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Der Schulball
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eBook533 Seiten6 Stunden

Der Schulball

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Über dieses E-Book

Phil ist längst verheiratet als er eines Abends durch die Begegnung mit seinem alten Lehrer an seine erste Jugendliebe und an die Schulzeit in Klosterbrunn erinnert wird. Die Geschichte erzählt die vielen Irrungen und Wirrungen eines Schülers der 1950iger Jahre und spielt in einem romantischem Klosterstädtchen in Hessen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Juli 2018
ISBN9783742729248
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    Buchvorschau

    Der Schulball - Hasso Sachs

    Die lieben Kleinen

    Der Alltagsstress hatte Phil rasch wieder eingeholt von Nachurlaub keine Spur.

    Phil arbeitete in einer psychiatrischen Klinik als Psychologe und Psychotherapeut. Die Warteliste von Patienten, die für seine Untersuchungen vorgemerkt waren, hatte sich während der 14 Urlaubstage erheblich verlängert. Er fühlte sich nach wenigen Tagen erschöpft und urlaubsreif, aber das ist die Regel bei Angestellten des öffentlichen Dienstes.

    Susanne betrieb eine Allgemeinarztpraxis und hatte hierfür kein Verständnis. Wenn sich jemand ausgepumpt fühlen durfte, dann war sie es!

    Heute Abend wollte Phil, wenn die Kinder zu Bett gebracht waren, eine kleine Zwischenerholung einlegen: Füße hoch, gemütlich Zeitung lesen, eine Gubor- Praline im Mund zergehen lassen und ansonsten auf alle Laster verzichten. Susanne hatte heute Abend Sprechstunde, sie würde nicht vor 20.30 Uhr zurück sein.

    Als er nach Hause kam, ging er zunächst mit Labrador Marco spazieren, fuhr sämtliche Freundinnen beider Kinder nach Hause, räumte die Unordnung, die sich über 2. Stockwerke erstreckte, schimpfend auf und sorgte für das Abendessen. Trotz heftiger Proteste wurden sodann Daniela und Sofia in das Kinderbad gezehrt und gegen ihren Willen oberflächlich gesäubert, mehr war ohne Vollbad nicht drin.

    Endlich lagen die Kinder im Bett. Nun hatte der Vortrag der Märchen zu erfolgen, ein Gewohnheitsrecht, eine allabendlich wiederkehrende Prozedur.

    Phil hatte bereits „Der Mönch und das Vöglein sowie „Das Tränenkrüglein zum Besten gegeben, aber weder Sofia noch Daniela zeigten die geringsten Müdigkeitssymptome. Notgedrungen ließ er sich darauf ein, als unwiderrufliche letzte Zugabe „Die Prinzessin, die nicht lachen wollte" darzubieten. 

    Als die Prinzessin überlaut zu lachen begann und der König darüber vor Freude weinte, schien es geschafft: andächtige Stille verbreitete sich im Kinderzimmer und Phil frohlockte, denn das Abendgebet konnte nun entfallen. Die beiden Kleinen waren eingeschläfert.

    Philipp verspürte ein Gefühl tiefer Befriedigung.

    Er hatte, wie sich sogleich zeigen sollte, die Lage gründlich falsch eingeschätzt: Daniela, unter halb geschlossenen Augenlidern hervor lugend, ergriff urplötzlich ihr Kissen und schleuderte es mit aller Kraft auf die im gegenüberliegenden Bett liegende Sofia. Sofia heulte demonstrativ auf und warf das Kissen umgehend und mit Wucht zurück.

    Phil duckte sich, denn er stand zwischen den beiden, aber es war schon zu spät. Das Kissen klatsche ihm voll ins Gesicht. Diesen Meisterstreich konnte er als Autorität nicht ohne weiteres hinnehmen, die Pädagogik erforderte es, dass er nun mit aller Konsequenz einschritt.

    In den Lärm, der nun von Phil ausging, mischte er Labrador ein: Marco hatte die Brüchigkeit der Abendruhe erkannt und sah seine Chance gekommen, die fröhlichen Spiele mit den Kindern noch einmal aufleben lassen zu können. Marco hatte, wie stets um diese Zeit, vor der Zimmertür gelauert. Mit einer geschickten Bewegung der Schnauze drückte er die nur angelehnte Tür auf und stürmte freudig bellend in das Gewühl: denn inzwischen balgten sich Sofia und Daniela bereits auf dem Boden des Kinderzimmers.

    Marco sprang nun mal auf das eine, mal auf das andere Bett und zwischendurch auf die Kinder. Der Labrador kam erst zum Stillstand, als er Herrchen mitten im Sprung am Schienbein erwischte. Herrchen gab einen unartikulierten Schmerzenslaut von sich und hinkte, tief getroffen, völlig kapitulierend, nach unten ins Wohnzimmer. Im Kinderzimmer war das pädagogische Chaos perfekt.

    Phil ließ sich in einen Sessel fallen, während es im oberen Stockwerk rumpelte, krachte und bellte. Phil schwor mit gefletschten Zähnen, dem Spuk ein Ende zu bereiten, sobald er sich erholt hätte.

    Nach einigen Minuten legte sich der Lärm im oberen Stockwerk schlagartig. Das gab Phil zu denken. Dies war Anlass ernster Besorgnis. Auch der Hund gab keinen Laut mehr von sich.

    Phil wusste, dass er nun keine Zeit mehr verlieren durfte. Er raste die Treppe hinauf, sich den Knöchelschmerz verbeißend. 

    Oben angekommen, sah Phil die Bescherung: die herrliche Bodenvase aus Porzellan von Großmutter Elisabeth lag in tausend Scherben, daneben der Spiegel mit Girlanden im Barockdesign von Tante. Daniela und Sofia hatten schuldbewusst begonnen, die Reste zusammenzukehren.

    Marco saß neben den Trümmern und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte die Tragweite des Geschehens nicht erkannt und freute sich über das lustige Spiel

    „Mama wird begeistert sein. Lass sie nur nach Hause kommen!"

