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Drachenfliege
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eBook267 Seiten3 Stunden

Drachenfliege

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Über dieses E-Book

In einem Unwetter sieht Brandon Dott plötzlich einen alten Mann vor seinem Auto. Erschrocken weicht er aus, kommt von der Fahrbahn ab und fällt in Ohnmacht. Als er wieder aufwacht, liegt er einem jungen Polizisten zu Füßen. Seine Frau befindet sich angeblich im Krankenhaus, er selbst wird dazu überredet, die Nacht in einem Hotel zu verbringen. Dort fängt der Albtraum jedoch erst richtig an.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Juni 2015
ISBN9783738032468
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    Buchvorschau

    Drachenfliege - Jonas Kissel

    0.0

    Das Problem war nicht, dass Silvia betrunken war. Brandon Dott sagte es sich immer wieder: Das Problem war nicht, dass sie betrunken war. Vielleicht machte es die Sache nicht gerade leichter für ihn, dass sie ihn beim Autofahren störte, weil sie betrunken war, aber dass sie betrunken war, war nicht das Problem. Es war sogar ihr gottverdammtes Recht – und Gott möge ihm die Verdammnis verzeihen, aber bis Brandon verstanden hatte, warum Gott ihnen das antat, würde er wohl nichts Gnädigeres für ihn übrighaben.

    Wenn er es sich recht überlegte, wäre er auch viel lieber betrunken gewesen. Aber irgendjemand musste den Wagen ja zu seinem Ziel bringen und weil Silvia nach dem Jackie, der vor drei Stunden noch in der eckigen Flasche mit dem schwarzen Etikett gewesen war, nicht mehr fahren konnte – oder zumindest nicht an das Steuer irgendeines Fahrzeugs gelassen werden sollte –, war das seine Aufgabe. Eine ungnädige Aufgabe, nicht zuletzt weil Gott meinte, sie bei dem heftigsten Gewitter aller Zeiten zu Silvias Eltern fahren lassen zu müssen.

    Er kniff die Augen zu, als die nächste Explosion ihn blendete. Womit hatten sie das eigentlich verdient? Womit hatten sie es verdient, dass die grellen Explosionen über den Baumwipfeln das Innere des Wagens für den Bruchteil einer Sekunde in ein gleißendes Licht tauchten? Dass die schwarzen Ledersitze poliert glänzten und ihre Schatten schräg hinter sich warfen? Womit hatten sie das bedrohliche Fauchen von Gottes Wildkatzen Blitz und Donner über ihren Köpfen verdient?

    Brandon konnte ihre Krallen schon fast über das Dach schaben hören, konnte ihre Schwanzspitzen beinahe auf der Windschutzscheibe sehen, wenn sie mit sadistischem Vergnügen die Wassermassen herunterschoben, mit denen die Wischanlage kaum noch fertigwurde. Womit zur Hölle hatten sie das verdient? Als wäre Lizzies Tod nicht schrecklich genug gewesen!

    Und jetzt hing Silvia auch noch betrunken auf dem Beifahrersitz und konnte ihn nicht in Ruhe fahren lassen. Sie lallte und tastete nach dem Radio, bis der grüne LED-Streifen aufleuchtete und Aqua „I´m a Barbie Girl!" brüllten.

    Mit einem gezielten Griff drehte Brandon ihnen den Saft ab, bevor sie erzählen konnten, dass alles aus Plastik und fantastisch war.

    „Wir brauchen keine Barbies mehr", brummte er.

    „Ahbar… isch wüll mhm…Mm…Musick hörn", lallte Silvia.

    Ihr irgendwie nicht richtig in den Haargummi gezwungener blonder Zopf wippte dabei vor und zurück und in dem Licht des ohrenbetäubenden Fauchens von Blitz und Donner sahen ihre Sorgenfalten wie Messerstiche aus.

    Brandon wandte den Blick ab. „Ich muss mich auf die Straße konzentrieren", nuschelte er, auch wenn ihm ohnehin niemand zuhörte.

    „Ahbar du sssiesst… die Schraße doch gar nüsch", brachte Silvia schwerfällig hervor.

    Genau das ist das Problem, hätte er beinahe geknurrt, doch das stimmte nicht. Das Problem war nicht das Wetter oder dass er den bewaldeten Abhang links und rechts der Straße nur ahnen konnte. Das Problem war, dass sie keine Barbies mehr brauchten.

