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Sirrah: Eine Rebellion aus Liebe gegen das System
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Sirrah: Eine Rebellion aus Liebe gegen das System
eBook289 Seiten3 Stunden

Sirrah: Eine Rebellion aus Liebe gegen das System

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Über dieses E-Book

In ferner Zukunft leben zwei junge Menschen auf einer matriarchalen Welt: Sirrah, Tochter einer Gutsbesitzerin, und Tihal, Sohn eines Landarbeiters. Während Sirrah alle Wege offen stehen, bleibt Tihal nur das Leben auf den Feldern. Tihal umgibt ein Geheimnis, das Sirrahs Interesse weckt. Die beiden kommen sich näher, ihre Liebe zerbricht jedoch an Sirrahs Zukunftsplänen. Als Sirrah eine Karriere bei der Raumflotte anstrebt, verlässt Tihal seine Heimat und schließt sich einer Rebellengruppe an. Zunächst verdrängt Sirrah die Ungerechtigkeit des Gesellschaftssystems und stürzt sich mit Eifer in ihre Ausbildung. Als sie jedoch herausfindet, dass Tihal die Zwangsarbeit auf einem unwirtlichen Planeten droht, schmiedet sie einen waghalsigen Fluchtplan.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. März 2018
ISBN9783742744869
Sirrah: Eine Rebellion aus Liebe gegen das System

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    Buchvorschau

    Sirrah - Petra Gugel

    1. Der letzte Schultag

    Der Barbar schwang zähnefletschend die Streitaxt. Seine Gegnerin holte zum Schlag mit dem Schwert aus. Doch ihr Hieb ging ins Leere, und der zottelige Krieger machte ihr zum dritten Mal in Folge den Garaus.

    Ein lautloser Fluch formte sich auf Sirrahs Lippen.

    Wieder war sie auf der vierten Ebene des Spieles gescheitert, das sie statt ihres Lernprogramms auf dem Schulcomputer laufen ließ. Dass Ardra aus der letzten Reihe sie deswegen noch nicht angeschwärzt hatte, grenzte beinahe an ein Wunder.

    Sirrah guckte auf die Uhr. Noch eineinhalb Stunden! Sie strich eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht und sah aus dem Fenster. Zwei Sonnen, die sich als Doppelgestirn gegenseitig umkreisten, brannten auf ihre Heimatwelt nieder. Wirklich kein Wetter zum Lernen, und am letzten Schultag schon gar nicht.

    Ein Referat über ihren Nachbarplaneten Nardo plätscherte an Sirrahs Ohren vorbei. Nun trennte sie nur noch der Physikunterricht von den Ferien. Dann kamen die Abschlussprüfungen, und bis dahin musste sie ihre Mutter unbedingt überzeugt haben!

    „Isa, noch sind keine Ferien!" Die Stimme ihrer Lehrerin schreckte Sirrah aus ihren Überlegungen auf.

    „Mit welchen physikalischen Kerngrößen lässt sich ein schwarzes Loch beschreiben?" Denebola, deren Feldwebelstimme nicht zu ihrer unscheinbaren Erscheinung passte, sah Sirrahs Sitznachbarin fragend an.

    Isas wasserblaue Augen schielten Hilfe suchend zu Sirrah.

    „Masse, Drehimpuls und elektrische Ladung", flüsterte Sirrah ihrer Freundin zu.

    „Sirrah, dich habe ich nicht gefragt!" Trotz ihres Alters verfügte Denebola über ein ausgezeichnetes Gehör.

    Der Lautsprecher erbarmte sich der schwitzenden Mädchen. Fünf Minuten vor Schulschluss leierte er die Tonfolge herunter, die das Ende des Unterrichts anzeigte.

    „Das größte schwarze Loch befindet sich eindeutig da drin! Isa tippte sich an die Stirn. „Das gesammelte Wissen des Universums verschwindet dort mühelos auf nimmer Wiedersehen!

    Sirrah schmunzelte. Isa war in Physik ungefähr so gut wie ein Stein im Fliegen. Dafür konnte sie sich sämtliche Geschichtsdaten merken. Sirrah fragte sich, wie sie das anstellte. Es gab doch wirklich nichts Langweiligeres als Geschichte!

    Ihre Mitschülerinnen erwachten zu neuem Leben. Sirrah räumte ihre Schulsachen zusammen und stopfte sie in ihre Tasche. „Schöne Ferien!", rief sie den Mädchen zu, bevor sie mit Isa das Klassenzimmer verließ.