    Phil beschränkte sich bei seiner Verwarnung auf ein pädagogisches Minimalprogramm. Insgeheim freute er sich über das Malheur, denn die geschenkten Objekte waren ihm seit langem ein Dorn im Auge. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man sie ihrem Wert entsprechend behandelt, im Keller verstaut und nur anlässlich des Besuchs der großmütigen Spender hervorgeholt.

    Aus erzieherischen Gründen sagte er aber:

    „Ich bin wirklich sehr traurig darüber, dass die schönen Stücke kaputt sind."

    „Papa, du schwindelst! Daniela führte das Wort. „Erst vorgestern hast Du zu Mama gesagt, es wäre endlich an der Zeit, den ganzen Plunder auf den Müll zu werfen.

    „Was? rief Phil, „das soll ich gesagt haben? Wie kommst Du denn darauf? „Ich hab’s gehört, als ihr Euch nebenan im Schlafzimmer unterhalten habt."

    Phil sagte vorsichtshalber nichts mehr und hatte ein schlechtes Gewissen.

    Immerhin sorgt der Schadensfall für eine gewisse Abkühlung der Gemüter. Dieses Mal begaben sich Daniela und Sofia, ohne noch einmal die Krallen zu zeigen, zu Bett. Haushund Marco ließ sich gleichfalls erschöpft nieder, plumpste auf die Seite und schlief ein.

    Phil ging zum zweiten Mal nach unten. Er holte sich die Tageszeitung und die Pralinen, legte die Füße hoch und begann zu lesen. Die Stille wurde nur durch das gelegentliche Krächzen der beiden Wellensittiche Max und Moritz unterbrochen. Sie schnäbelten miteinander, fiepten und flatterten durch den Käfig.

    Trotz dieser Hintergrundgeräusche wurden Phil bald die Augen schwer. Er mühte sich, die gelesenen Sätze aufzunehmen. Er las Sätze mehrfach, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden. Phil ließ die Zeitung sinken und geriet in eine Art Halbschlaf.

    Bad Klosterbrunn und das Lullus-Gymnasium tauchten wieder aus der Erinnerung auf. Die Begegnung mit Studienrat Schauerlich vor einigen Tagen lief noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Wie stand es wohl um die anderen Pauker?

    Was war aus den Klassenkameraden geworden? Man müsste einmal ein Klassentreffen arrangieren. Ob der alte Klassenlehrer, Studienrat Späßel, heute weit über siebzig, noch lebte? 

    Studienrat Späße! und Mademoiselle Nicole

    Studienrat Späßel widerlegte den Sinnspruch: „Nomen est omen" eindeutig und unverkennbar.

    Späßel war alles andere als ein Spaßmacher, im Gegenteil!

    Besser zu ihm gepasst hätte der Name „Spießer".

    Denn Studienrat Späßel war spießig und bierernst, letzteres vor allem dann, wenn er seinem Beruf als Französischlehrer nachging.

    Die französische Sprache kam ihm bei weitem nicht so flüssig über die Lippen, wie es eigentlich der Fall sein sollte bei einem Pädagogen, der eine Unterprima des sprachlichen Zweiges unterrichtet Wenn Späßel französisch sprach, musste er seine gesamte Konzentrationskraft aufbieten.

    Dass es ihm so schwer fiel, die französischen Gedanken beieinander zu halten, lag möglicherweise an den Folgen eines Autounfalls, der sich vor einigen Jahren ereignet hatte: Späßel war mit seinem stahlblauen VW-Käfer, kurz vor Unterrichtsbeginn, direkt vor der Lullus-Schule, aus Unachtsamkeit auf das Heck eines Kollegen geprallt. Der Kollege und 900 Lullus-Schüler fanden Späßel bewusstlos vor, den Kopf blutig durch die Windschutzscheibe hängend.

    Mit dem Notarztwagen war Späßel ins Krankenhaus gefahren worden und dort 9 Wochen verblieben.

    „Diagnose Dachschaden", sagte Schüler Bratfuß, und dies wäre eine Erklärung gewesen.

    Jedenfalls litt Späßel seitdem unter der Angst, französische Vokabeln könnten ihm während des Sprechens nicht rechtzeitig einfallen. „Vergesslichkeit und Wortfindungsstörungen plagen mich", vertraute er sich einmal einem Freunde an.

    Nicht nur dies! Auch die französische Grammatik stellte für ihn eine echte Herausforderung dar, der er sich nicht immer gewachsen zeigte. Erfreulicherweise förderte dies das Verständnis des Französischpaukers für ähnliche Schwierigkeiten seiner Schüler! 

    Späßel blieb im Unterricht ohne Schärfe oder gar Bösartigkeit, wie dies beispielsweise von Studienrat Schauerlich oder Oberstudienrat Großkotz keineswegs behauptet werden konnte, man fühlte sich wohl bei Späßel und er war rundherum zufrieden, solange er nicht selbst französisch sprechen musste.

    Späßel verlangte nur das Notwendigste von seinen Schülern und selbst das nur gelegentlich.

    Sein Motto war: wenn ich ihnen nichts tue, lassen sie mich auch in Ruhe!

    Auf dieser Basis konnte sich ein einvernehmlicher Modus vivendi zwischen Lehrer und Schülern entwickeln. Es zeigte, dass, wo guter Wille ist, auch ein Weg gefunden werden kann.

    Nun hätte sich an dieser abgeklärten Situation bis zum Abitur der Uls nichts ändern müssen, wäre nicht eines Tages Späßel mit der Mitteilung beglückt worden, demnächst werde eine junge französische Kollegin aus Avignon, Mile Nicole, an die Schule kommen; sie solle die Fremdsprachenpädagogik des Nachbarlandes kennenlernen und werde seinem Unterrichtzugeteilt.

    Studienrat Späßel, von Haus aus ein bequemer Vertreter, sah die Vorzüge einer solchen Regelung: zum einen konnte er sich ein wenig mehr im Hintergrund halten, was seinem bescheidenen Naturell entgegenkam. Zum anderen musste er sich nicht ständig komplizierte französische Sätze ausdenken: so etwas – diese Erfahrung hatte er in der Vergangenheit zur Genüge gemacht – konnte schnell schiefgehen. Für Mile Nicole -als echte Französin- wäre dies alles viel einfacher!

