Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Xespasmata - Ausbrüche: - ein schicksalshafter Urlaub -
Xespasmata - Ausbrüche: - ein schicksalshafter Urlaub -
Xespasmata - Ausbrüche: - ein schicksalshafter Urlaub -
eBook502 Seiten7 Stunden

Xespasmata - Ausbrüche: - ein schicksalshafter Urlaub -

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Xespasmata ist das griechische Wort für Ausbrüche. Es werden Ausbrüche aus Partnerschaft, Familie, Geschlechtsrolle und Konvention der Mitglieder einer zufällig zusammengetroffenen Gruppe von Touristen im malerischen Urlaubsort einer griechischen Insel geschildert. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Begegnung zweier Personen. Sie besitzt eine ungewöhnliche Intensität und wird begleitet von Ängsten und Widerständen. Deren Ursachen liegen in Begebenheiten während der Zeit des geteilten Deutschlands und führen zurück in die düstere Welt der Staatssicherheit. Ein sonderbarer Unfall und ein späterer Todesfall stellen die entstandene Beziehung auf eine Bewährungsprobe.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Jan. 2016
ISBN9783738054354
Xespasmata - Ausbrüche: - ein schicksalshafter Urlaub -

Mehr von Rainer Müller Hahn lesen

Ähnlich wie Xespasmata - Ausbrüche

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Xespasmata - Ausbrüche

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Xespasmata - Ausbrüche - Rainer Müller-Hahn

    1.Tag

    Ich schrecke hoch aus einem wirren Traum und muss mich für einen Moment lang neu orientieren. Bin wieder mal beim Lesen eingeschlafen. Das Buch ist heruntergefallen, die Brille verrutscht, das Hemd offen. Der Wind hat aufgefrischt. Nach der Hitze des Tages ist es jetzt kühl. Ich fröstle.

    Meine Haut brennt ein wenig. Es ist der Preis für langes Liegen in der Sonne. Noch empfinde ich es als angenehmes Brennen. Später wird es sich zum Sonnenbrand entwickeln und bei der Berührung mit der Kleidung oder dem Bettzeug ins Unangenehme umschlagen.

    An einigen Stellen meiner Haut hat sich auf dem verbliebenen Sonnenölfilm eine dünne Schicht Sandkörnchen angesammelt. Sand auch auf der Kleidung und dem Handtuch.

    Das Handtuch ist immer noch ein wenig feucht. Seit meinem letzten Bad im Meer vor zwei Stunden hat die Sonne wohl nicht mehr die Kraft besessen, es zu trocknen. Wahrscheinlich hält das Salz die Feuchte fest.

    Ich richte mich auf, schließe die Knöpfe des Hemdes, stelle die Rückenlehne der Strandliege steiler und lehne mich aufrecht sitzend dagegen. Für mich beginnt jetzt die schönste Zeit am Strand, und ich will noch eine Weile das Meer beobachten. Der Übergang von Himmel und Meer ist nicht mehr genau zu erkennen. Der Dunststreifen am Horizont hat beide weich miteinander verschmolzen.

    Darüber steht die Sonne, sie hat bereits einen rötlichen Schein angenommen. Wolken, welche die Sonne kurzzeitig verdecken, leuchten auf mit goldenem Saum, gleißend helle Strahlenbündel fluten hervor und zeichnen helle Flächen auf die Meeresoberfläche.

    Das Meer ist blauschwarz und wirkt auf mich irgendwie bedrohlich und unheimlich. Der Wind ist noch nicht stark genug, um Schaumkronen darauf tanzen zu lassen. Brandungswellen rollen in Dreierreihe auf den Strand zu. Nach Homer sind es die ‚nimmermüden Rosse des Poseidon’. Sie wachsen hervor aus der Dunkelheit des Wassers, als wollten sie den Wassermassen vorauseilen, bäumen sich auf mit weißer Krone, brechen, wenn sie ihre größte Höhe erreicht und sich ihre Farbe in ein helles, fast durchsichtiges Grün gewandelt hat, zerbersten beim Aufschlagen in brodelnde Gischt und spülen einen dünnen weißen Schaumteppich auf den Strand.

    Der Rhythmus der Brandung nimmt mich gefangen. Er ist nicht gleichmäßig. Manche Wellen kippen in ihrer ganzen Länge plump und laut platschend, andere brechen in einer eleganteren Rollbewegung: Die Welle beginnt an einer Seite zu kippen, ihr Überschlag verläuft parallel zum Strand und bildet einen Tunnel. Dabei entstehen auf dem Scheitel, also dort, wo die Welle sich teilt, kleine senkrechte Fontänen, die wie ein silbernes Band über ihr mitlaufen - vielleicht die Mähnen der Rosse des Meeresgottes?

