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Meine allerbeste Feindin
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eBook361 Seiten5 Stunden

Meine allerbeste Feindin

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Über dieses E-Book

Annetts Freude ist riesig, als ihre Schulfreundin Billy nach vielen Jahren aus Kanada zurückkehrt. Noch genauso lustig und durchgeknallt wie früher! Da die Ärmste nicht mal eine Bleibe hat, ist für Annett schnell klar: Das Gästezimmer muss hergerichtet werden. Billy versteht sich auch auf Anhieb mit Annetts Mann Bernd und den Jungs. Sehr gut sogar. Viel zu gut eigentlich, wie Annett bald feststellen muss.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Mai 2017
ISBN9783742788023
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    Buchvorschau

    Meine allerbeste Feindin - Conny Schwarz

    Prolog

    Es gibt Tage, da stimmt einfach alles.

    Das sehe ich schon beim Augenaufschlagen, wie das Schicksal mir wohlwollend zuzwinkert. Und mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen kuschle mich noch einmal eng an den warmen, weichen Körper, der neben mir liegt, bis der leise brummt. Andere Geräusche höre ich hingegen erfreulich lange nicht. Bis ich sie schließlich doch vermisse. Kurz bevor ich nervös werde, stehe ich auf – selbstverständlich mit dem richtigen Fuß – und sehe nach, was meine Jungs so treiben. Vorsichtig öffne ich die Tür zum Kinderzimmer und spähe durch einen winzigen Spalt hinein.

    Boris und Igor, meine kleinen Racker, lümmeln sich auf dem grünen Teppichboden ihres geräumigen Zimmers unter der Dachschräge herum und bauen, derart vertieft, dass sie mich gar nicht bemerken, aus Lego- und Duplosteinen eine kunterbunte Ritterburg. Mit einem erleichterten Seufzer schließe ich langsam und leise die Tür und krieche noch einmal zurück ins warme, weiche Bett.

    Herrlich warm und weich sind auch die Schrippen an diesen Morgen, so dass sie beim Aufschneiden kein bisschen bröseln. Ausnahmsweise redet Bernd während des Frühstücks mit mir, während die Jungs ohne einen Mucks ihr Müsli löffeln. Da sein erster Außentermin abgesagt wurde, bietet Bernd mir an, die Kinder in Schule und Kita zu bringen. Das ist natürlich nicht nötig und das sage ich ihm auch – kann jedoch sein freundliches Angebot unmöglich ablehnen.

    Sind meine Männer aus dem Haus, genieße ich für fünf, sechs oder gar sieben Minuten diese betörende Stille, die sie mir hinterlassen, bevor ich – nun ja – den Fernseher einschalte. Denn während das sympathische Moderatorenpaar vom Morgenmagazin aufgedreht das Neueste aus Politik, Kultur und Klatsch bequasselt, bügeln sich die Hemden wie von selbst.

    Um neun wird es höchste Zeit für einen Cappuccino aus unserm neuen Hightech-Kaffeeautomaten, mit dessen Bedienung ich diesmal auf Anhieb klarkomme. Mit meiner dicken, weißen Lieblingstasse, die ich mit beiden Händen umklammere, als würde ich mich an ihr festhalten wie an einem Rettungsseil, so wie das zerbrechlich wirkende Schönheiten in amerikanischen Serien gern tun, trete ich durch die hintere Tür über die Terrasse hinaus in mein kleines Paradies. Die Sonne strahlt mich fröhlich an, überall grünt und blüht es. Bienen summen aufgedreht, Vögel zwitschern übermütig.

    Mit der Tasse in den Händen laufe ich ein paar Schritte durch den Garten und konstatiere, dass an der alten Pflaume ein toter Ast abgesägt und das Gemüsebeet ausgejätet werden muss, ansonsten aber alles in schönster Ordnung ist. Genau wie drinnen im Haus, wo ich erst gestern komplett reinegemacht habe und jeder Winkel entweder nach Zitronen oder Orangen duftet.

    Zufrieden hole ich mein pinkfarbenes Netbook und setze mich damit auf die Hollywoodschaukel. Einen verwirrenden Augenblick lang kokettiere ich mit der Idee, ob ich mir nicht einen heimlichen Liebhaber zulegen sollte. So einen Kerl wie aus der Pralinenwerbung, mit schokobraunen Haaren, blauen Augen und absurd weißen Zähnen, die einen kräftig in den Nacken oder gar in den nackten Hintern beißen könnten, was prima in meinen perfekten Tag passen würde! Zumindest als Fantasie. In der Realität würde mich eine heimliche Affäre vermutlich organisatorisch und emotional komplett überfordern.