    Ein leichter Wind kühlte Sirrahs Gesicht. Die frische Luft auf dem Schulhof war eine Wohltat nach dem Mief im Klassenzimmer. Jetzt kam endlich der angenehme Teil des Tages: Isa würde heute bei ihr übernachten. Ein vergnügter Abend mit ihrer besten Freundin war genau das Richtige für den Ferienbeginn!

    „Könntest du dich ausnahmsweise mal beeilen?, drängelte Isa. „Sonst fährt uns der Zug wieder vor der Nase weg!

    Die Freundinnen rannten los und erreichten atemlos die Haltestelle, wo die silbrig glänzende Magnetschwebebahn kurz vor der Abfahrt stand. Sie huschten gerade noch hinein, bevor sich die Türen schlossen. Mit einem leichten Ruck setzte sich die Bahn in Bewegung, und die beiden Mädchen ließen sich auf zwei freie Plätze plumpsen.

    Vor den Fenstern rauschte lautlos die Landschaft vorbei. Ein bunter Flickenteppich aus Feldern und Obstplantagen erstreckte sich bis zum Horizont, wo man im Dunst eine Reihe von hohen Bergen erkennen konnte.

    „Ist Arneb eigentlich auch da?", fragte Isa nach einiger Zeit.

    „Nein, meine Mutter hat ihn gestern an eine reiche alte Schachtel verkauft! Sirrah grinste. Sie wusste, dass Isa ein Auge auf ihren zwei Jahre älteren Bruder geworfen hatte. „Was willst du bloß mit ihm? Immerhin wird er bald neunzehn! Such dir lieber etwas Jüngeres, alt und hässlich werden sie früh genug. Wobei bei meinem Bruder nicht viel zu verderben ist!

    Eine leichte Röte überzog Isas Wangen. „Arneb ist wirklich sehr nett, du verstehst ihn bloß nicht!"

    „Eben, wie könnte ich das auch beurteilen. Ich bin ja nur seine Schwester!"

    Isa gab auf. Für Sirrah würde Arneb stets der nervende Bruder bleiben, der nur zum Aufräumen und Putzen taugte.

    Für weitere Diskussionen über Arnebs Vorzüge blieb keine Zeit mehr. Der Zug näherte sich der Haltestelle, bremste ab und kam zum Stillstand. Die Türen öffneten sich mit einem leisen Zischen. Die beiden Freundinnen stiegen aus und sprangen den Bahndamm hinunter.

    Dort, wo der staubige Trampelpfad in einen von hohen Alleebäumen gesäumten Weg mündete, begann das Land von Sirrahs Mutter. Ein goldgelbes Ährenmeer erstreckte sich linker und rechter Hand des Weges und wogte sanft im Wind. Im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Sirrah dem Anblick jedoch nichts Idyllisches abgewinnen. Für sie bedeutete er lediglich eine Menge Arbeit.

    Sirrah kniff die Augen zusammen. Hatte sich im Feld nicht soeben etwas bewegt? Tatsächlich, aus dem Kornfeld lugten mehrere Paare hellbrauner Öhrchen heraus. Sie gehörten einer Kolonie Pfeifhasen, die sich über das reife Korn hermachte. Der selbst gebastelte Raubvogel, der an einer Stange über dem Feld baumelte, schien die kleinen Nager nicht besonders zu beeindrucken. Erst als Sirrah laut in die Hände klatschte, stießen die Tierchen einen hohen Pfeifton aus und flitzen in ihre Erdlöcher.

    Am Ende der Allee erhob sich ein zweistöckiges Gebäude. Das Licht der tief stehenden Sonnen spiegelte sich in den hohen Fenstern und ließ die Sonnenkollektoren auf dem Dach wie Insektenflügel schillern. Dass die Fassade dringend einen neuen Anstrich benötigte, nahm Sirrah schon gar nicht mehr wahr.

    „Klopf dir den Staub ab und zieh die Schuhe aus, ermahnte Sirrah ihre Freundin, als sie das Wohnhaus erreichten. „Sonst nörgelt mein Vater wieder, weil er ständig putzen muss!

    Sirrah öffnete die Tür. Im Gegensatz zu Isa, die ihre Sandalen ordentlich beiseite stellte, ließ Sirrah ihre Schuhe mitten im Flur zu Boden fallen.

