen haben, als ich Hilfe am nötigsten brauchte. Ich will es ihnen zurückzahlen können. Legt für sie ein gutes Wort in Jestenburg ein."

    „Wer sind die?"

    „Menschen, die sich dem Einfluss von DeCulleon widersetzen."

    „Blödsinn. Was versprichst du dir denn davon?", rumorte Raas und klopfte ungeduldig mit dem Zeigefinger auf seinem Arm herum.

    „Sie leben wie Gefangene in ihrem eigenen Land und sie haben keine Aussicht darauf, dass sich ihre Lage je ändern wird. Der Duft von Lowyans Haar stieg Vynn jäh in die Nase. Er erinnerte sich an die winzigen Lachfältchen um ihre wunderschönen Augen. Als sie blutend in dem Bootshaus in Thamhaven lag und ihre flüsternden Worte an sein Ohr drangen, war er wie gelähmt gewesen. „Larissa Llayne und ihre Leute haben mir ein neues Leben geschenkt und mir vertraut, obwohl sie gegen DeCulleon arbeiten. Sie haben sogar mit Jestenburg zusammengearbeitet. Jetzt erntete er erstaunte Blicke. Ob sie alle mit Jestenburg unter einer Decke gesteckt hatten, wusste er nicht genau. Aber sie halfen Lowyan, ihren Auftrag durchzuziehen. „Eine Diebin sollte das Zepter des Fürsten aus dem Palast stehlen. Aber sie lief in eine Falle. Vynn atmete tief durch. „Das Zepter des Fürsten von Albastairn befindet sich wahrscheinlich in Casthil Rhygidor.

    Nacht lachte plötzlich laut auf, während Raas ihn bloß anstarrte. „Das wird ja immer besser! Woher weißt du das denn? Ach so, stimmt ja, hast du vergessen."

    Vynn bedachte den Schützen mit einem bösen Blick. „Nein. Die Rote Elster hat es mir gesagt. Jestenburg hatte sie beauftragt, es zu stehlen. Larissa Llayne und ein paar ihrer Leute haben ihr geholfen, sich darauf vorzubereiten. Aber die Eiserne Garde spürte sie auf und hat sie... Er brach ab und schluckte. „Sie sagte mir, wo es stattdessen aufbewahrt wird: in einer Festung mitten auf dem Meer. So waren ihre Worte, bevor sie starb.

    Raas runzelte die Stirn und schüttelte drei Mal ungläubig den Kopf, doch diesmal traf er seine Entscheidung binnen weniger Lidschläge.

    „Grimstahl, Nacht, ich brauche euch eine Weile hier. Warte draußen, Kleiner. Du sollst von mir aus dein gutes Wort für diese Leute bekommen, sofern das die Wahrheit ist. Er trat einen Schritt auf Vynn zu, packte erneut sein Kinn und hielt es fest wie in einem Schraubstock. „Wenn nicht, werden die Möwen morgen frische Eingeweide zu fressen bekommen. Und jetzt raus hier!

    Es bereitete ihm einige Mühe, aber Vynn salutierte, bevor er die Kajüte verließ und draußen die frische Seeluft einatmete. Die erstickende Enge in der Kajüte wurde ihm erst jetzt bewusst. Er lockerte seinen Kragen, schloss die Augen und hoffte inständig, dass diese Stimme nicht nur Einbildung gewesen war.

    Das Experiment

    Westmeer – Casthil Rhygidor

    Die Insel erschien aus dem Nebel - ein monströser Schemen, der sich langsam verdichtete. Mit einem leisen Platschen durchdrangen die Ruder der Beiboote sanft die Wasseroberfläche und brachten die Söldner ihrem Ziel näher. Raas hatte seine Männer auf kleine Barkassen verteilt. Er selbst stand aufrecht am Mast eines der Boote, seine Rechte umklammerte den Mast, seine Linke den Griff eines schweren Säbels. In seinem Gürtel steckten eine kleine Handbüchse und eine schwere, einschüssige Sprengpistole, sein „Generalschlüssel", wie Raas die Waffe nannte. Seit einer Weile hatte sich der Kommandant nicht mehr bewegt, sondern starrte unentwegt nach vorn.

    Vynn saß direkt daneben auf dem Dollbord, seine Hände krallten sich ins Holz und er versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen. Sie wirbelten in seinem Kopf umher wie aufgeschreckte Hühner. Irgendwo dort vorn musste der Zugang sein, der es ihnen erlaubte, ungesehen in die Festung einzudringen. Ein geheimer Zugang vom Meer, der unbewacht geblieben war, tief unter dem Nordturm. Eine ziemlich vage Aussage. Der Argwohn der anderen Söldner war deutlich, auch weil die ausgesandten Späher uneins waren. Zwei von ihnen waren vor drei Tagen einfach verschwunden – in dieser Nacht hatte ein Gewittersturm über der Korallenburg getobt. Ein Anderer sagte, er habe einen halb gefluteten Kanal gesehen, ein dritter jedoch wollte nichts gesehen haben.

    Vynn spürte die Blicke, das Misstrauen, die Skepsis, die selbst Grimstahl ihm entgegen brachte. Er saß ganz vorne im Bug der zweiten Barkasse, starrte schweigsam auf den dunklen Felsen, dem sie langsam näher kamen. Vynn versuchte wieder diese dunkle Suppe, in der dieser frühe Morgen schwamm, zu durchdringen. Er konnte weder einen Kanal noch einen anderen Zugang entdecken.

    „Tief unter dem Nordturm", hatte die Stimme gesagt. Aber Vynn erspähte nur Felsen. Schwarz, scharfkantig und abweisend, umspielt von Gischt und Schaumkronen. Von dieser Seite aus gab es keine Landemöglichkeit, keine Anleger, kein Hafen, nicht einmal einen Strand. Wie eine Urgewalt wuchs der Felsen geradewegs aus der schwarzen See und gewann an Bedrohlichkeit, je näher die Boote ihm kamen. Schon hörten sie das ferne Branden des Wassers an die Klippen. Das konnte für die leicht und flach gebauten Boote gefährlich werden.

    Vynn spürte, wie es ihn kalt überlief.

    Tief unter dem Nordturm.

    Raas bewegte sich kurz. Vynn sah auf. Endlich konnte er den Nordturm entdecken. Von dem markanten Gebäude, das wie der Daumen einer steinernen Hand die Insel überragte, wanderte sein Blick nach unten zur Wasseroberfläche. Da fiel ihm ein dunklerer Fleck knapp über der Meeresgischt auf. War da eine Höhle? War das der Kanal? Wie verabredet gab er Raas ein Zeichen und deutete auf den Fleck.

    Der Kommandant winkte Schütze Nacht zu sich heran. Der Armbrustschütze war berühmt für seine guten Augen. Mit dem ausgestreckten Arm zeigte Raas auf jene dunkle Stelle, in die das Wasser hineinzuschwappen schien. Nacht spähte zu dem Felsen hinüber, stutze, beugte sich etwas vor. Dann nickte er bedächtig und gab dem

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