    Nachdem ich den Pralinenmann mental abserviert habe, wage ich mich endlich ins Internet, um dort also nicht nach attraktiven Kerlen, sondern nach ebensolchen Jobs zu suchen. Igor wird bald sechs und Boris ist auch schon drei. Die Einschläge werden dichter. Als ginge sie es irgendetwas an, erkundigen sich sämtliche Leute um mich herum ungeduldig danach, wann ich endlich wieder arbeiten gehe: Erzieher, Mütter, Lehrer, Verwandte, Bekannte, die Frisörin – neulich sogar der Postbote. Und Bernd, der als Versicherungsmakler nicht schlecht verdient, hätte auch nichts dagegen, wenn ich „einer kleinen Beschäftigung" nachginge, die zusätzliches Geld in die Haushaltskasse spült. Höchste Zeit also, sich darum zu kümmern. Und zwar eher heute als morgen, denn jünger wird man bekanntlich leider nicht.

    Eine Stelle als „Office Managerin oder „Assistentin der Geschäftsführung wäre nicht übel. Obwohl ich mir bewusst bin, dass ich nach meinen überzogenen Babypausen nicht die allerbesten Karten für einen anspruchsvollen Job habe, glaube ich fest an mich. Einmal aus Prinzip, weil es ohne Glauben nun mal nicht geht. Und zum andern habe ich auch objektive Gründe für eine gute Portion Zuversicht, die da wären: Eine Kaufmännische Ausbildung, BWL-Studium, drei Fremdsprachen, fit am PC, diverse soft skills nicht zu vergessen. Manchmal sehe ich mich bereits in einem olivgrünen Kostüm mit klappernden Absätzen durch ein helles Großraumbüro eilen, im Arm wichtige Papiere, um sie meinem erfolgreichen und zugleich lustigen Chef zur Unterschrift vorzulegen. Das wär’s!

    Nachdem ich zwei oder drei hoffnungsvolle Onlinebewerbungen in den Äther geschickt habe, lege ich das Netbook beiseite und hole den hölzernen Rechen aus dem Schuppen. Obwohl es nicht nötig ist, harke ich die Wiese ein wenig, denn dabei kommen mir einfach die besten Ideen. Und richtig. Keine drei Minuten halte ich die Harke in der Hand und schon fällt mir ein, was ich am Abend kochen werde: Lasagne mit Mozzarella und Hackfleisch!

    Denn auch an einem perfekten Tag wie diesem wird mir das Kochen kaum erspart bleiben, sind doch meine Männer so verwöhnt, dass ich ihnen abends unmöglich Wurstbrot oder Käsestulle vorsetzen kann. Schuld daran bin ich selbst. Obwohl ich oft und gern über die Umstände schimpfe, die mir das allabendliche Kochen bereitet, tue ich es nämlich ausgesprochen gern.

    Also schreibe ich fix eine Einkaufsliste und springe in meinen roten Corsa, um zu meinem Lieblings-Biosupermarkt zu fahren. Während ich die Danziger Straße runtersause – wo selbstverständlich alle Ampeln auf Grün stehen – fällt mir plötzlich ein, dass heute um zwölf der neue Zumba-Kurs beginnt! Da ich zufälligerweise meine Sporttasche im Kofferraum wähne, biege ich sofort links ab in Richtung Alex und mache einen Abstecher in mein Fitnessstudio.

    Beim Zumba angekommen, staune ich nicht schlecht. Wen sehe ich da, als ich in den Kursraum betrete? Meine Freundin Katrin, die sich spontan einen Tag freigenommen hat, einfach so. Wir platzieren uns nebeneinander, so dicht es geht, hüpfen ausgelassen und schwingen die Hüften nach Latino-Art, powern uns so richtig aus.

    Danach schlendern wir, angenehm erschöpft, in unser neues Lieblingscafé in der Oderberger Straße, wo man dabei zusehen könnte, wie die Kaffeebohnen in alten Maschinen frisch geröstet werden. Wir aber setzen uns lieber mit unserm Cappuccino draußen auf eine Holzbank, in die Sonne.

