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Der letzte Augenblick der Idylle: Kurt-Geschichten
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Der letzte Augenblick der Idylle: Kurt-Geschichten
eBook252 Seiten3 Stunden

Der letzte Augenblick der Idylle: Kurt-Geschichten

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Über dieses E-Book

"Kurt Klefisch! Ich habe meinen Namen nie gemocht. Weder den Vor- noch den Nachnamen. Schon in der Grundschule wussten alle, dass es zwar Goldfische gibt, aber keine Kleefische. Sie kreischten und feixten, nicht wissend, dass mein Nachname nur mit einem e geschrieben wird."

In der Kurzgeschichten-Sammlung "Der letzte Augenblick der Idylle" erzählt Georg von Hammelstein treffend und mit viel Humor Geschehnisse aus dem Leben des Kurt Klefisch.
Egal um welche Stadt es sich handelt, immer wieder landet Klefisch (selbst mit seinem zwei-jährigen Enkel), im Rotlichtbezirk. Bei einem Schachspiel um die Freundin seines Kollegen, hätte er diesen fast erschossen. An einem Heiligabend stiehlt er aus einem Polizeiwagen eine Dienstwaffe, die er Jahre später am "Bahnhof Zoo" verscherbeln will und dabei verhaftet wird. Kurt Klefisch, ein Mann, der aus dem Fenster knurrt und bellt, um das Fremdsprachen-korrespondentenfräulein von Gegenüber zu erschrecken – der einen Bettler bewundert und ihn zum Essen einladen will, und im Wasserstaub eines Rasensprengers ein erotisches Erlebnis träumt.
Alle Geschichten sind ausgesprochen lebendig, komisch, manchmal auch absurd – aber immer literarisch.

Carl-Friedrich Hinterhand
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Juli 2020
ISBN9783752908466
Der letzte Augenblick der Idylle: Kurt-Geschichten

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    Buchvorschau

    Der letzte Augenblick der Idylle - Georg von Hammelstein

    INHALT

    Das Hotel „Divani Caravel"                        S.  4

    Der letzte Augenblick der Idylle                  S.   14

    Die Geschichte von den Perlentaucherinnen            S.   35

    Die tief stehende Sonne                        S.   42

    Nachdem Kurts Vater, 50jährig, verstorben war      S.   52

    Du bist wahnsinnig geworden                        S.   55

    Es war Heiligabend                              S.   61

    Silvestergedanken                              S.   69

    Gegenüber                                    S.   83

    Café Morgentau                              S.  106

    Egal um welche Stadt es sich handelt                  S.  116

    Die kurze Geschichte vom kleinen Mann            S.  132

    Beim Friseur                                    S.  145

    In der Nacht                                    S.  177

    An einem vorhersehbaren Punkt                  S.  181

    1960 sang Catharina Valente                        S.  187

    Notizen aus Georgien                              S.  195

    Drei Chansons                                    S.  227

    Das Hotel „Divani Caravel"

    hat 5 Sterne und wurde 1973 erbaut. Just in dem Jahr, in dem am 17. November die Militärjunta in Athen die städtische Beleuchtung ausschaltete und mit Panzern das Gelände des „Polytechnions erstürmte, auf dem sich Studenten in einem Proteststreik gegen die Militärdiktatur verschanzt hatten. 1973, auch das Jahr, in dem Kurt Klefisch am Stadttheater den „Romeo gab und ein fliegender Gyrosspieß sein Leben fast beendet hätte. Wie viele Menschen beim Aufstand am 17. November 1973 getötet wurden, ist nie völlig geklärt worden.

    „Klassische Eleganz vergangener Tage kombiniert mit modernsten Annehmlichkeiten erwartet Sie im Divani Caravel Hotel, Mitglied der Leading Hotels of the World. Jedes Zimmer besticht mit klassischem Wohlfühlcharme. Genießen Sie erinnerungswürdige Gerichte im exquisiten Amalia Restaurant oder erleben Sie Entspannung pur im Wellnessbereich."