    Studienrat Späßel hatte sich angewöhnt, morgens, nach dem Betreten der Klasse, wie ein echter Franzose „Bon jour, Monsieurs" zu rufen.

    Und die Klasse ließ es – jahrelang einstudiert – fröhlich zurückschallen:

    „Bon jour, Monsieur le professeur!"

    Das klappte wie am Schnürchen! Da gab es keine Pannen! Und wenn Oberstudiendirektor Plisch einen Routinebesuch abstattete, bekam er genau dies zu hören.

    „Sehr ordentlich", kommentierte er den sprachlichen Balanceakt und schüttelte Kollege Späße! die Hand. Nach der Begrüßung jedoch wurde die Sache heikel.

    „Nous avons, eh, vous avez, blobb, also, um es mal auf Deutsch zu sagen: schlagen Sie ihre Bücher auf!"

    Das „Blobb" überfiel Späßel an den unpassendsten Steilen und erklärte sich als rülpserartiges Aufstoßen, das unvermittelt aus der Tiefe seines übersäuerten Magens heraufdrang.

    Herr Studienrat Späßel war ein psychosomatischer Typ3 und Aufregung schlug ihm prinzipiell auf den Magen Zwar war er bestrebt, Stressoren, so gut es ging, fernzuhalten, aber der Mensch denkt und Gott lenkt!

    Denn es ergab sich, als Mile Nicole unverhofft in Späßels französische Stunde hereinschneite, dass sie nicht nur außerordentlich gut französisch sprach – damit hatte er gerechnet-, sondern auch außerordentlich gut aussah, und das brachte ihn aus der Fassung. Halb wonnetrunken, halb bestürzt, sah er sich mit diesem verwirrenden Sachverhalt konfrontiert; er verzeichnete auf der Stelle, dass mit Mile ein hochpotenter Belastungsfaktor in sein von Schule, Mittagsschlaf und Ehealltagstrübsal geprägtes Durchschnittsdasein eingefallen war.

    Das seit vielen Jahren existente Unterrichtseinerlei bekam Holter-die-polter einen so gewaltigen Kick, dass die Kollegen hinter seinem Rücken befremdet zu tuscheln begannen.

    „Was ist nur mit Kollege Späßel los – er hat sich in der letzten Zeit so verändert?"

    Späßel trug plötzlich statt der rostbraunen C & A-Binder rote Blümchenkrawatten, und er besaß mit einem Male einen neuen, beigen Anzug, dessen Hose auf Figur geschnitten war. Das glatt zurückgekämmte, schwarze Haar mit den Geheimratsecken glänzte jetzt noch öliger als zuvor und wurde im Nacken auch nicht mehr ausrasiert.

    Die Koteletten erreichten längenmäßig fast das Ohrläppchen und der maskuline Duft eines bitter-strengen After Shaves umwehte neuerdings den Studienrat

    Späßel zwackte der Magen erheblich, wenn er gewahr werden musste, dass zu einer Zeit, in der im Allgemeinen die Röcke bis zu den Waden reichten, sich Mile Nicole mit einem kniekurzen, engen Lederrock zeigte. 

    Der Magen zwickte noch stärker, wenn er morgens, nach Eintritt in das Lehrerzimmer, Mile Nicole bei einem fröhlichen Gespräch mit einem jungen Kollegen ertappte.

    Und wenn er feststellen musste, dass Mile Nicole während der gemeinsamen Pausenaufsicht, im Zuge ihrer lockeren französischen Lebensart, in unverantwortlicher Weise so weit ging, mit den Primanern der Anstalt herumzuflirten, drehte sich ihm der Magen um.

    So konnte man die Sache drehen und wenden wie man wollte, die pädagogische Hilfe ergab keine rechte Entlastung für Studienrat Späßel.

    Sein träges Naturell rebellierte mit zunehmender Magensekretion. Die Säure Späßels stieg, für alle hörbar, von Tag zu Tag.

    Späßels Strafe der Wollust auf Distanz war eine sich von Woche zu Woche verschlimmernde Gastritis.

    Am Lullus-Gymnasium hatte der Lehrkörper Mile Nicole auf der Beliebtheitsskala, nicht nur bei Späßel, eine Spitzenposition erreicht. Alle Kollegen hofierten Mile und waren bestrebt, Mile Nicole zu beweisen, dass der deutsche Mann ein rechter Gentleman zu sein imstande ist.

    Die Schüler verhielten sich im Unterricht mucksmäuschenstill und verzichteten auf jede Ungehörigkeit. Und Oberstudiendirektor Plisch, der pietistische Schulleiter des Lullus-Gymnasiums, sah ihr den kurzen Rock, sogar die engen Pullover, großmütig nach.

    Man bot sich eifrig an, Mile Mappen und Lehrbücher zu tragen, sobald man ihrer ansichtig wurde; man öffnete galant die Klassenzimmertüren und half ihr – selbstverständlich – in den Mantel.

    Jeder war, so gut es ging, um die deutsch-französische Aussöhnung bemüht.

    Mile Nicole, mit dunklem Lockenhaar, genoss ihre Popularität wie ein Filmstar, der weiß, was er seinen Fans schuldig ist: sie arrangierte sich in freundlicher Verbundenheit und tat dies auf eine Weise, die Wünsche kaum offenließ. Mile gewährte Tag für Tag tiefe Einblicke in die französische Lebensart und jeder – Lehrer wie Schüler- konnte aus erster Hand die Vorzüge der lebenden Sprache und die Faszination des gesprochenen Wortes in Erfahrung bringen.

    Mit der Kraft ihrer ganzen Persönlichkeit bot Mile in plastischer Anschaulichkeit dar, was die französische Natur zu bieten hat. Sie demonstrierte überzeugend, warum die französische Haute Couture führend in der Welt ist: ihr tief ausgeschnittener Pullover war landauf-landab Gesprächsthema und man war sogar in der Lage, mehr als Vermutungen darüber anzustellen, was die gepflegte Französin darunter trägt.