    Da überrascht mich Katrin. Mit zart geröteten Wangen berichtet sie ausnahmsweise nicht von ihrer Arbeit, sondern von einem geheimnisvollen Lars, den sie über ein Dating-Portal kennengelernt und sogar schon, nach nur drei Tagen, im echten Leben getroffen hat. Sie spricht auch nicht wie sonst so kurz und knapp, als müsse sie eine Kurznachricht verfassen, sondern schwärmt in liebevoll verschachtelten Sätzen von diesem Mann, der aussieht wie Javier Bardem, ein Saab-Cabrio fährt und angeblich sogar einen ausgeprägten Kinderwunsch hat, sodass ich vor Verblüffung über dieses Mannwunder meine Einkäufe fast vergesse.

    Mit der prickelnden Neugier im Herzen, wie es mit diesen beiden derart verschiedenen Menschen weitergehen mag, hauche ich meiner Freundin zum Abschied zwei Küsschen auf die Wangen und stelle zufrieden fest, dass mir noch hinreichend Zeit für einen gemütlichen Bummel durch den Biosupermarkt bleibt.

    Gegen vier hole ich meine Jungs von Kindergarten und Schulhort ab. Vor Freude, mich endlich wiederzusehen, springen die beiden ausgelassen wie junge Hunde an mir hoch. Nachdem sie mir übersprudelnd lustige Anekdoten aus ihrem aufregenden Tag erzählt haben – diesmal alle beide, sogar der stille Boris – erklären sie mir mit lauter, keinen Widerspruch duldender Stimme, dass sie für diesen Nachmittag – ausnahmsweise ebenfalls beide – mit Freunden verabredet sind. Ich schmolle angemessen, dann bringe ich Boris zu Lukas und Igor zu Max. Zwischen Tür und Angel schwatze ich kurz mit den gestressten Müttern, denen ich selbstverständlich anbiete, dass die Jungs auch gern in unserm Garten spielen könnten. Wobei ich genau weiß, dass diese Übermuttis mein Angebot auf keinen Fall in Erwägung ziehen werden.

    Vergnügt darüber, aus heiterem Himmel noch eine gute Stunde für mich allein geschenkt bekommen zu haben, überlege auf dem Heimweg, was ich mit diesen sechzig, siebzig Minuten netto so alles anstellen könnte: Mich mit einem Schmöker von Lily Brett auf die Wiese legen. Im Fernsehen schräge Dokusoaps mit armen, dicken oder gestörten Menschen ansehen. Oder lieber Spanischvokabeln pauken, um im nächsten Urlaub vor der Familie mit meinen Sprachkenntnissen brillieren zu können. Oh ja, ich habe die Wahl – und das ist das Schönste daran! Und so schwanke ich hin und her, bis die Stunde um ist und ich am Ende nichts von alldem getan, sondern mir lediglich den einzig wahren Luxus gegönnt habe: Zeit zu verplempern.

    Als ich die Jungs von ihren Freunden abhole, sind sie vom Herumtoben so knülle, dass sie sofort ins Bett wollen. Bernd, der heute ausnahmsweise früher nach Hause kommt, hält sie noch bis zum Abendessen bei Laune, während ich Hackfleisch anbrate, Mozzarella zerlege und die Lasagneplatten sorgfältig übereinanderschichte. Zwischendurch muss ich hinunter in den Keller, um die Bodenvase hochzuholen – für die riesige Sonnenblume, die Bernd mir mitgebracht hat, einfach so!

    Nachdem meiner Familie das Abendessen draußen auf der Terrasse „superlecker geschmeckt hat, was diesmal von allen dreien offen zugegeben wird, machen Bernd und ich die Jungs, die heute besonders pflegeleicht sind, bettfertig. Katzenwäsche, Zähneputzen, Gute-Nacht-Geschichte. Ausnahmsweise sucht Igor eine dieser wunderbar schrulligen Erzählungen von Janosch aus und nicht zum hundertsten Mal das humorfreie Buch mit den sprechenden Lokomotiven. Mit großem Vergnügen und bühnenreifer Betonung lese ich den Kindern also „Oh, wie schön ist Panama! vor.

    Just in dem Moment, als Tiger und Bär in dem Glauben, Panama gefunden zu haben, wieder daheim angekommen sind, und ich gerade filmreife Gute-Nacht-Küsschen an Boris und Igor verteilen will, höre ich durchs Fenster einen leisen Knall, der ein ahnungsvolles Lächeln auf mein Gesicht zaubert. Und ich habe mich nicht getäuscht. Als ich wenig später hinaus auf die Terrasse trete, steht eine Flasche Freixenet Cordon Negro auf dem Tisch. Bernd reicht mir eins der bunten Muranogläser, die wir aus dem letzten Toskanaurlaub mitgebracht haben und will mit mir anstoßen.