    So wirbt das „Divani" im Internet und in Prospekten. Flankiert von einem Kofferträger betrat Kurt mit seinem Freund Werner die Eingangshalle des Hotels. Die Lounge erinnerte ihn an die ehemalige Empfangshalle des Flughafens Scheremetjewo. In beiden Hallen, in Athen wie auch in Moskau, stachen von der Decke fast nahtlos aneinander gefügte, faustbreite hohle Stahlzylinder unterschiedlicher Länge ins Auge des Betrachters. Aufmarschierte, entseelte schwarze Löcher. Eine stählerne Weizenfeldwoge. Wolf Biermann erinnerte die Decke von Scheremetjewo an die Essnäpfe der in Sibirien umgekommenen Deportierten. Ob in Athen und Moskau ein und derselbe Architekt am Werk war? Kurts Blick verlor sich in den zirka sechs Meter hohen und drei Meter breiten Lüster mit 10 000 verschiedenen, bis zu 30 Zentimeter langen Murano-Glas-Prismen aus gleichseitigen Dreiecken, der wie ein geometrischer Riesentropfen mit sechs kleineren Nebentropfen aus der Deckenkonstruktion herauswuchs. Die Vorstellung, dass dieses ungefähr 2,5 Tonnen wiegende Glasungeheuer auf ihn herunterfallen könnte, ließ ihn fünf Schritte nach links zu Seite gehen, heraus aus der möglichen Aufprallzone, und dann noch einmal sieben geradeaus, dachte er doch an die beim Aufschlag möglicherweise zerschellenden, wie Granatsplitter umherfliegenden Glasprismen. Ehe er dieses Szenario eines möglichen Lüsterabsturzes und die Konsequenzen weiterfantasieren konnte, forderte ihn sein Freund Werner zum Einchecken auf.

    Eine Suite,

    und die für Kurt allein. „Das wäre nicht nötig gewesen!", hätte Werner im umgekehrten Fall gesagt. Aber so war er: immer großzügig. Auch wenn es für ihn eine Unbequemlichkeit bedeutete, zog er die Straßenbahn dem Taxi vor. Für seine Freunde jedoch war ihm nichts zu teuer. Und Kurt war sein Freund.

    Der krumme Zimmerboy, eher ein Zimmergreis, mit von Sorgen und Alkohol zerfälteter Stirn stand da und scharrte mit den Füßen. Kurt gab ihm fünf Euro, damit er aufhöre. Er hörte auf. Mit seinen gichtigen Händen zupfte er noch einmal an der aufgeschlagenen Bettdecke und verschwand, sich mehrfach verbeugend, rückwärts aus dem Schlafraum, einen freundlichen Satz auf Griechisch hinterlassend, der unübersetzt im Raum schwebte und beim Schließen der Tür auf das Antilopenfell vor dem Bett fiel. Beide, Antilope wie Zimmergreis, hatten sicherlich schon bessere Zeiten gesehen; Zeiten, in denen die Antilope noch durch die Savanne strich und der heutige Zimmergreis, damals noch Boy, die Suite im Vorwärtsgang verließ.

    Kurt ging zurück in den Wohnraum. Auf dem Boden vor dem flachen Tisch aus rohem, geöltem Holz lag ein schon etwas dünn getretenes, staubiges Zebrafell. Erschießt man Zebras, Antilopen, Löwen, Bären und andere Tiere deshalb, damit man ihnen das Fell über die Ohren zieht und Zuhause oder in Hotelsuiten den Fußboden damit schmückt und darauf herumtrampelt?