    Seit Mile den Unterricht bereicherte, waren die ansonsten gemiedenen Plätze in der vordersten Bankreihe plötzlich heiß begehrt. Aber während des Schuljahres durften Sitzplatzumgruppierungen nicht stattfinden und so konnten ungerechterweise nur die Streber in der ersten Reihe Gratifikationen entgegennehmen, die ihnen nach einhelliger Klassenmeinung nicht zustanden.

    Einträge Mile Nicoles ins Klassenbuch wurden von den Schülern atemlos verfolgt: Mile Nicole beugt sich -prinzipiell im Stehen schreibend- weit herunter, sehr weit sogar. Denn trotz ihrer Kurzsichtigkeit trug sie aus Eitelkeit keine Brille, wovon ihr auch jedermann abgeraten hätte. Und dann rückte, als Abschluss und Höhepunkt der Unterrichtsstunde, das pralle französische Leben machtvoll in den Gesichtskreis der rundherum Versammelten, die in schwärmerischer Versunkenheit, einschließlich Späßels, sogar die Pausenklingel überhörten, was in der Uls bisher noch nicht vorgekommen war.

    Während Augenpaare, rechnete man die von Späßel mit, das Hin- und Herwogen beglückt auf sich wirken ließen, kam Mile Nicole mit Ruhe und Akribie, ohne Hast und Eile, ihren pädagogischen Pflichten nach. Erst ein späteres Machtwort von Direktor Püsch unterband diese wahrhaft paradiesischen Verhältnisse.

    Er wies, nachdem er wochenlang, nicht ohne klammheimliches Entzücken, die an sich untragbaren Zustände geduldet und aufmerksam studiert hatte, auf die Unzweckmäßigkeit des Tragens bestimmter Kleidungsstücke bei weiblichen Angehörigen des Lehrkörpers in der gymnasialen Oberstufe einer Höheren Lehranstalt hin.

    Da es außer Mile Nicole keinen anderen weiblichen Lehrkörper in der Schule gab, kam es dazu, dass Mile von nun an hochgeschlossen zur Ausübung des Unterrichtes erschien. Aber was will man machen, wenn man vom Schicksal mit außerordentlichen Vorzügen bedacht worden ist? Die Pullover Mile Nicoles, körpernah und anschmiegsam wie ihre Trägerin, rückten die verführerischen Konturen noch schärfer ins Blickfeld der hilflosen Opfer, so dass Plisch keineswegs Entwarnung geben konnte.

    Oberstudienrat Großkotz sah sich außerstande, den französischen Auswüchsen länger schweigend zuzusehen. Er fühlte sich verpflichtet mit Entschiedenheit einzuschreiten.

    In einer ernsten Unterredung wies er Plisch auf die befürchteten Schäden für das sittliche Wohl der Zöglinge hin, für das man sich doch verantwortlich fühlen müsse. Die tagtägliche Versuchung in Form extremer Reizkonstellationen sei der völlig unvorbereiteten Psyche des Schülers nicht länger zuzumuten. Man setze die Kinder Gefahren aus, deren Folgewirkung nicht einfach übersehen werden dürfen.

    „Nein, sagte Direktor Plisch, „ich übersehe überhaupt nichts. Aber ich muss auch auf die deutsch-französische Freundschaft Rücksicht nehmen. Bitte haben Sie hierfür Verständnis, Herr Kollege!

    Oberstudienrat Großkotz wollte diesem Gedankengang nicht folgen. „Ich fürchte, Sie bringen die Verhältnismäßigkeit der Dinge durcheinander, rügte er spitz. „Man kann dem sittlichen Verfall nicht tatenlos zusehen! Ich halte dieses „Laisser-faire für völlig unangebracht Sie werden die Verantwortung für dieses Geschehen übernehmen müssen, ich wasche meine Hände in Unschuld!"

    So blieb die Atmosphäre aufgeheizt und die Sinne wollten sich einfach nicht beruhigen.

    Studienrat Späßel war ein halbes Jahr später soweit, dass der Arzt ihm dringend riet, sich einer Magenoperation zu unterziehen.

    „Ihr Zustand ist bedenklich! Die Geschwüre stehen kurz vor dem Durchbruch.

    Wir müssen sofort operieren!"

    Aber Studienrat Späßel handelte wider ärztlichen Rat und weigerte sich, den erforderlichen Eingriff vornehmen zu lassen. Er entschied sich stattdessen für eine Rollkur.

    Denn ein nie gekanntes Verantwortungsgefühl gegenüber Schule und Schülern hatte sich seiner bemächtigt. 

    „Ich kann meine Schüler jetzt nicht im Stich lassen, Herr Professor! Meinen Schülern sollen keine Nachteile, ein halbes Jahr vor dem Stufenabitur, entstehen. Obwohl es mir niemand danken wird!"

    In der Tat! Nicht einmal Mile Nicole!

    Phil hörte Susannes Auto in die Garage fahren. Kurze Zeit später kam; müde und erschöpft wirkend, zum Wohnzimmer herein. „Na, was hast Du denn gemacht, während ich gearbeitet habe?"

    „Ach, sagte Phil geistesabwesend, „ich habe nur nachgedacht! 

    Philipp und Susanne – eine glückliche und ausgewogene Beziehung

    Am Freitagabend derselben Woche hatte Susanne gegen 21.00 Uhr das Haus verlassen. Sie wollte ihre Schwester besuchen. Bettina, Susannes Schwester, studierte im 19. Semester Germanistik und führte gleichzeitig eine Studentenkneipe. Zwar gab sie an, sie studiere eifrig und mache die Kneipe „nebenher", Freunde und Verwandte hatten aber eher den umgekehrten Eindruck.

    Heute Abend spielte in Bettinas Keiler eine Band, die Susanne unbedingt sehen musste.

    „Pass’ Du schön auf die Kinder auf, ich bin um 01.00 Uhr zurück."

    „Was soll das denn heißen?" Phil war überrascht.

    „Du gehst ja ohnehin nicht mehr mit mir aus, ich brauche aber etwas Abwechslung!"