    Natürlich erwarte ich, dass er wie immer auf den „Auf den Weltfrieden! trinken will, was er sich aus seinem Lieblingsfilm „Und täglich grüßt das Murmeltier abgeguckt hat – und werde überrascht.

    „Auf uns!", sagt Bernd feierlich, lässt die Gläser zärtlich klingen und guckt mir dabei so tief in meine braunen Augen wie seit Jahren nicht. Und was immer er dort entdeckt, es bringt ihn zum Strahlen.

    „Und auf den Weltfrieden!", ergänze ich mit klopfendem Herzen, weil ich doch weiß, wie sehr der meinem Mann am Herzen liegt.

    Und wie immer an einem romantischen Abend wie diesem dreht Bernd das quietschende Dach der Hollywoodschaukel bis zum Anschlag nach oben. In weichen Polstern versunken blicken wir gemeinsam hoch in den funkelnden Sternenhimmel und suchen dort oben nach Sternschnuppen, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Denn was sollten wir uns noch wünschen? Wir haben doch alles.

    Und trotzdem fehlt da was.

    Sogar an Tagen wie diesen.

    August

    1 Trotz der Hitze schlendre ich wie jeden Dienstag mit meinen Jungs über den Wochenmarkt unseres Viertels. Erschöpfte Verkäufer schwitzen unter den Planen ihrer Buden vor sich hin und wir schleichen schlapp an ihnen vorbei durch die pralle Sonne. Nur selten streift uns der Schatten eines Baumes wie eine angenehme, aber flüchtige Erinnerung.

    Boris sitzt im Sportwagen, den ich mit meiner Rechten vor mir herschiebe, während sich Igor, an meiner Linken hängend, hinterherzerren lässt. Mit routiniertem Blick hangle ich mich an den Ständen entlang und taxiere das Obst und Gemüse. Die Gurken sind knackig und nicht einmal teuer, bei dieser Hitze aber bin ich einfach zu träge, einer einzigen Gurke wegen das Portemonnaie aus der Tasche zu kramen. Genervt schleppe ich mich weiter und blicke nach vorn.

    Und plötzlich habe ich eine Erscheinung.

    Vor dem letzten Stand, an dem fair gehandelter Kaffee aus Südamerika angeboten wird, entdecke ich ein vertrautes Gesicht. Große grüne Augen blicken stumpf unter braunem Zottelhaar hervor, die etwas eingefallenen Wangen sind blass, die Nasespitze aber weist keck nach oben.

    Genau wie bei Billy.

    Ein freudiger Schreck durchzuckt mein Herz wie ein elektrischer Schlag, so dass es zu rasen beginnt. Zugleich flutet heißes Glücksgefühl meinen bereits überhitzten Körper. Verwirrt starre ich auf diese Frau, gepeinigt von der ernüchternden Gewissheit, dass ich meinen Augen auf keinen Fall trauen darf.

    Denn erstens lebt Billy in Kanada.

    Zweitens ist es mir fast peinlich, meine Freundin mit dieser Frau verwechselt zu haben, die aussieht wie eine billige Kopie von ihr.

    Drittens beruhigt mich daher, dass die müden Augen dieser Person, während sie ihren Kaffee aus dem braunen Pappbecher schlürft, einfach durch mich hindurchgucken, ohne dass auch nur ein Funken Wiedererkennen in ihnen aufblitzt.

    Punkt drei aber muss ich leider wieder von der Liste streichen. Denn wie sollte mich Billy wiedererkennen?! Die Annett von damals existiert längst nicht mehr. Allein, dass ich ein Kleid trage, noch dazu ein farbenfrohes mit verspieltem Muster, würde Billy nicht glauben können. Dazu eine richtige Frisur mit freundlichen blonden Akzenten, bei deren Anblick sie sicher verzweifelt ihre braunen Zotteln schütteln würde. Und meine eleganten Stilettos würden die alte Freundin regelrecht schockieren.

    Ja, ich bin eine Andere geworden und daher nicht leicht wiederzuerkennen. Nicht einmal für die allerbeste Freundin!