    Als sie das Wohnzimmer betrat, fiel ihr auf, dass der Tisch noch nicht gedeckt war. Seltsam, eigentlich müsste es doch bald Abendessen geben!

    Wo waren denn alle? Sirrah spähte durch die Glasfront auf der Westseite. Niemand war zu sehen, weder auf der Terrasse noch im Garten. Nur von der Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte, wummerte laute Musik herunter. Also war Arneb zu Hause.

    Sirrahs Blick fiel auf seine Bilder. An der Wand hinter dem Esstisch klebte eine Reihe von Zeichnungen, auf denen Arneb sämtliche Familienmitglieder verewigt hatte: Ihren Vater Menkar, der auf einem Portrait bestanden hatte, weil er nicht stundenlang den Bauch einziehen wollte. Ihre Mutter Adhara, die ihre markante Adlernase auch auf dem Papier mit Stolz und Würde trug. Sein Selbstbildnis hatte Arneb ein wenig geschönt. Sirrah wusste, dass er den von Adhara geerbten Zinken hasste.

    Sie selbst störte sich an dieser Mitgift ebenso wenig wie an der Tatsache, dass sich ihr langes Haar nie zu einer ordentlichen Frisur bändigen ließ. An die Frage, ob andere sie hübsch fanden, verschwendete Sirrah keine Gedanken. Solche Unsicherheiten plagten nur das männliche Geschlecht.

    Sirrahs Magen knurrte. „Hallo, ist jemand zu Hause?", rief sie.

    „Hier bin ich! Das runde Gesicht ihres Vaters erschien in der Durchreiche zur Küche. Seine Wangen waren gerötet, und sein spärliches Blondhaar probte den Aufstand. „Ihr kommt gerade rechtzeitig, das Abendessen ist gleich fertig. Könntest du Arneb sagen, dass er endlich den Tisch decken soll? Dieser Faulpelz hat sich schon wieder verkrümelt!

    „Ich mach das schon!", rief Isa und sauste die Treppe hinauf.

    „Was gibt’s eigentlich zum Essen?" Sirrah guckte in die Küche. Die Kochexperimente ihres Vaters waren immer für eine Überraschung gut. Sie erinnerte sich an das geschmorte Gemüse, das er an Adharas Geburtstag serviert hatte. Die brennend scharfe Soße hatte ihr und der gesamten Verwandtschaft die Tränen in die Augen getrieben.

    Menkar wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und begrüßte Sirrah mit einem Lächeln. „Ich hoffe, du hast Appetit auf Gemüseauflauf!"

    Sirrah atmete auf. Auflauf gehörte zu den Gerichten, die ihr Vater hervorragend hinbekam. Als er die Ofentür öffnete, stieg Sirrah ein verführerischer Duft in die Nase. Sie spülte sich im Küchenwaschbecken den Staub von den Fingern und schnappte sich einen Löffel. Während sie ein Stück Frühlingsrübe aus dem Auflauf fischte, betraten Isa und Arneb die Küche. Isas Wangen glühten, und Arnebs Gesicht zierte ein glückliches Lächeln.

    „Was treibst du nur so lange da oben?, schimpfte Menkar. „Vor einer halben Ewigkeit habe ich dich gebeten, den Tisch zu decken!

    „Wieso kann Sirrah das nicht mal machen?"

    „Weil dasch Jungscharbeit ischt", nuschelte Sirrah mit vollem Mund.

    Arneb holte Geschirr und Getränke aus der Küche und trug sie ins Wohnzimmer. Menkar stellte den dampfenden Auflauf auf den Tisch und häufte jedem eine große Portion auf den Teller. „Lasst es euch schmecken!"

    Sirrah ließ sich auf einen Stuhl fallen und schob sich einen Löffel Auflauf in den Mund. Mmh, lecker!

    Arneb zog die Augenbraue hoch. „Man hört’s!"

    „Klappe", murmelte Sirrah und spülte den Bissen mit einem Schluck Obstsaft hinunter.

    „Könnt ihr nicht einmal aufhören mit dem Gezänk? Menkar schüttelte den Kopf. „Sirrah, wie war eigentlich dein letzter Schultag?

    „Langweilig. Die Schule war das Letzte, worüber sie sich unterhalten wollte. „Wo ist Mutter eigentlich?