    Alles in den Räumen war in verschiedenen Brauntönen gehalten. Die schwere Sesselgarnitur mit Sofa, deren Umrandungen aus einem sichtbar wertvollen, hellbraunen Holz bestanden, ließen das dunkle glatte Leder  gut zur Wirkung kommen.. Bis auf die Seidentapeten war alles mehr oder weniger aus Leder. Die dunkelbraune Schreibmappe mit dem hellgelben Büttenpapier; die Kunstobjekte, scheinbar afrikanischen Ursprungs; selbst ein kleines genopptes Kästchen mit einem Schlitz, aus dem (weiße!) Tissues herausschauten. Auf einer Art Vestibül stand ein großes silbernes Tablett mit einer Schale voller Obst, daneben ein Sektkühler mit schwimmenden Eiswürfeln, einer Flasche Weißwein und Mineralwasser. An den zwei Trinkgläsern der besseren Qualität, die mit einer Abdeckung versehen waren, höchstwahrscheinlich damit sie nicht einstaubten, lehnte ein Willkommen-Schreiben. Davor zwei mittelgroße Teller mit Stoffservietten aus Damast, darauf zwei Obstmesser mit Bambusgriff. Zu erwähnen wären noch zwei Bäder (eins mit, eins ohne Badewanne) mit venezianischen Kacheln in grün, die in Hüfthöhe von einer weiß-grauen, ornamentierten Kachelleiste abgefangen wurden. Darüber setzte hellgelber, glatter Marmor ein. Kurt staunte. In solch einem Hotel war er noch nie abgestiegen. Aber es fröstelte ihn auch ein wenig. Das war nicht seine Preisklasse. Nicht, dass er Luxus nicht zu schätzen wusste, aber mit so viel Luxus wusste er nicht umzugehen. Im Gegensatz zu dem Globalplayer Werner, der bei seinen diversen Geschäftsreisen durch die ganze Welt überwiegend in solchen Hotels nächtigte und das als eine Selbstverständlichkeit empfand.

    Kurt zog die schweren Vorhänge beiseite, sah die Akropolis und war enttäuscht. Obwohl sie vielleicht nur zwei Kilometer Luftlinie entfernt lag, kam sie ihm fast mickrig vor. Nicht wie auf Darstellungen des Malers Leo von Krenze, aus dem Jahr 1846, oder auf den diversen Ansichtskarten des vergangenen Jahrhunderts. In Kurts Augen eher einem Überraschungs-Ei entsprungen. So, als hätte vor zweieinhalbtausend Jahren das Kind eines Riesen die Überraschung aus dem Ei enttäuscht weggeworfen, weil sie so ganz und gar nicht in dessen Vorstellung einer erträumten Schwarzwälder-Märklin-Eisenbahn-Landschaft passte. Dabei war diese Überraschungs-Ei-Akropolis auf einem Hügel gelandet, kaputt gegangen und heute reparierte man immer noch daran. Und dieser eingerüstete Steinhaufen, von zwei Kränen flankiert, sollte mal der Sitz der Götter gewesen sein? Das Telefon klingelte. Werner wollte wissen, ob man heute noch auf die Akropolis …, oder morgen in der Früh, bevor man mit dem Auto weiter Richtung Peleponnes führe. Da Kurt schon immer der Meinung war, dass nur Toren die Sehenswürdigkeiten fremder Länder besichtigten, Weise aber in die Tavernen gingen und Werner mit einer ähnlichen Antwort gerechnet haben musste, verabredete man sich in einem Restaurant, das laut Werner Kulinarisches versprach.