    Deshalb überlege ich, ob ich diese Frau, die Billy so verdammt ähnlichsieht, nicht selbst ansprechen soll. Und sei es bloß, um die Gewissheit zu haben, dass sie es nicht ist. Während ich so aufgewühlt wie unschlüssig im Weg herumstehe, lutscht Boris zufrieden an seiner Waffeltüte, deren Inhalt, eine Kugel Schokoeis, er bereits ziemlich gleichmäßig auf Gesicht und Kinderwagen verteilt hat, und Igor bemüht sich gerade, mir ebenso eindringlich wie ausführlich zu erklären, wann und wieso wir welchen Spielplatz aufsuchen müssen.

    Plötzlich wirft die mir so unheimlich vertraute Fremde ihren Pappbecher in den Müll und macht einen Schritt nach vorn. Im Nu wird sie von der Menge verschluckt, die sich trotz der Hitze unermüdlich zwischen den Ständen entlangwälzt. Abrupt reiße ich den Kinderwagen herum, so dass Boris seine Waffel aus der Hand fällt und er zu plärren beginnt, egal, ich zerre auch den protestierenden Igor hinter mir her und schieße mit der Kinderkarre in jede Lücke, die sich anbietet, um voranzukommen.

    Ich muss unbedingt wissen, ob diese Frau Billy ist.

    Mit den Kindern im Schlepptau werde ich sie jedoch nie einholen, stelle ich resigniert fest. Also bleibe ich stehen und schreie, so laut ich kann, „Billy!" über den Markt, was so verzweifelt klingt, dass die Leute um mich herum stehenbleiben, um mir, mit besorgten Gesichtern, Platz zu machen. Sicher denken sie, mir wäre eins meiner Kinder abhandengekommen.

    Billys bleiches Gesicht aber bleibt verschwunden. Also war es vermutlich doch bloß eine Täuschung. Eine irre Ähnlichkeit. Oder gar eine Halluzination.

    Alles andere wäre auch absurd.

    Meine alte Freundin Billy lebt schließlich in Kanada, und zwar seit mehr als zehn Jahren. So lange schon!, staune ich. Nach ihrer Auswanderung riss der Kontakt zu ihr ab, so schnell und leicht, als wäre unsere Freundschaft bloß eine bunte Papierschlange gewesen. Aber Billy musste sich halt in Kanada durchschlagen, was offenbar nicht so leicht war. Und ich lernte Bernd kennen, bekam die Kinder und lebte von nun an, obwohl ich meine Heimatstadt gar nicht verließ, ebenfalls in einer komplett anderen Welt. Bis wir uns schließlich, vor etwa drei Jahren, übers Internet wiederfanden. Seitdem sind wir auf Facebook miteinander befreundet, immerhin das, wo wir doch in unserm früheren Leben allerbeste Freundinnen waren. Unzertrennlich wie Hanni und Nanni, Thelma und Louise oder eben: Billy und Nette.

    Ohne auch nur einen einzigen Apfel gekauft zu haben, verlasse ich den Wochenmarkt und strande mit den Kindern in einem beschaulichen Straßencafé in einer Nebenstraße. Wie in Trance bestelle ich mir einen Cappuccino und für die Jungs Apfelsaft und denke dabei zärtlich an Billy, meine Billy, am liebsten würde ich diesen Namen singen, so emotional klingt er für mich. Wie eine Ballade von Whitney Housten.

    „Zeiten waren das!", schwärme ich wie eine alte Oma, die erschöpft unter ihrer Daunendecke hervorlugt, dabei bin ich eine Mittdreißigerin, die mit beiden Beinen im Leben steht. Doch die Erinnerung an Billy reißt mich mit Gewalt aus der Gegenwart fort und spült mich zurück in die späte Kindheit. Ich bin kaum zehn Jahre älter als meine Jungs, die neben mir sitzen und sich nun die alten Geschichten von Billy anhören müssen. Sonst rede ich nie besonders viel von mir selbst, nun aber kann ich gar nicht damit aufhören. Erst ein versehentlicher Blick auf die Uhr bremst mich aus: Halb sieben schon! Rasch zahle ich und wir machen uns auf den Heimweg. Unterwegs verkünde ich, dass es heute Abend ausnahmsweise Pizza aus der Tiefkühltruhe gibt, ist doch kein Problem! Die Jungs sehen das genauso.