    „Wenn du mir hin und wieder zuhören würdest, wüsstest du es. Ich habe dir schon mindestens dreimal erzählt, dass sie auf diesem Landwirtschaftstreffen ist. Menkar nahm sich noch eine Portion Auflauf. „Hättest du etwas von ihr gebraucht?

    „Ich wollte sie noch einmal wegen der Akademie fragen!"

    Arneb verdrehte die Augen. „Nicht schon wieder!"

    Sirrah schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. Sie ahnte, was ihn wirklich wurmte: Dass seine eigene Zukunft nie zur Debatte stand.

    „Isa, was machst du eigentlich nach der Prüfung?", fragte Arneb.

    „Ich gehe auf die Kunsthochschule, antwortete Isa. „Gestern habe ich die Zusage bekommen.

    Arnebs Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. „Ich habe letzte Woche etwas Neues gezeichnet. Möchtest du es dir ansehen?"

    „Gerne!" Wieder hatte Isa diese leichte Röte im Gesicht. Sirrah kicherte, als die beiden nach oben verschwanden.

    Menkar sah seine Tochter fragend an. „Weißt du etwas, das ich nicht weiß?"

    „Ich glaube nicht, dass du schon ein Rezept für die Hochzeitstorte brauchst, antwortete Sirrah. „Übrigens, wann kommt Mutter eigentlich wieder?

    „Wenn der Zug pünktlich ist, morgen Mittag."

    Sirrah zog einen Flunsch. „Nie ist sie da, wenn man sie mal braucht!"

    „Du weißt, dass sie viel Arbeit hat! Eine steile Falte bildete sich auf Menkars Stirn. „Dieser Tatsache verdanken wir unser sorgenfreies Leben. Nicht alle haben so viel Glück. Denk nur einmal an Mizar!

    Sirrah kannte das. Bei solchen Diskussionen musste immer Mizar als mahnendes Beispiel herhalten. Schon oft hatte ihr Vater erzählt, wie verzweifelt Mizar ausgesehen hatte, als er vor fünfzehn Jahren hier aufgetaucht war. Ein Witwer ohne Ausbildung, der ein kleines Kind zu versorgen hatte. Adhara gab ihm trotzdem Arbeit, und seitdem bewohnte er zusammen mit seinem Sohn Tihal ein kleines Haus in der Obstplantage.

    Inzwischen war Tihal genauso alt wie Arneb, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Tihal war anders als alle Jungs, die Sirrah kannte. Weder kümmerte er sich um Benimmregeln, noch interessierte er sich für modische Kleidung. Überhaupt schien er irgendwie nicht in diese Welt zu passen. Sirrah hatte Gerüchte über Tihals Herkunft gehört, doch ihre Mutter war der Meinung, dass es ihm lediglich an Erziehung fehlte. Allerdings sah Tihal ungewöhnlich aus, und dass es ihn und seinen Vater in diese abgelegene Gegend verschlagen hatte, erschien ihr seltsam. Wer zog schon freiwillig in diese Einöde?

    2. Alte Bekannte

    Es war fast Mittag, als Adhara nach Hause kam. Sie trug einen ihrer dunklen Hosenanzüge für offizielle Anlässe und zog einen rumpelnden Rollkoffer hinter sich her. Er hinterließ eine deutlich sichtbare Schmutzspur auf den frisch geputzten Bodenfliesen. Menkar lächelte seine Frau nachsichtig an, bevor er mit einem leisen Seufzer einen Putzlappen holte.

    Adhara küsste ihn zur Begrüßung auf die Wange. Dann nickte sie den Mädchen zu, die soeben ihr verspätetes Frühstück beendet hatten. „Na, wie geht’s euch?"

    „Bestens! Sirrah grinste. „Wir haben uns gestern mit Musik und Süßkram einen schönen Abend gemacht!

    „Da hattet ihr eindeutig mehr Spaß als ich!" Adhara, der man ihre fünfzig Jahre sonst nicht ansah, wirkte heute müde und gestresst. Auch die grauen Strähnen in ihrem braunen Haar schienen ein wenig zahlreicher geworden zu sein.

    „Was gibt es Neues?", fragte Menkar.

    „Nicht viel, außer dass man im Norden den Anbau einer neuen Getreidesorte ausprobiert hat. Hauptsächlich wurde über diese Unruhen gesprochen, die es neulich in der Hauptstadt gegeben hat."

    „Hast du inzwischen noch einmal darüber nachgedacht?, fragte Sirrah. „Die halten mir den Platz auf der Akademie nicht ewig frei!