    Das Mani Mani,

    benannt nach der Mani, einem Landstrich auf dem südlichen Peleponnes, liegt versteckt in einer kleinen Seitenstraße, einen Steinwurf von der Akropolis entfernt. Aus der Mani stammt der Besitzer dieses kleinen Restaurants wie auch der vor vierzig Jahren Gyrosspieße schleudernde Vassilios. Wenn man so will, eine kulinarische Dependance der Mani in der griechischen Hauptstadt und, wie Werner meinte, genau die richtige Gaumeneinstimmung auf das  Urlaubsziel. Das schmale Treppenhaus in der neoklassizistischen Residenz gab im zweiten Stockwerk den Blick in eine helle, ehemalige Wohnung frei, die zu einem kleinen Restaurant umgestaltet worden war. Überall dezente Grüntöne; Wandsockel, in der Farbe von wildem Spargel, einfache weiße Stühle, Tische mit hauchdünnem Tuch gedeckt, die hohen Fenster mit hellgrünen, im unteren Drittel gerafften Vorhangschals drapiert. Kaum Dekor. Mal hier ein Stückchen Flickenteppich, eine schöne Glas-Vase dort, an der Wand ein modernes Bild. Später, am Urlaubsort, erinnerte Kurt die farbliche Übereinstimmung dieser Mani-Landschaft mit dem Erscheinungsbild des Restaurants: einfach und pur. Die alten Männer auf hellen Stühlen vor noch älterem Haus im Hafen von Agios Dimitrios hätten auch im Mani-Mani sitzen können. Die Kellnerin schien Kurt wie von einem Laufsteg enteilt. Dieser Mund! Ob man von diesem auf ihren zweiten schließen durfte? Kurt senkte seinen Blick in die Speisekarte. Als er sich schließlich zu bestellen entschloss, war er sichtbar bemüht seine Augen oberhalb ihres Mundes zu fokussieren. Der empfahl „Siglino, eine „Mani-Spezialität. Wie sie erklärte, eine Wurst von im frühen Winter geschlachteten Schweinen. Das Fleisch wird sechs Tage ausgehärtet, anschließend mit Salbei geräuchert und später in Wein mit Öl oder Schweinefett zusammen gekocht und mit Orangenschalen in Tonkrügen gelagert. Sie hatte den Mund nicht zu voll genommen. Diese „Siglino" – eine Entdeckung! Auch die gegrillten Fleischbällchen auf Pitabrot mit gebratenen Auberginen und Joghurt-Cream waren vorzüglich und der Oktopus von einer Zartheit, wie ihn Kurt noch nie genossen hatte. Keine Spur von der zähen Ledrigkeit deutscher Tintenfischgerichte, sondern  beim Zubiss, ein kleiner, kaum spürbarer, aber vorhandener Widerstand, eine nachgebende, aber verhalten-trotzige Härte. Kurt fantasierte, dass sich im Gaumen von Frauen beim Verzehr von Oktopus ein Gefühl einstellen müsse, als kauten sie auf einem Schwanz. Aber das war Fantasie! Und überhaupt, welche Frau kaut schon auf Schwänzen? Überdies auch kein Gedanke, der die Welt verändern würde, aber einer, der Kurt verfolgte, seit er vor gut vierzig Jahren bei Vassilos und Ewa seinen ersten Tintenfisch gegessen hatte.

    Der Mund brachte neuen Wein. Aus Lakonien. Dessen Qualität, lakonisch ausgedrückt: Ehrlich! Aus einem Weingut nahe der Stadt Monemvasia, das für seine hervorragende Pflege seiner Weinberge auf trockenem Boden in der Nähe des Meeres bekannt ist.

    „Still more wine?", wollte sie wissen. Sie lächelte ihn an. Er sah einen Wimpernschlag lang ihre Zungenspitze im halbgeöffneten Lippenspalt. Die Zähne makellos. Ein Passepartout aus weißem Schmelz für den dahinter liegenden, in seinem wahren Ausmaß nicht sichtbaren, rosaroten Schlund. Aus dem Kunstunterricht fiel Kurt ein, dass Passepartouts dazu dienen, den Blick des Betrachters vom Rahmen abzulenken und auf das Kunstwerk zu fokussieren. Wie gern wäre er jetzt eine Erdbeere und ließe sich von ihren feingliedrigen Fingern zum Mund führen, um dort, hinter blendend weißem Zahnpassepartout zu verschwinden. Aber was wäre, wenn sie eine Allergie gegen Erdbeeren hätte?