    Plötzlich begann Silvia zu lachen und zu schwanken und ihm mal hier und mal da auf den Oberschenkel zu klopfen. Er biss die Zähne zusammen und krallte sich am Lenkrad fest. Entschlossen starrte er die Scheibenwischer an, die den Regen vergeblich in seinem Blickfeld hin und her schoben – wisch, wasch.

    Sie war betrunken, sie wusste nicht, was sie tat – wisch, wasch. Er würde sie ignorieren, würde einfach überhören, dass sie – wisch, wasch – lachte, ausgerechnet an dem Tag, an dem – wisch, wasch – ihre Tochter gestorben war, bevor…

    „Highway to Hell!"

    „Lass das scheiß Radio aus!", brüllte Brandon und trat wütend aus.

    Der schleichende Wagen gewann gefährlich an Geschwindigkeit, doch wer scherte sich schon darum? Brandon nicht. Mit der linken Hand am Steuer richtete er den Blick auf den grünen LED-Streifen, wo seine rechte mit seiner Frau um den Power-Schalter rang. Draußen fauchten Blitz und Donner unter einer gleißenden Explosion und plötzlich stand er da, mitten auf der Straße.

    Brandon sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung und riss erschrocken den Kopf herum. Es dauerte nur eine Sekunde und doch nahm er erschreckend viele Details von dem Gesicht des alten Mannes wahr. Die entsetzt aufgerissenen Augen, den zum Schrei geöffneten Mund, den grauen Flaum, der gleichermaßen Bart und Frisur war, sogar die leicht abstehenden Ohren und die zum Schutz nach oben gerissenen Arme sah er, bevor es zu spät war.

    Sofort trat er die Bremse durch, das Auto geriet ins Schlingern, rutschte auf der nassen Straße, Brandon dachte, er würde die Kontrolle verlieren, würde abrutschen, in den Wald zu seiner Linken, zwischen den Bäumen den Abhang hinunter, gegen irgendeinen Baum prallen, der Airbag würde aufschießen, zack! ins Gesicht, Genickbruch!

    Aber nichts dergleichen geschah. Der Wagen stand mit laufendem Motor am Straßenrand. Durch den Regen erreichten die Scheinwerfer gerade so den ersten Baum. Sie sahen den Ausschnitt einer dicken Säule aus bemooster Rinde.

    Brandons Herz raste. Seine Hände klammerten sich krampfhaft am Lenkrad fest; seine Arme und sogar seine Brust taten weh, so angespannt war er. Neben ihm schrie Silvia zusammenhangloses Zeug. Zumindest ging er davon aus, dass es zusammenhangloses Zeug war, auch wenn es von seinen Ohren nicht ganz zu seinem Gehirn durchdrang. Als sein Puls sich langsam normalisierte, kam von irgendwo die Meldung, dass sie an der Stirn blutete.

    Aha Chef, kapiert, aber wenn sie noch schreit, geht´s ihr auch gut, war Brandons erster Gedanke und fast hätte er panisch gelacht. Dann verließ ihn sämtliche Körperspannung und seine Arme sackten nach unten. So saß er einen Augenblick da, bis er zu zittern begann, obwohl Schweißtropfen von seiner Stirn in seinen Schoß fielen. Als der erste auf seinem Handrücken landete, schreckte er auf.

    Die Musik lief immer noch leise vor sich hin. Wahrscheinlich waren sie irgendwie gegen den Lautstärkeregler gekommen. Oder seine Ohren funktionierten nicht mehr richtig. Oder noch nicht. Man wusste ja nie, was bei so einem Unfall… der alte Mann!

    Brandon wollte beim Aufspringen die Tür aufreißen, wurde vom Gurt aber zurück in den Sitz gezwungen. Er schnallte sich ab und machte einen Satz nach draußen, wo er von Blitz und Donner mit nassen Armen und einer fauchenden Explosion empfangen wurde. In dem grellen Aufleuchten sahen die Bäume abgestorben aus, wie Skelettarme, die aus dem Wald heraus nach ihm langten…

    Aufgescheucht wirbelte Brandon herum. Mitten auf der Straße rutschte er aus und stürzte mit den Handflächen und den Knien auf den nassen Asphalt. Matschige Rinnsale liefen von der einen Straßenseite zur anderen. Darin warf er sich auf den Rücken, um im Licht des nächsten Fauchens zu sehen, ob die Skelettarme nähergekommen waren. Doch da waren nur Bäume. Da hinten gab es nur Bäume.

    Okay Chef, dachte er und stand auf, ich behalte jetzt die Nerven.