    „Ich bin doch gerade erst angekommen, stöhnte Adhara. „Lass uns später darüber reden. Aber du könntest etwas für mich erledigen. Sie drückte Sirrah einen prall gefüllten Stoffbeutel in die Hand. „Ich werde die neue Getreidesorte testen. Möchtest du nicht mit Isa einen Spaziergang machen und das Saatgut Mizar geben? Er soll es auf dem kleinen Feld aussäen."

    Sirrah schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Warum hatte ihre Mutter nicht wenigstens ein bisschen Verständnis für sie? Das dämliche Grünzeug war anscheinend alles, was ihr wichtig war.

    Lustlos stopfte Sirrah die Getreidekörner in ihre Umhängetasche und machte sich mit Isa auf den Weg. Sie nahmen die Abkürzung durch den Garten, am Gewächshaus vorbei und über das angrenzende Rübenfeld. Dahinter standen in ordentlichen Reihen die Obstbäume, inmitten derer Mizar sein kleines Haus bewohnte.

    „Kannst du dich eigentlich noch an Tihal erinnern?", fragte Sirrah ihre Freundin, während sie über das Rübenfeld stapften.

    „Klar. Das ist doch dieser schmächtige Junge, mit dem wir früher manchmal Pi-Tzi-Ball gespielt haben!"

    Schmächtiger Junge? Sirrah lächelte in sich hinein. Isa würde sich wundern!

    Fünf Minuten später erreichten die Mädchen Mizars Häuschen, dessen weiß getünchte Wände zwischen den Apfelbäumen hervorleuchteten. Es bestand aus drei Zimmern: Einer großen Wohnküche im Erdgeschoss und zwei kleineren Räumen im Obergeschoss, zwischen die noch ein winziges Badezimmer hineingequetscht war. Um etwas zusätzlichen Platz zu schaffen, hatte Mizar vor einigen Jahren eine überdachte Veranda angebaut, die mittlerweile von einer blühenden Kletterpflanze überwuchert war.

    Die Tür stand offen, und die Mädchen traten ein. Nach dem blendenden Sonnenschein draußen konnten sie in dem dämmrigen Raum kaum etwas sehen. Doch Mizars Wohnküche hätte Sirrah sogar in völliger Dunkelheit erkannt. Der intensive Duft nach Kräutern und Gewürzen war unverwechselbar, die milde Süße getrockneter Apfelblüten vermischte sich mit dem würzigen Aroma wilden Pfeffers.

    Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel, und die Einrichtungsgegenstände nahmen Gestalt an: Eine altmodische Küchenzeile, ein schlichter Holztisch mit vier unterschiedlichen Stühlen und eine große Regalwand. Die Dosen und Schachteln, die sich auf den Brettern stapelten, waren mit getrockneten Kräutern, Wurzeln und Rinden verschiedenster Arten gefüllt. Mizar kurierte damit alle möglichen Krankheiten. Sirrah konnte sich nicht erinnern, dass er oder sein Sohn jemals eine Arztpraxis aufgesucht hätte. Sie fand es ein wenig seltsam, dass sich die beiden so konsequent von sämtlichen öffentlichen Einrichtungen fernhielten.

    Sirrah mochte dieses Haus. So hatte sie sich als Kind die Häuser der Zauberer und Feen aus ihren Märchen vorgestellt. Mizar hatte jedoch nichts mit einem unheimlichen Magier gemeinsam. Er war ein kräftiger Mann und von der ständigen Arbeit im Freien so braun gebrannt, dass seine Haut beinahe dieselbe dunkle Farbe wie das Holz der Obstbäume hatte. Die hellen Haare auf seinem Kopf wurden zu seinem Leidwesen jedes Jahr weniger, seine blauen Augen blitzten jedoch noch immer so jugendlich wie früher.

    Als Mizar die Mädchen rufen hörte, kam er von der Veranda herein und lächelte sie freundlich an. „Kann ich euch etwas anbieten?"

    „Eigentlich haben wir gerade erst gefrühstückt. Sirrah gab ihm den Beutel mit den Getreidekörnern. „Meine Mutter schickt mich. Du sollst das Saatgut auf dem kleinen Feld aussäen.

    „Mach ich, versicherte Mizar. „Ihr könnt aber doch nicht schon wieder gehen. Trinkt wenigstens eine Tasse Tee mit mir. Ein alter Knabe wie ich bekommt ja leider nicht so oft Besuch von jungen Damen!