    „Si – per favore. Seine Antwort auf ihre Frage, ob er noch etwas Wein möge, kam etwas spät, das „per favore noch später, noch dazu mit einem leichten Tremolo im etwas zu lang gehaltenen „o und dem anschließend übertrieben gerollten „r. „favooorrrä". Kein großes Kino, ganz schlechte Oper!

    Der Kurt ist jemand – schrieb Kurt später in seinem Buch „Franz – der Kurt ist jemand, der in anderen Ländern nie die Landessprache spricht, sondern immer eine andere. Obwohl auf Grund seiner mangelnden Sprachkenntnisse von „Sprechen nicht im Entferntesten die Rede sein kann, streut Kurt Brocken, Bröckchen aus einer anderen Sprache. In England verstreut er französische Bröckchen, in Frankreich wahlweise italienische oder englische, in Italien spanische und so weiter. Aber diese Bröckchen weiß er manchmal für Sekunden mit der ihm eigenen Chuzpe so zu platzieren, als sei er ein Globalplayer. In Wahrheit beherrscht Kurt keine einzige Fremdsprache, obwohl er glaubt, dass er die Musikalität für fast alle Sprachen der Welt besitze. Über diesen Glauben ist er aber nie hinausgekommen. Davor stand immer wieder der Fremdsprachenschweinehund, der jeden Kurt’schen Lernwillen zerkläffte. Eigentlich war es auch nicht nur der eine Fremdsprachenschweinehund – es handelte sich um eine ganze Meute von Fremdsprachenschweinehunden. Da hatte Kurt keine Chance. Manchmal fand er es selbst beschämend, dass ihm nicht einmal der ein oder andere Schlüsselsatz zur Verfügung stand. Wenn‘s hochkam, waren es Schlüsselbröckchen. Aber selbst mit denen hatte er häufig Schiffbruch erlitten. Über Jahre immer wieder in der Bretagne, immer wieder bei dem Fischer und seiner Frau und bei der Abreise immer wieder das Versprechen „L’année prochaine ... Den Rest des Satzes, der zum Ausdruck bringen sollte, dass er im nächsten Jahr mit guten Französischkenntnissen wiederkommen werde, verschluckte er in einem gebrabbelten Kauderwelsch mit englischem Akzent. Der Fischer und seine Frau verstünden schon, dachte Kurt. In einem Jahr, es mag das vierte oder fünfte gewesen sein, Kurt stand mit dem Fischer und seiner Frau im Vorgarten, wies er mit theatralischer Handbewegung auf den wieder einmal wolkenverhangenen bretonischen Himmel und versuchte mit dem Satz „Et le timbre demain? (Und die Briefmarke morgen?) das Wetter für den nächsten Tag zu erfragen. Die Blicke des Fischers und seiner Frau wurden nur noch von dem der Französin getoppt, die Kurt auf dem Markt versehentlich anrempelte und sich mit den Worten „Excusez-moi entschuldigte, worauf er leichthin mit „N’est-ce pas (Oder etwa nicht?) antwortete – damit „macht nichts!" meinte, aber mit dieser Antwort sehr allein in der Welt stand.

    Werner hatte ob des „per favore die Augen verdreht. Kurt hatte es bemerkt. Den Hinweis auf das ihm angeborene Sexualvibrato seiner Stimme quittierte Werner mit einem Lachen nach Großgrundbesitzerart – wie immer viel zu laut. Natia, seine Frau, quietschte dazu, angetrunken heftig, und die Kellnerin warf einen irritierten Blick auf das Trio. In der eintretenden Stille bemerkte Werner, zwar nicht übermäßig laut, aber durch eine Gesprächsflaute im Lokal wahrscheinlich überall hörbar, dass der Mund schon exorbitant sei, worauf Natia ihn brutal in den Oberarm kniff. Ein Aua" explodierte in der Stille des Raumes.

    In der Nacht träumte Kurt über sich den Himmel, und aus Mundwolken stahlen sich rote Samtflecken, die, schnitzelspitz, tief zwischen sein Lippenpaar drangen.