    Gutgelaunt treffen wir drei gegen sieben zu Hause ein. Bernd sitzt bereits am Küchentisch, vor ihm das iPad mit den neuesten Nachrichten von n-tv. Fragend sieht er zu mir auf. Bevor ich irgendwas erkläre, fällt mir auf, dass er schon wieder dieses braungestreifte Hemd trägt, in dem er aussieht wie ein schmutziger Frischling, obwohl ich ihm heute Morgen das weiße Blanc-du-Nil-Hemd rausgelegt hatte. Wieso tut er das?

    „Wo wart ihr denn so lange?", will Bernd wissen.

    Im Nu rutsche ich bis zum Scheitel zurück in den Alltag. Während ich behaupte, einfach nur die Zeit vergessen zu haben, schiebe ich bereits die Tiefkühlpizzen in den Ofen und decke zackig den Tisch. Danach leere ich die fertige Waschmaschine aus und gehe mit einem Korb voller duftender Wäsche hinaus in die milde Abendluft. Die Vögel zwitschern mir aus der Seele. Doch nicht mehr lange, dann wird die Dunkelheit sie verstummen lassen.

    Obwohl der Himmel noch leidlich hell ist, schalte ich automatisch die vergitterte Außenleuchte an, um die Wäsche so ordentlich wie möglich unter dem kleinen Wellblechdach aufzuhängen. Während ich eine Klammer neben der anderen platziere und dabei sogar auf die passenden Farben achte, fällt mir plötzlich auf, wie sehr mein Leben aus Routine besteht.

    Für meine Freundin Billy hingegen war das Leben immer ein Abenteuer. Was sich allerdings romantischer anhört, als es tatsächlich ist. Denn was hat sie nun davon, die Ärmste? Nichts als einen knochenharten Kellnerjob in einem abgelegenen kanadischen Kaff in den Bergen. Weder Kinder noch einen Freund, schon gar kein Wohneigentum. Nicht einmal urbanes Leben um sich herum.

    Meine Bilanz hingegen sieht anders aus: Ich habe zwei reizende Kinder, einen liebenswerten Ehemann und ein charmantes, fast abbezahltes altes Häuschen mitten in der Stadt. Und nicht in irgendeiner, sondern in Berlin. Und außerdem habe ich, was ebenfalls nicht zu unterschätzen ist, jede Menge gute Laune. Viel Routine auch, das gebe ich zu – aber was für welche!

    Zurück im Haus räume ich noch ein wenig die Küche auf und wische die Spüle blank. Obwohl sich mein Alltag aus unzähligen solcher eintönigen Handgriffe zusammensetzt, gefällt mir mein Leben prima. So gut, dass ich Bernd, als er an mir vorbei in den Flur huschen möchte, spontan einfange, um ihn zu umarmen.

    „Gibt es etwas zu reparieren?", fragt er mich belustigt.

    Ich schüttle den Kopf und drücke ihn ganz fest an mich.

    „Alles heil!", antworte ich und blicke zu seinen grauen Augen auf. Das tue ich gern, aber es geht schließlich auch nicht anders, denn Bernd ist ziemlich groß. Vielleicht etwas zu stattlich. Der Gute könnte ruhig ein wenig Sport treiben, wie andere Männer seines Alters. An seinem nächsten Geburtstag bekommt er von mir ein Abo fürs Fitnesscenter geschenkt, beschließe ich eiskalt, während ich ein harmloses Lächeln zu ihm hinaufschicke.

    Das Klingeln des Telefons erschreckt mich so, dass ich abrupt vom Körper meines Mannes abfalle, als wären wir bei etwas Ungehörigem ertappt worden. Nach dem seltsamen Erlebnis vom Markt habe ich sofort einen Verdacht, den ich jedoch im selben Moment verwerfe. Trotzdem eile ich mit klopfendem Herzen ins Wohnzimmer ans Telefon, drücke auf den grünen Knopf und melde mich mit einem routinierten „Lehmann?"

    Die Mutter von Max ist am Apparat. Igor hat seine Star-Wars-Karten bei ihnen liegenlassen, wollte sie bloß Bescheid sagen, falls er die vermisst. „Nicht, dass die Welt untergeht", sagt Max‘ Mutter lachend und ich stimme mit ein.

    Als der Käse goldbraun zerlaufen ist, hole ich die Pizzen aus dem Herd, zerschneide sie vorsichtig, damit die Funghi- und Spinaci-Beläge hübsch oben bleiben, und schichte die Stücken so ordentlich wie liebevoll auf eine ovale silberne Platte, von der sich nun alle am Tisch nach Herzenslust bedienen können.