    Er holte eine grüne Kanne und dazu Tassen in verschiedenen anderen Farben. Sirrah unterdrückte ein Grinsen. Ihr Vater hätte niemals ein solches Durcheinander auf dem Tisch geduldet.

    Mizar schienen solche Details nicht zu stören. Er goss den dampfenden Kräutertee ein und stellte eine Schale mit Gebäck auf den Tisch. Die Mädchen setzten sich auf die Holzstühle, die genauso wenig zueinander passten wie die Tassen, und tranken den aromatischen Kräutertee. Dazu knabberten sie die knusprigen Kekse, die nach einem Hauch Minze schmeckten.

    Die Mittagshitze trieb auch Tihal nach Hause. Er hatte kein Hemd an und stapfte, nur mit einer ausgefransten Hose und einem Paar abgetragener Schuhe bekleidet, in die Küche. Schwungvoll wuchtete er einen riesigen Korb voller Äpfel auf die Anrichte.

    Isa starrte ihn überrascht an. Aus dem schlaksigen Jungen, der Unmengen von Essen verputzen konnte und doch nie zuzunehmen schien, war ein gut aussehender junger Mann geworden. Er hatte von der Feldarbeit kräftige Muskeln bekommen und war ebenso groß und sonnengebräunt wie sein Vater. Nur die strahlend blaue Augenfarbe hatte er nicht von ihm geerbt. Tihals mandelförmige Augen waren genauso dunkel wie sein tintenschwarzes Haar. Es schien, als würden seine Augen das einfallende Licht geradezu verschlucken.

    „Sieh an, wir haben Besuch! Einen schönen guten Tag, die Damen", begrüßte Tihal die Freundinnen.

    „Hallo, Tihal", sagte Isa lahm. Sie verschluckte sich an ihrem Kräutertee, und ein feines Rinnsal lief über ihr Kinn.

    „Isa, mach den Mund wieder zu! Du wirst Arneb doch nicht untreu werden", stichelte Sirrah. Irgendetwas an Isas Gesichtsausdruck störte sie.

    „Eifersüchtig? Tihal grinste Sirrah herausfordernd an. „Bevor ich die Damen noch restlos verwirre, hole ich mir lieber etwas zum Anziehen!

    „Bilde dir bloß nichts ein!", rief Sirrah ihm hinterher.

    Zweifellos fehlte es ihm nicht nur an Erziehung, sondern auch an Bescheidenheit.

    „Was sich neckt, das liebt sich, heißt es immer, sagte Mizar zu Isa. „Wenn das stimmt, dann hat es Sirrah schlimm erwischt. Einmal hat sie sogar Juckkäfer in Tihals Bett versteckt.

    Isa gluckste vor Vergnügen.

    „Da war ich erst zehn! Sirrah verzog das Gesicht. Musste Mizar unbedingt diese uralte Geschichte aufwärmen? „Außerdem hat er beim Pi-Tzi-Spielen geschummelt, da ist Rache erlaubt!

    „Ist doch gar nicht wahr! Tihal kam in einem frischen Hemd die Treppe herunter. „Die Einzige, die dabei immer mogelt, bist du!

    „Du kannst es nur nicht ertragen, dass ich besser spiele als du!"

    „Ich stehe jederzeit zur Verfügung! Dann kannst du beweisen, dass du auch ohne Schummeln gewinnst!"

    „Du wirst dein blaues Wunder erleben!", brummte Sirrah.

    „Wir werden sehen."

    „Nächste Woche, abgemacht?" Irgendjemand musste diesen Kerl in seine Schranken weisen. Im nächsten Moment bereute es Sirrah, dass sie sich zu dieser Dummheit hatte hinreißen lassen. Sie nahm sich vor, mit Arneb zu trainieren. Gegen Tihal ein Pi-Tzi-Spiel zu verlieren wäre eine zu große Blamage.

    „Darf ich zusehen?", fragte Isa.

    Das fehlte gerade noch. „Wir müssen leider los!" Sirrah stand auf und zog ihre Freundin vom Stuhl.

    „Warte, ich gebe dir noch einige von den neuen Äpfeln für deine Mutter mit, sagte Mizar. „Aber esst sie unterwegs nicht alle auf!

    „Ich bin doch nicht Tihal und denke den ganzen Tag nur ans Essen!"

    „Stell dir vor, ich denke hin und wieder auch an etwas

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