    „Wenn Du rechtzeitig ein Kindermädchen besorgt hättest, wäre das gemeinsame Ausgehen kein Problem!"

    „Woher soll ich ein Kindermädchen kriegen?"

    „Du kennst doch alle möglichen Leute hier im Ort."

    „Die guten Kindermädchen sind zu teuer, auf die anderen kann man sich nicht verlassen! Du weißt, wie eigen zudem Daniela ist!"

    „Sehr nett!" Phil war sauer.

    „Also, dann mach’s gut, tschüss bis nachher! Du weißt, Du kannst Dich auf mich verlassen! Und Alkohol trinke ich auch nicht!"

    „Nimm das Handy mit, damit ich Dich notfalls erreichen kann!"

    „Das funktioniert sowieso nicht, wir sitzen hier in einem Funkloch! Aber ich habe meinen Euro-Piepser dabei!"

    Und damit war Susanne verschwunden.

    Phil und Susanne kannten sich seit sehr vielen Jahren. Besser nicht nachrechnen, dachte Phil, wie viele Jahre seitdem ersten Kuss verstrichen sind.

    Sie hatten bis zur Heirat 13 Jahre glücklich zusammengelebt Diese Zeit der Prüfung hätte, wäre es nach Phil gegangen, ruhig noch eine Weile weitergehen können. Aber im 13.Jahr war Susanne von ihren Freundinnen aufgewiegelt worden. Samt und sonders verheiratet, war diesen die unkomplizierte, friedlich-beschwingte Beziehung der beiden ein Stachel im Fleisch.

    „Wenn Du jetzt nicht bald etwas unternimmst, wird er Dich eines Tages sitzenlassen und Du hast das Nachsehen, sagte Freundin Juliane. „Er wird sich eine jüngere nehmen! meinte Claudia.

    „Deine ersten Falten sind schon da; ist er erst mal weg, hast Du es als Frau über dreißig nicht leicht, unter die Haube zu kommen!" Christine hatte da so ihre Erfahrungen gemacht.

    Die Mahnungen der Freundinnen verhallten nicht ungehört, Susanne handelte.

    Zunächst begann sie, ihre Schwiegermutter in spe für den Plan einer Eheschließung zu gewinnen. Hat man die Mutter auf seiner Seite, ist alles andere nur noch Formsache!

    „Du hast recht, Susanne, sagte Phils Mutter. „Die ganze Verwandtschaft zerredet sich schon den Mund. Ihr solltet wirklich heiraten!

    Der Möchte-Gern-Schwiegervater sah die Sache auch so. Und anlässlich des nächsten Besuches bei den Eltern redete man Phil ins Gewissen. Auch steuerlich sei alles günstiger. Und er wolle doch mal Kinder, oder nicht? Er sei ohnehin schon fast zu alt, um noch Vater zu werden. Es sei fraglich, ob er überhaupt noch die nötigen Voraussetzungen hierfür habe.

    Philipp willigte ein.

    Seine Freunde - alle verheiratet warnten vor übereilten Schritten.

    „Tu nichts Unüberlegtes, sagte Eckhard, „Du versäumst nichts!

    „Die Ehe läuft Dir nicht weg!" mahnte Janis.

    Phil hörte die Zwischentöne. Aber er sah sich im Zugzwang.

    Susanne beteuerte, erst einmal verheiratet, werde sie sich um den Haushalt kümmern, den zu führen sie jetzt nicht verpflichtet sei. Mit schiefem Blick auf das Durcheinander in Phils Junggesellenwohnung. In der sie seit 12 Jahren lebten.

    „Als Ehefrau hat man ein ganz anderes Verantwortungsgefühl!"

    Susanne entwarf liebliche Bilder familiären Glücks und partnerschaftlicher Harmonie. Ein ungeahntes Elysium werde Phil erwarten, sei erst einmal der entscheidende Schritt getan.

    Phil wurde schwach. Er heiratete kurz entschlossen, ein mulmiges Gefühl in den Wind schlagend, kurz vor Anbruch des 14. Jahres ihrer Freundschaft.

    Die Hochzeitsreise nach Mallorca war ein einziger Traum.

    Danach ging es Schlag auf Schlag.

    Susanne kaufte sich eine Arztpraxis, ein neues Haus wurde gebaut, und dann kamen die Kinder.

    Vor allem aber rückten nun Verhaltensweisen in den Vordergrund der Betrachtung, die Phil in den vergangen Jahren schlicht übersehen haben musste.

    So war ihm nie aufgefallen, dass Susanne morgens nicht aus den Federn kam. Früher war dies kein Unglück gewesen, im Gegenteil: wenn er den Frühstückstisch gedeckt hatte, war er gern noch einmal zu Susanne ins Bett gekrochen, um den Tag fulminant zu starten.

    Jetzt ärgerte er sich auch darüber, dass Susanne abends ihre besten Kleider zusammengeknüllt auf den Stuhl warf – er hatte es bis dahin immer als Ausdruck einer erfrischend unkonventionellen Lebensgestaltung angesehen und es ihrer Leidenschaftlichkeit, die unmittelbar darauf folgte, zugutegehalten.

    Dass sie abends keine Lust hatte, sich abzuschminken und die Kopfkissen mit Farbe beschmierte, war früher kein Malheur gewesen: er wertete dies als Zeichen einer gewissen Unsicherheit und entnahm ihrem Verhalten den Wunsch, auch des Nachts immer hübsch aussehen zu wollen. Auf einmal störte es ihn und er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube.

    Daraufhin reduzierte sie die allnächtlichen Intimkontakte auf ein erträgliches Wochenmaß. Auch hielt sie nicht länger an sich, wenn sie Ärger hochsteigen spürte. Die gelegentlichen Impulsdurchbrüche schrieb Phil nicht ihrem feurigen Temperament zu, sondern er bemängelte es als feuere Selbstbeherrschung und kaum hinnehmbare Unart.

    Susanne kritisierte, Phil gehe seit Monaten nicht mehr mit ihr aus.

    „Wir müssen sparen, sagte Phil mahnend, „wir wollen doch die Hypothek so bald wie möglich abzahlen!