    Zufrieden schaue ich meiner Familie beim Essen zu, in Gedanken aber bin ich längst auf Facebook. Gleich nach dem Abendessen werde ich nachsehen, ob meine Freundin etwas über ihre Heimkehr gepostet hat.

    Billy hier in Berlin. Das wär‘ ja was!

    2 Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Die Tage ähneln einander oft so exakt, dass man sie mit schimmernden Perlen auf einer teuren Kette vergleichen könnte. Perfekt identisch, schön und wertvoll. Auf Dauer aber vielleicht doch ein wenig langweilig. Im Moment bin ich also am Basteln, suche nach neuen Perlen, die ich in diese Kette einfügen könnte. Ob sie aus farbigem Plastik, dunklem Holz oder gar aus Edelstein sein werden – keine Ahnung.

    Jedenfalls will diese Ariane mir eine Chance geben. Ariane Mosch ist die Chefin einer neuen Sprachschule hier im Kiez, eines sogenannten Start-up-Unternehmens. Vor zehn Minuten rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie es sich „gut vorstellen" könne, mich probeweise als Sekretärin einzustellen. Gelassen nahm ich ihre Worte auf, um danach einen wilden Cha Cha durchs Wohnzimmer zu tanzen und nun, da ich unbedingt jemandem etwas Gutes tun muss, sämtliche Grünpflanzen im Haus mit einer extra Portion Dünger zu beglücken.

    Als ich gerade die Phönixpalme im Wohnzimmer gieße, klingelt das Telefon erneut. Vor Schreck schwappt mir ein Spritzer zu viel in den Blumentopf, so dass ich im Regal eine riesige Sauerei anrichte. Wasser rinnt und tropft nach unten, Bücher und Ordner werden feucht – Katastrophe! Hektisch wische und tupfe ich mit einem Lappen auf dem Regal herum und befürchte dabei, dass diese Ariane sich vertan hat und ihr Angebot zurücknehmen will. Hat sie mich vielleicht mit einer anderen Bewerberin verwechselt? Das Telefonklingeln dauert an und macht mich nervös.

    Einen Moment überlege ich, ob es nicht schlauer wäre, gar nicht erst an den Apparat zu gehen. Rasch aber sehe ich ein, dass dieser blöde Verdacht, einmal in der Welt, meine Freude auf den neuen Job nachhaltig trüben würde. Also schmeiße ich den Lappen auf den Boden und gehe tapfer, wenn auch unwillig, ans Telefon und melde mich komplett unaufgeregt, superprofessionell und sachlich. Falls es nämlich diese Ariane mit ihrer Absage ist, soll es ihr noch leidtun, mich nicht genommen zu haben.

    Holy shit, ist das crazy!"

    Die Stimme aus dem Telefon schießt mir komplett das Hirn weg. Sie klingt noch krächzender, aber genauso fröhlich. Wie damals. Vor vielen Jahren. Vor genau sechzehn, wie ich noch am Dienstagabend im Bett ausgerechnet habe.

    „Mensch Billy, sechzehn Jahre ist das jetzt her!"

    Crazy, crazy", ruft Billy wieder und erzählt mir aufgeregt, wie sie vergeblich vor dem Haus in der Gürtelstraße gestanden hatte, in der ich damals mit meiner Mutter wohnte, und wie sie dann, eher aus Verzweiflung als mit der Hoffnung auf Erfolg, einfach die alte Telefonnummer ausprobierte, die früher zu jener Wohnung gehörte, in der nun eine Familie Bauer lebt. Und diese Nummer, von ihr mindestens tausendmal gewählt, um mit mir über blöde Lehrer oder die letzte Fete zu quatschen, hatte ich beim Umzug hier ins Haus mitgenommen.

    Als wäre es von Belang, frage ich Billy, warum sie ihre Rückkehr denn nicht auf Facebook gepostet hat, wo ich an jenem Abend vor drei Tagen, nach jener unheimlichen Begegnung auf dem Markt, extra nachgeschaut hatte, um zu erfahren, ob sie nun tatsächlich in der in der Stadt ist oder nicht.

    Billy aber lacht nur. Ihre Abreise aus Kanada wäre total spontan erfolgt, erklärt sie und tut dabei so verwundert, als hätte sie irgendeine Naturgewalt ins Flugzeug gejagt und hierher verfrachtet. Außerdem seien in dem Hostel, in dem sie übernachtet, die wenigen Plätze an den Computern dauernd besetzt. Und überhaupt bräuchten nicht alle Leute zu wissen, wo sie sich gerade aufhalte.