    Der letzte Augenblick der Idylle

    Seit zwei Wochen weilte ich schon in Agios Nikolaos, um an einem Text zu arbeiten, den ich nach den Ferien in der Redaktion einer Wochenzeitschrift abzugeben hatte. Bislang lief auch alles nach Plan, aber das Schlusskapitel bereitete mir Schwierigkeiten und als mich an einem späten Vormittag Intuition und Verstand gleichermaßen im Stich ließen, beschloss, ich nach Trachila zu fahren, einem Ort der Stille, um dort in einer kleinen Taverne, bei Efgenia und ihrem Sohn Panagiotis, mein Mittagessen einzunehmen.

    Trachila ist ein ehemaliges Kapitänsdorf, das ungefähr zehn Kilometer südöstlich von Agios Nikolaos in der westlichen Mani liegt und nur über eine schmale und kurvige Küstenstraße zu erreichen ist. Linkerhand stechen zerklüftete Ausläufer des Taygetos-Gebirges ihre Felsfinger bis zu zweihundert Metern in den blauen Himmel und rechts stürzt der Fels tief hinab in das türkisfarbene Wasser des Golfes von Messenien. Um dort nicht zu landen, hat man in einigen besonders unübersichtlichen Kurven rotweiße Baken angebracht oder einen dort zufällig liegenden Stein in denselben Farben angemalt. An eher ungefährlichen Streckenabschnitten zeugen verrostete Leitplanken vom guten Willen, aber fehlenden Verstand griechischer Straßenbauexperten. Ich weiß nicht, wie viele Rückspiegel schon an den Felsen geschreddert wurden, wie viele Autos ins Meer gestürzt sind, aber ich nehme an, dass da einiges zusammenkommt. Die Vegetation besteht überwiegend aus staubgrüner Macchia und Frigana, dornigen Polstergewächsen, die, ineinander verwachsen, zum Teil mannshoch die Landschaft prägen. Zwischendurch ein paar verkrüppelte Bäume und riesige Kakteen, in Wurzelnähe verholzt, dem Fels trotzend. Darunter jede Menge Kaktusfeigen, angesichts derer ich mir immer wieder die Frage stellte, woher sie ihre Nahrung beziehen. Bei meinen bisherigen Fahrten nach Trachila kam mir regelmäßig der Gedanke, dass ich irgendwann beim Passieren des ein oder anderen überhängenden Felsens von einem tonnenschwere Felsbrocken erschlagen werde oder ich auf der anderen Seite direkt ins Meer oder in das etwas flacher abfallende Macchia-Gebüsch stürze, woraus es in der Regel kein Entkommen gibt. Für Menschen und größere Tiere ist dieses in sich verflochtene Buschwerk unüberwindbar. Beide Vorstellungen haben mein inneres Gleichgewicht bei Fahrten nach Trachila immer wieder ins Wanken gebracht und Puls wie auch Auto, beschleunigt. Jogi, ein seit dreißig Jahren in der Mani lebender deutscher Arzt und Olivenöl-Bauer, beruhigte mich auf seine Art und Weise: Wenn Du Glück hast, erwischt dich der Steinschlag, wenn Du Pech hast, landest Du im Macchia-Gestrüpp. Immer wieder komme es vor, wusste er zu berichten, dass Touristen mit dem Auto ins Taygetos-Gebirge fahren und, aus welchen Gründen auch immer, von der Straße abkommen, einen Hang hinunterstürzen und vom Macchia-Buschwerk verschluckt werden. In der Regel findet man sie nicht, da man nicht weiß, wo man sie suchen soll. Sie gelten als vermisst. Auch wenn sie sich aus dem Wrack befreien könnten, kämen sie ohne Hilfsmittel wie einer Motorsäge oder Machete nicht aus dem Teufelsgebüsch heraus. Aber wer nimmt schon eine Motorsäge oder eine Machete mit auf einen Tagesausflug? Und vor allem: Was nützen die beiden Gerätschaften, wenn sie

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