    Er wandte sich wieder zu der Straße und durchsuchte den Regenschleier nach dem alten Mann, doch obwohl Blitz und Donner ihm ausnahmsweise halfen, indem sie die Straße hell erleuchteten, bis sie sich zwischen den (Skelettarmen) Bäumen auf den zwei Teilen des Abhangs als schwarzes Nichts verlor, konnte er ihn nicht finden. Bis auf ihn selbst und seinen Wagen, der mit der Schnauze schon fast im Wald versunken unaufhörlich Abgase in den Regen blies, war die Straße leer. Einfach leer. Brandon konnte es nicht glauben. Er hatte den Mann doch gesehen!

    Mit nassen Strähnen im Gesicht und tropfender Kleidung drehte er sich immer wieder um die eigene Achse, aber da war niemand. Selbst in dem grellen Licht der Blitze war da niemand.

    Plötzlich klang der Donner nicht mehr wie das bedrohliche Fauchen einer Wildkatze, sondern tiefer, fast schon wie ein hungriger Bär, und tief in seinem Innern spürte Brandon, dass etwas passiert war. Und als er sich umdrehte, weil Silvias Stimme irgendetwas Unverständliches brüllte, wunderte er sich nicht, weiter vorne auf der Straße die Überreste eines gewaltigen Erdrutsches zu sehen.

    Klar, die Bäume waren an dieser Stelle noch jung gewesen und das Unwetter hatte den Boden um ihre Wurzeln herum einfach aufgeweicht, bis sie zusammen mit der restlichen Pampe nach unten kamen. Und wenn der alte Mann nicht gewesen wäre, wären sie vielleicht genau in diesem Augenblick dort vorbeigefahren. Die Frage war nur, ob Brandon das vielleicht nicht sogar besser gefunden hätte – weil er dann bei seiner Lizzy gewesen wäre.

    Warum musste Gott es ihnen so schwermachen? Brandon breitete die Arme aus und schrie in das Gewitter. Warum musste Gott es ihnen so schwermachen?

    „Versuchen Sie´s nochmal!", befahl eine Stimme beim nächsten Blitz und obwohl Brandon nichts mit dieser Antwort anfangen konnte, wusste er, dass es okay war, wenn das Licht nicht mehr aufhörte ihn zu blenden und das letzte Wort in seinen Ohren nachhallte, bis da gar nichts mehr war. Versuchen Sie´s nochmal, nochmal, nochmal, nochmal…

    0.1

    nochmal, nochmal, noch… Der Widerhall verlor sich im Nichts. Dann war Brandon weg. Schwebte im grellen Licht der Explosion. Er fühlte sich nicht mehr nass. Fühlte keine Kälte mehr. Keinen Regen. Blitz und Donner waren verstummt. Die Straße war verschwunden. Mit ihr die Skelettarme. Sein Wagen. Seine Frau. Wahrscheinlich sogar Gott.

    Doch es dauerte nicht lange – was lange in diesem Nichts auch heißen mochte –, bis in weiter Ferne wieder die Stimme erklang: „Versuchen Sie´s nochmal!"

    Brandon fühlte sich losgelöst von den Worten, fast so, als hörte er sie durch eine dicke Betonmauer. Das schrille Pfeifen war schon lauter. Es störte ihn, unterbrach die Ruhe, brannte in seinen Ohren. Und dann kam der Schlag. Wie eine Explosion, die das Licht nicht brachte, sondern nahm. Sie riss die Betonmauer ein und plötzlich machte sich Gemurmel in Brandons Nichts breit.

    „Brandon? Brandon Dott? Ein verschwommenes Gesicht tauchte auf. „Kommen Sie! Kommen Sie zu mir, Brandon! Es sprach mit einer anderen Stimme, einer näheren. „Kommen Sie, Brandon. Ich weiß, dass die Entscheidung nicht einfach ist, aber Sie müssen sie treffen."

    „Versuchen Sie´s nochmal!", brüllte weiter hinten die erste Stimme.

    Prompt kreischte das schrille Pfeifen wieder in Brandons Ohr. Es kündigte den nächsten Schlag an. Dieser beförderte Brandon zurück ins Bewusstsein.

    1.0

    Zuerst sah er, dass der Himmel blau war. Das war so weit okay. Wahrscheinlich hatte das Gewitter die Luft gereinigt. Als Nächstes hörte er die Stimmen um sich herum. Die störten ihn schon etwas mehr, weil er lieber den Vögeln gelauscht hätte. Er wusste nicht, warum er dachte, dass da Vögel waren, aber da waren welche. Sie mussten da sein. Zum Schluss tauchte das Gesicht wieder auf; jetzt nicht mehr verschwommen, sondern so klar wie der Himmel, vor den es sich schob.