    Wie zwei Teenager plappern Billy und ich um die Wette, oft sogar gleichzeitig, so aufgeregt sind wir. Von Billys Kellnerjob kommen wir über sieben Ecken auf René, den Klassenclown, zu sprechen, hüpfen wieder zurück nach Kanada, in die Berge und die herrliche Natur dort oben, dann muss ich von den Geburten meiner Kinder erzählen, wir reden über Männer und Ambitionen – Billy will sich als Fotografin versuchen – und sogar über Schokopudding. Erst als wir bei Oma Herthas Streuselkuchen angelangt sind, wird Billy einsilbig. Und mir brummt der Schädel. Nach nur einer halben Stunde am Telefon fühlt sich mein Hirn so durchgequirlt an, als wäre es in den Mixer gefallen. So dass ich mich verabschieden und auflegen muss.

    „Wir sehen uns!", wiederhole ich meine letzten Worte noch einmal, dann wanke ich benommen durch den Flur, der mir mit seinen hellen Kiefernholzmöbeln plötzlich übertrieben optimistisch vorkommt und lande in meiner viel zu sauber gewienerten Küche. Meine Knie zittern, so dass ich mich hinsetzen muss. Um zu staunen.

    Am Abend sitze ich noch immer so verwundert da, obwohl ich zwischendurch die Jungs abgeholt, eingekauft und sogar gekocht haben muss, steht doch auf dem Tisch eine große Schüssel mit dampfenden Ossi-Nudeln, also Makkaroni plus Tomatensoße mit Jagdwurstschnipseln.

    Endlich nehme ich auch Bernd wahr, der tiefe Teller auf den Tisch stellt und dabei von seinem Tag berichtet. Wieder geht es um seinen blöden Chef Peter, der ihn triezt und dem er nichts recht machen kann. Und so weiter. Immer dasselbe. Jeden Tag.

    Heute aber werde ich ungeduldig. Bernd könnte doch auch mal fragen, was ich so erlebt habe! Meistens dasselbe, klar, aber eben nicht immer. Mit jedem weiteren Wort über den fiesen Chef steigt mein Blutdruck um geschätzte zwei Punkte an. Ein weiterer Satz über Peter, und mir droht ein Schlaganfall.

    Spontan greife ich nach der Gabel, die Bernd mir eben hingelegt hat, und lasse sie, wie aus Versehen, scheppernd auf den leeren Teller fallen. Irritiert sieht Bernd zu mir herab und verstummt.

    „Billy ist da, sage ich laut. Doch die Fröhlichkeit, mit der ich meine Stimme schmücken möchte, klingt aufgesetzt. Vermutlich bin ich noch immer wütend über dieses ewige Gelaber über den Chef. Bernd guckt mich einigermaßen ratlos an, reibt sich verlegen sein Kinn und fragt vorsichtig: „Welcher Billy?

    Entgeistert starre ich meinen Mann an. Wie einen Fremden, der sich seelenruhig in der Nase bohrt. Natürlich kennt er meine Freundin Billy nicht persönlich, wohl aber weiß er von ihr aus meinen Erzählungen, die mindestens so zahlreich und ausufernd waren wie die über seinen Chef, nur bekömmlicher dosiert, nämlich verteilt über Jahre. Sofern Bernd also über ein Gedächtnis verfügt und mir auch nur einmal zugehört hat, müsste er sich erinnern.

    „Sybille Waschinski, meine beste Freundin."

    „Ach die, fällt Bernd nun angeblich wieder ein. „Wo ist sie denn?

    Genervt verdrehe ich die Augen. Das ist doch jetzt völlig egal. Hauptsache zurück in der Heimat, hier in Berlin, in Reichweite also! Zerknirscht gebe ich es auf, mit Bernd einen dramatischen Moment inszenieren zu wollen. Dieser Mann hat eben kein Feeling dafür. Nicht umsonst ist er Versicherungsvertreter und nicht Theaterregisseur wie beispielsweise der Vater von Igors Klassenkameradin Karla, der mich bestimmt verstanden und bühnenreif mitgespielt hätte.

    „Nein!", hätte er gerufen auf meine Ankündigung, dass wieder Billy im Lande sei.

    „Doch!", hätte ich daraufhin gejubelt.

    So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt. Aber egal.

    „Billy ist da!", verkünde ich wenig später während des Essens meinen Jungs,

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