    Susannes Großzügigkeit hatte sich zu seinem Leidwesen zur Verschwendungssucht gemausert. Er machte ihr heftige Vorwürfe, als sie sich eine Pizza mit dem Taxi nach Hause kommen ließ, da sich für den Pizzawirt die 10 km-Fahrt wegen einer Pizza zu 9,80 DM nicht lohnte und er deshalb die Zustellung ablehnte.

    Phil hatte kein Verständnis dafür, dass sich Susanne bei Versandhäusern zentnerweise Garderobe bestellte, während sich ihr Konto ständig im Minus bewegte.

    Phil entwickelte die fixe Idee, die von Susanne mit vollen Händen ausgegebenen Geldmengen durch Sparen wieder hereinholen zu müssen. Er erregte sich darüber, wenn sie selbst an den Tagen, an denen an ein intimes eheliches Beisammensein im Schlafzimmer nicht zu denken war, die Heizung hochdrehte, bis ein regelrechtes Dschungelklima herrschte.

    Wie sehr sie die Erkaltung der Gefühle frieren ließ, demonstrierte sie symbolhaft, in dem sie sich eine Heizdecke anschaffte und Angora Unterwäsche zulegte.

    Das alles aber waren duldbare Marotten; schlimm wurde es erst, als sich Susanne zu einer fanatischen Esoterikerin entwickelte.

    Bedenklich gestimmt hatte ihn bereits vor der Ehe Susannes plötzliche Hinwendung zur christlichen Religion, nachdem unverhofft ihr Zwergkaninchen verschieden war.

    Nun wurden stärkere Geschütze aufgefahren. Susanne entdeckte die „Transzendentale Meditation" und konzentrierte sich, nachdem sie einem indischen Guru im Volkshochschulkurs gelauscht hatte, mehrere Wochen mit ihren Glaubensbrüdern darauf, die kriegerischen Auseinandersetzungen im Hindukusch zur Einstellung zu bringen.

    Nachdem diese Versuche, trotz intensiver Bemühungen, gescheitert waren und sich der aufkeimende Verdacht erhärtet hatte, dass die Meditationsgruppe Verbindungen zur Hare-Krishna-Sekte unterhielt, kam es zu einer gewissen Distanzierung. Susanne bewunderte weiterhin zwar Menschen, die sich für ein karges und entbehrungsreiches, quasi klösterliches Leben entschieden, zog es selbst aber doch vor, sich der Freuden der Zivilisation weiterhin zu bedienen.

    Von anfänglichen Drohungen, sie wolle sich in Indien selbstfinden, war nun nicht mehr die Rede.

    Stattdessen verwies sie des Öfteren auf den Bibelspruch: „Sehet die Vögel unter dem Himmel! Sie säen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch!"

    Sie Schloss ihre Praxis für immer, flog nach Südafrika zu einer Freundin und kehrte drei Wochen später, frisch gestärkt, wieder zurück. Nun stürzte sie sich mit Eifer in die Arbeit und pries die Vorsehung, die ihr davon abgeraten hatte, die Praxis gleich zu verkaufen.

    Eine mehrere Monate anhaltende Magen-Darm-Problematik führte zu einem kurzen Rückfall in indische Verhältnisse: sie bestand darauf, ayurvedisch zu kochen.

    Ais Phil ein von ihr zubereitetes Mai als weniger schmackhaft bezeichnet hatte, kippte sie das Menü zutiefst beleidigt in den Müll und trug sich noch einmal kurz mit dem Gedanken, Guru Maharishi in Indien persönlich aufzusuchen. Aber es blieb bei dieser leeren Drohung.

    Infolge der gesunden ayurvedischen Küche magerte Phil bis zum Skelett ab und vermochte sich nur noch notdürftig mit mittäglichem Kantinenessen auf den Beinen zu halten.

    Erst als er heimlich Zusatzmahlzeiten einnahm und daraufhin innerhalb kurzer Zeit regelrecht aufblühte, gleichzeitig, um Susanne bei Laune zu halten, die ayurvedische Küche aufs höchste pries, verfügte Susanne, dass eine Rückkehr zur deutschen Hausmannskost geboten sei.

    Da sich bei Susanne die positiven Folgen der ayurvedischen Küche nicht bemerkbar gemacht hatten und ausfallende Haare und brüchige Fingernägel Beweis dafür lieferten, dass mineralische Defizite im Körperhaushalt überhandgenommen hätten, die einer psychischen Gesundung entgegenstünden, stieß sie zum Glück in einer Frauenzeitschrift auf die Mitteilung, dass in solchen Fällen eine Haaranalyse diagnostische Aufklärung und eine speziell zubereitete Diät Heilung und Gesundung garantiere.

    Nach dem Studium einschlägiger Literatur, die sie als Ärztin einer kritischen Würdigung unterzog, nahm sie Kontakt mit einem Labor auf, in dem Haarmineralanalysen vorgenommen wurden.

    Susannes Untersuchungsergebnis war eine einzige Katastrophe. Es war klar, dass der Speiseplan völlig umgestellt werden musste.

    Aus Angst vor einer neuerlichen Mangelernährung protestierte Phil dieses Mal heftig. Aber es nützte ihm nichts. Es spornte nur Susannes Diagnosefieber an. Ohne auf zartbesaitete Gefühle Rücksicht zu nehmen oder sich auf weitere Diskussionen einzulassen, griff sie sich eines Abends Phil und schnitt ihm brutal die schönste Locke fronto-parietal ab.

    „Du wirst sehen, wie krank Du bist, ohne es zu wissen!"

    „Wenn ich es nicht merke, macht es doch nichts!"

    „Du wirst mir noch einmal dankbar sein. Jetzt besteht vielleicht noch die Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern."

    Sie trug die Locke triumphierend davon.

    Das Analyseergebnis verriet, dass Philips völlig vergiftet war und man es als Wunder bezeichnen konnte, dass er überhaupt noch unter den Lebenden weilte.

    Er war randvoll mit Schwermetallen.