    Brandon konnte sogar die Pickelmale rund um die spitze Nase erkennen. Und dass die Akne, die immer noch nicht ganz von den Wangen des jungen Mannes verschwunden war, ziemlich heftig gewesen sein musste. Was ihn wahrscheinlich nicht am Ausgehen gehindert hatte, denn eigentlich war er recht attraktiv.

    Seine Haare – etwas dunkler als die leuchtend braunen Augen – machten einen kleinen Bogen über seine Stirn, sodass sie von den schmalen und kurzen Augenbrauen nur eine berührten. Makellose Augenbrauen, bestimmt gezupft. Das Teenageralter – und die heftige Akne – hatte der Bursche wohl gerade erst hinter sich gelassen. Vielleicht war er zwanzig, höchstens einundzwanzig. Auf jeden Fall noch weit von der Drei entfernt, die Brandon seit einigen Wochen als erste Ziffer seines Alters mit sich herumschleppte.

    Er wandte den Blick ab und rekelte sich, bis vor seinen Augen wieder alles verschwamm. Was auch immer ihn da getroffen hatte, war ein harter Schlag gewesen. Brandon stöhnte – oder ließ zumindest irgendeinen Laut seiner Kehle entweichen. Dann sah er wieder einigermaßen scharf.

    Unvermittelt traf sein Blick auf das leuchtende Braun der Pupillen des jungen Mannes. Etwas lag in ihnen. Er hätte nicht genau sagen können, was, aber irgendetwas lag in diesem Blick. War es vielleicht das… – Gewitter!

    Brandons Oberkörper schoss erschrocken in die Höhe, als der nächste Blitz durch den Himmel zuckte, dann hörte er das eigentümliche Piepsen und Surren einer Polaroidkamera. Das war okay. Mit pochendem Herzen sah er sich um.

    Die Kamera gehörte einem Polizisten. Er lief hinter seinem Wagen auf und ab und schoss Fotos, kniete sich manchmal auf den Boden, um etwas genauer zu betrachten. Damit er nicht bei der Arbeit gestört wurde, hatte man die Straße dort, wo die Erde nicht ins Rutschen geraten war, mit einem rot-weiß-gestreiften Plastikband abgesperrt. Davor – mitten auf der Straße – stand das Polizeiauto mit eingeschalteter Warnblinkanlage und stumm drehendem Blaulicht.

    „Da sind Sie ja, Brandon", holte der junge Mann seine Aufmerksamkeit zurück. Er streckte ihm auffordernd die Hand entgegen.

    Brandon schüttelte den Kopf und drückte sich alleine von der Straße hoch. „Trotzdem danke, nuschelte er, als er sich die Hände an den Hosen abwischte. Dann nickte er zu dem Defibrillator auf dem Boden und sagte: „Sie haben mir wohl das Leben gerettet, Herr…

    „Duchs. Paul Duchs. Wie das Tier, nur mit U. Oder D. Oder beidem. Ganz wie Sie wollen."

    „Ganz wie ich will, was? Brandon beäugte die Hand einen Moment lang abschätzig. Als Paul sie nicht wieder herunternahm, schüttelte er sie kurz. „Brandon Dott. Wie es aussieht, haben Sie mir das Leben gerettet.

    Paul antwortete nicht. Er musterte Brandon von oben bis unten, hielt aber den Mund.

    Brandon verschränkte die Arme. Irgendetwas gefiel ihm an dieser Situation nicht. Sie machte ihn nervös. Zwischen ihm und Paul herrschte ein seltsames Schweigen. Nicht einmal der andere Polizist machte sich bemerkbar. Der Wald war vollkommen ruhig. Er schien die Luft anzuhalten, damit kein bisschen Wind seine Blätter streifen konnte.

    Plötzlich veränderte sich etwas in Brandon. Er hätte es gar nicht richtig beschreiben können. Es war, als würde etwas tief in ihm zu Boden fallen, als würde sich etwas von der Innenseite seiner Brust lösen und eine juckende Entzündung hinterlassen.

    Verloren. Brandon fühlte sich auf einmal einfach nur verloren. Abgeschottet in einer eigenen Dimension. Es gab nur noch den forschenden Blick aus Pauls Augen. Irgendetwas lag darin. Irgendetwas wollte dieser Blick ihm sagen. Irgendetwas, aber was, Chef? Was will er von mir?