    Susanne diskutierte mit ihm nächtelang den neuen Diätplan und ließ nicht gelten, dass er sich, trotz seiner Vergiftung, zuletzt pudelwohl gefühlt hatte. „Das kann sich schnell ändern", meinte sie düster.

    Und auch Phil befürchtete das, wenn ersieh auf die neue Küche einließe.

    Aber sein Protest verhallte, wie so oft, ungehört.

    Einmal dabei, den Ehemann zu sanieren, nahm Susanne die Arthrose ihres Mannes unter die Lupe. Um die Arthrose günstig zu beeinflussen, wurde Phil Bewegung verordnet.

    Da traf es sich gut, dass die Kinder drängten und sich einen Hund wünschten. Phil sträubte sich lange, aber er unterlag. Der Hund, Labrador Marco, wurde in einer Nacht- und Nebelaktion angeschafft.

    Die Kinder liebten den Hund abgöttisch, aber für Pflege und Auslauf blieb Phil zuständig.

    Susanne erklärte, sie hätte sich, wäre es nach ihr gegangen, für eine zierliche Hunderasse entschieden, zum Beispiel Yorkshire-Terrier oder Mopps.

    Da Phil aber den Ausgang mit einem solch mickrigen Geschöpf empört von sich gewiesen habe, sei er nun selbst schuld, wenn sie mit dem Hund nicht auf die Straße gehen könne. Der Hund mit seiner ungestümen Kraft ziehe sie ja unter das nächste Auto! Auch sei der Hund von ihm alles andere als gut erzogen. „Gassi-Gehen" könne sie mit so einem Monster nicht nachts schon mal gar nicht!

    „Ich fürchte mich in der Dunkelheit – als attraktive Frau ist man ja nirgendwo vor einem Sexualverbrecher sicher!"

    Es verstand sich von selbst, dass Phil den Hund abends um 23.30 Uhr noch einmal hinausführen und morgens, bevor er zur Arbeit fuhr, um 06.30 Uhr ein Häufchen machen lassen musste.

    Tagein, tagaus.

    Und wehe, Marco hatte keine geregelte Verdauung! Susanne winkte ab. Sie sah das Problem nicht

    „Na gut, dann kommst Du halt ein paar Minuten zu spät zur Konferenz – Du wirst nicht gerade viel versäumen!"

    In der Tat

    Leider wurde Susannes Auffassung nicht von dem soeben berufenen, neuen Klinikchef geteilt, der unter der Vorgabe, alte Zöpfe abschneiden, autoritäre Verkrustungen aufbrechen und liberale Führungsformen in den Klinikbetrieb einführen zu wollen, die uneingeschränkte Macht übernommen hatte.

    Neue Besen kehren gut und es ist ihnen auch recht, wenn sie dabei möglichst viel Staub aufwirbeln, damit man sieht, wie effektiv sie arbeiten.

    Das bedeutete für den internen Betrieb, dass zunächst die dreimal in der Woche stattfindende Konferenz, zwecks besserer Disziplinierung, täglich angesetzt wurde. Und zum Fall Breitenbach äußerte sich der Herr Professor nur kurz, mit dem ihm eigenen, neuen Demokratieverständnis: „Entweder Sie erscheinen in Zukunft pünktlich oder Sie haben die Freiheit, Ihren Hut nehmen zu dürfen!"

    Ob Susanne den Hund nicht wenigstens ab und zu abends, vor der beleuchteten Hofeinfahrt, das Bein heben lassen könne? Oder morgens, das wäre eine große Hilfe, zumal der Beginn ihrer Sprechstunde ohnehin erst relativ spät, auf 09.30 Uhr angesetzt sei?

    Nein, leider, das sei unmöglich! 

    „Ich brauche mehr Schlaf als Du, pflegte sie zu sagen. „Ich muss härter arbeiten als Du, es ist nicht damit getan, dass ich meine Sprechstunden abhalte. Ich habe auch noch jede Menge Hausbesuche! Und außerdem willst Du doch auch, dass ich gut aussehe. Da darf ich auf meinen Schönheitsschlaf nicht verzichten!

    Phil betrachtete seine grün-schwarzen Ringe unter den Augen und klopfte sich verzweifelt an seinen müden Schädel Das Schlafdefizit begann sich auszuwirken.

    Wenn er morgens mit hängenden Ohren, kaputt und zerschlagen, im Gegensatz zu Marco ein wahrhaft geprügelter Hund, zu früher Stunde das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren, lag seine treue -wenigstens das, dachte er- Ehehälfte noch weitere zwei Stunden im Bett und sorgte für ihre Schönheit!

    Der Hund zog sich erleichtert in seine Ecke zurück, um weiter zu dösen, und Phil drückte auf das Gaspedal, um einer drohenden Abmahnung zu entgehen.

    Der Phil befohlene, neue Tagesrhythmus wollte die Lebensgeister nicht recht beflügeln. Phil schimpfte, grummelte und war mit seinem Dasein unzufrieden. Ein gänzlich neuer Zug, der Susanne in Erstaunen versetzte und sie nachdenklich stimmte.

    Sie ließ sich ein Horoskop über Phil erstellen, von einer Astrologin, einer Bekannten ihrer Schwester, um abzuklären, warum Phil urplötzlich so verdrießliche Wesenszüge an den Tag legte.

    Es stellte sich heraus, dass Phils astrologische Konstellationen von einem Glücksfall weit entfernt waren und die Sternzeichen Krebs und Schütze leider überhaupt nicht zusammenpassten. Wasser- und Feuerzeichen sollten sich besser aus dem Wege gehen!

    „Das erfahre ich Jahrzehnt spät murmelte Phil zerknirscht.

    Susanne vertrat die Ansicht, eine vorübergehende, räumliche Trennung würde fürs erste die aufkommenden Spannungen mildern.

    Das war leichter gesagt als getan!

    Da man in häuslicher Gemeinschaft lebte, ließ es sich nicht verhindern, dass man seiner mehrfach am Tage ansichtig wurde. Aber man wollte nichts unversucht lassen, um der unseligen Konstellation, so weit wie möglich, entgegenzuwirken.