    Plötzlich drehte der Polizist sich weg und Brandon geriet ins Stolpern. Mit einem großen Schritt fing er sich ab. Er war wohl aus dem Gleichgewicht gekommen. Vielleicht stimmte etwas mit seiner Orientierung noch nicht ganz. Und mit seinen Ohren. In denen summte es leise. Wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er sogar Geräusche erkennen, Gemurmel…

    Brandon schnickte den Kopf und auf einmal war alles wieder so laut wie vorher. Er hörte sogar die Vögel drüben im Wald. Komisch… Das mussten die Nachwirkungen der Ohnmacht sein. Oder seine Ohren hatten irgendeinen Schaden genommen. Man wusste ja nie, was bei so einem Unfall…

    Vorsichtig fragte er: „Wie geht es meiner Frau?"

    Paul blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und schnaufte schwer. „Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, bis ihr Kopf klar genug ist, um zu verstehen, was hier passiert ist."

    „Und was ist mit dem alten Mann?"

    „Welcher alte Mann?", drehte Paul sich langsam um.

    Brandons Mund klappte auf: Welcher alte Mann? War er gerade ernsthaft gefragt worden, welchen alten Mann er meinte?

    Entrüstet baute er sich auf. „Ich hätte heute Nacht beinahe…" Dann sank er wieder in sich zusammen. War der Unfall wirklich in dieser Nacht gewesen? Natürlich, das musste er, sonst hätte man ihn kaum noch lebendig finden können. Doch irgendetwas verunsicherte ihn.

    „Sie hätten heute Nacht beinahe…?", forderte Paul, aber Brandons Denkmaschine raste viel zu schnell, um noch zu wissen, was er vor zehn Sekunden hatte sagen wollen.

    Irgendetwas stimmte hier nicht. Er war trocken, das war ein Teil davon. Nicht einmal der Wald war nass, weil das Wetter einfach viel zu schön war. Der Himmel war blau und eben hatte er das noch okay gefunden, doch es war nicht okay, dass die Sonne von keinem Wölkchen getrübt auf den Wald fallen konnte, weil sie ihn so nämlich trocknete und das nach einem Gewitter wie dem, in dem er fast den alten Mann überfahren hätte, einige Stunden dauerte. Es roch allerdings nicht nass. Der Wald roch vielleicht nach Blumen oder nach Erde, aber er roch nicht nass. Und die Straße war auch trocken, ganz zu schweigen von Brandon selbst.

    Also hatte er sechs oder sieben oder acht oder noch mehr Stunden auf dem Asphalt gelegen, bis man ihn endlich gefunden hatte, und in dieser Zeit hätten mindestens zweierlei passieren müssen, nämlich…

    „Sie hätten heute Nacht beinahe…?", wiederholte Paul schärfer und machte einen Schritt auf ihn zu. Mit einem Mal war die Leitung in Brandons Kopf unterbrochen.

    Eben war noch zum Greifen nahe gewesen, was nicht stimmte, und jetzt war es weg, einfach verschwunden. In seinem Hirn geisterte nur noch der angefangene Satz herum.

    „Ich hätte heute Nacht beinahe einen alten Mann überfahren, sagte er, „Deswegen bin ich von der Straße abgekommen und in den Wald gebrettert. Er nickte zu seinem Wagen, der immer noch genau da stand, wo er ihn in der Nacht verlassen hatte.

    „Nun, wenn das stimmt…, antwortete Paul und musterte ihn mit seinen geheimnisvollen Augen, „…, würde ich versuchen, den Kerl bis an sein Lebensende zu verfluchen, weil er die Sache unbeschadet überstanden hat und einfach abgehauen ist, ohne Hilfe zu holen.

    Aber was hätte deswegen passieren müssen, Chef? Was hätte in der Zwischenzeit passieren müssen? Sag´s mir!

    Was passiert war, konnte er ja sehen. Seinem Wagen war der Sprit ausgegangen – oder die Polizisten hatten ihn abgestellt. Aber was nicht passiert war, war viel wichtiger, und das wollte ihm einfach nicht mehr einfallen. Es war ihm entglitten wie ein Stück Seife aus nassen Händen. Er wusste, dass es noch irgendwo in der Dusche herumfliegen musste, aber selbst wenn er sich bücken würde, um es aufzuheben, würde es wieder aus seinen Fingern schießen. Also ging er das Risiko, irgendjemandem seinen nackten Arsch hinzustrecken, vorerst lieber nicht ein. Vielleicht würde er ja noch einmal nach der Seife greifen, wenn er sich im Klaren darüber war, mit wem

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