    Vorübergehend schlief Phil in der Einliegerwohnung und aß im Gästezimmer. Aber ein Minimalkontakt blieb bestehen und es wurde rasch deutlich, dass es so nicht weitergehen konnte!

    Zum Glück wurde Susanne auf das Buch einer indianischen Schamanin aufmerksam, in dem klipp und klar ausgeführt war, dass man auch bei Unvereinbarkeit der Seelen, mit etwas Geduld, spirituelle Nähe entwickeln könne.

    Das daraufhin von Susanne unterbreitete geistige Angebot, doch wieder gemeinsam zu schlafen, wurde von Phil begierig aufgegriffen.

    Aber wenn Phil geglaubt hatte, das ärgste sei überstanden, merkte er bald, dass für voreilige Triumphgefühl kein Raum war: die neue Partnerschaftlichkeit blieb auch zukünftig außerordentlichen Bewährungsproben unterworfen.

    Susanne hatte die Angewohnheit, im Schlafzimmer bis spät in die Nacht zu lesen.

    Während sich Phil, der bei Licht nicht einschlafen konnte, übermüdet im Bett herumwälzte und erfolglos darum bat, das Lesen so einzurichten, dass ihm wenigstens noch fünf Stunden Nachtschlaf blieben, lutschte Susanne ein Sahnebonbon nach dem anderen, nahm zwischendurch einen tiefen Schluck Selterswasser zur Entschlackung -zwei bis drei Flaschen standen stets im Nachtschrank- und raschelte mit dem nächsten Bonbonpapier.

    „Jeder hat ein Recht darauf, sich selbst zu entwickeln. Du sagst oft genug, dass etwas mehr Bildung nicht schaden kann. Nun sei froh, dass ich so bildungshungrig bin und selbst zu nachtschlafender Zeit das Bedürfnis zu lesen verspüre. Du weißt, dass ich tagsüber nicht zum Lesen komme. Aber in Wahrheit ärgert es Dich natürlich, dass ich meinen Horizont erweitern möchte!"

    Phil versicherte, dem sei ganz und gar nicht so; die Hundespaziergänge und das nächtliche Lesen -beides zusammen könne er jedoch auf Dauer nicht verkraften.

    „Du denkst fortwährend an Dich! Ich soll mich immer anpassen! Du bist einfach zu autoritär! Zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen der Mann bestimmt hat, wo es langgeht!"

    Susanne raschelte aggressiv mit ihren Bonbonpapieren und rutschte in eine komfortable Leseposition.

    Phil wälzte sich auf die andere Seite des Bettes.

    Jeden Abend pflegte Phil die Kleidung für den nächsten Tag auf einem Stuhl im Bad zurechtzulegen, damit er morgens auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer huschen und sich, ohne Susanne aufzuwecken, fertigmachen konnte.

    Aber wehe, er hatte am Abend aus Versehen das falsche Oberhemd herausgesucht und musste noch einmal zurück ins dunkle Schlafzimmer, um im Kleiderschrank nach dem richtigen zu tasten!

    Dann herrschte Susanne ihn übellaunig und ungnädig von ihrer Lagerstatt aus an, es sei eine kolossale Rücksichtslosigkeit ihr gegenüber, sie zu so früher Stunde aufzuschrecken. Er wisse doch, wie lange sie gelesen habe, ein paar Stunden Ruhe benötige sie nun wirklich, aber Rücksichtnahme habe er bei seiner Mutter, die ihn als Einzelkind unglaublich verwöhnt habe, wohl nicht gelernt! 

    Um ihr Schlaf- und Ruhedefizit zu decken, lag Susanne in jeder freien Minute im heizdeckengewärmten Bett, an Wochenenden auch tagsüber, angekleidet, da sie leicht fröstelte, die Bettdecke bis zur Kinnspitze hochgezogen, die Heizung bis hinten aufgedreht, ohne auch nur ein unnötiges Schweißtröpfchen zu vergießen.

    Sie wolle ja nicht abstreiten, dass aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung eine gelegentliche Temperaturregulationsstörung bei ihr vorliegen könne. Ein fürsorglicher Ehemann hätte von sich aus dafür gesorgt, dass sie in dem chronisch ausgekühlten Hause nicht zur Eissäule erstarren müsse. Und dass sie nach wie vor in Phils Gegenwart fröstelt, sei auch kein Zufall! Das solle er sich als Psychologe einmal durch den Kopf gehen lassen!

    Überhaupt quäle er sie Macht für Nacht mit seinem Schnarchen. Es reiche schon, wenn der Hund vor der Schlafzimmertür schnarche.

    „Zwei Schnarcher halte ich nicht aus- wundere Dich nicht, wenn ich Dich, sobald Du zu röcheln beginnst, unsanft wecke!"

    Phil fiel ein, dass er heute Nacht davon geträumt hatte, beim Besuch des Pergamon-Museums in Berlin sei eine weiße Marmorstatue umgekippt und ihm auf den Kopf geschlagen!

    „Jawohl, schrie sein Eheweib, „heute Nacht habe ich Dir das Kissen über den Kopf gezogen. Dein Schnarchen war wirklich unausstehlich! Und Du kannst von Glück sagen, dass ich es dabei habe bewenden lassen!

    Eine Woche später entdeckte Susanne den Psychologen und Philosophen Murphy und begann ab sofort „positiv" zu denken.

    Im positiven Denken, wie es Murphy fordere, liege der Schlüssel zum Glück. Positives Denken beruhige. Alles, selbst diese Beziehung, ließe sich mit positivem Denken ertragen.

    „Was ich befürchtet habe, ist eingetreten, sagte Susanne. „Ich habe einen lieblosen Ehemann, weil ich mich zu sehr auf Deine zahllosen, negativen Seiten konzentriert habe. Das musste ja in einer Sackgasse enden. Ab sofort werde Ich mich darum bemühen, auch an Dir etwas Positives zu entdecken!

    Sie entdeckte, dass Phil eigentlich nach wie vor im Bett gut in Form war. Das beflügelte maßgeblich das eheliche Liebesieben

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