    Auch ist das Geräusch dieser Wellen ein anderes. Zunächst höre ich ein leises Zischen. Es startet auf einer Seite, schwillt an zu einem kraftvollen Rauschen und ebbt zur anderen Seite schnell wieder ab.

    Die Begleitung zu den verschiedenen Melodien der Wellen bildet das Rascheln der Kieselsteine, die vom zurücklaufenden Wasser aneinander gerieben werden. Hier bleibt die Tonlage des Geräusches gleich, verschieden ist aber die Dauer. Diese hängt davon ab, wie weit die Welle auf den Strand gelaufen ist und wie lange sie benötigt, über das Kieselfeld zurückzufließen.

    Ich versuche, ernsthaft vorherzusagen, welche Welle am weitesten auf den Strand gelangen wird. Das scheint sich nach folgender Regel zu vollziehen: Wenn eine große einer kleinen Welle folgt und beide kurz nacheinander brechen, wird das Wasser der kleinen Welle durch die Wucht und Masse der Großen weit auf das Ufer gedrückt. Dagegen hat selbst eine große Welle, sobald sie in das zurücklaufende Wasser der vorangegangenen umschlägt, kaum die Kraft, sich weit über das Ufer zu verbreiten.

    Wann nun aber diese Konstellation eintritt, groß folgt klein, kann ich nicht sicher prophezeien. Wellenkunde ist nicht einfach.

    Dieses Schauspiel aus Licht, Bewegung und Musik bannt mich immer wieder, versetzt mich in eine Art Trance, erzeugt in mir eine merkwürdige Mischung aus Gelassenheit und zugleich konzentrierter Spannung. Äußere Einflüsse werden abgeschirmt und in den Hintergrund gedrängt. Es ist ein aktives Abschalten, eine besondere Art, das Gegenwartsbewusstsein zu verdichten. Es fällt mir schwer, mich davon zu lösen.

    Eine Böe bläst mir feinen Sand ins Gesicht, als wollte der Wind daran erinnern, dass auch er eine wichtige Rolle in dieser Inszenierung spielt. Tatsächlich habe ich ihn bisher nicht sonderlich beachtet.

    Er ist stärker geworden und demonstriert nun seine Kraft, indem er Sand aufwirbelt, einen Sonnenschirm erfasst und diesen wie betrunken über den leeren Strand torkeln lässt. Schon hat er erste weiße Schaumkronen auf das Wasser gezaubert.

    Ich wende mich wieder dem Spiel der Wellen zu und verfalle schnell in den meditativen Zustand, es ist, als würde mein Inneres die Wellenbewegungen nachvollziehen.

    Plötzlich drängt sich der Wunsch in mein Bewusstsein, diese Eindrücke mit einem anderen Menschen zu teilen.

    Gesichter tauchen auf, werden verworfen. Ein Bild bleibt: Es ist das einer Frau, die ich hier vor einigen Tagen getroffen habe. Wir sind heute Abend - zusammen mit ihrem Mann und Sohn sowie zwei anderen Ehepaaren - zum Essen verabredet. Ich bin über meine Wahl fast erschrocken und tausche das Bild schnell gegen das einer anderen Urlauberin aus.

    Vielleicht ist es ein Teil elterlicher Hinterlassenschaft, die Vernunft, die sich als innere Stimme jetzt empört:

    Du meine Güte Michael! Was willst du eigentlich? Du fährst in dein Refugium, freust dich auf das Allein- und Unabhängigsein und beginnst schon wie der Sonnenschirm beim ersten Windstoß zu schwanken." Ich ignoriere diesen Kommentar, es ist zwecklos, etwas dagegen einzuwenden.

    Nun beuge ich mich auf der Strandliege nach vorne, lehne mich gleich wieder zurück und hole dadurch Schwung, um aufzustehen. Es gelingt mir gleich beim ersten Mal. Ich stehe breitbeinig, die Liege zwischen meinen Beinen. Steif und verkrampft steige ich mit dem linken Bein auf die andere Seite. Meine Badehose liegt im Sand. Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich sie mit dem Fuß hoch schleudern und mit der Hand aus der Luft fangen sollte. Dieses Manöver ist nicht schwierig, habe es lange mit Unterhosen geübt, und es sieht dazu noch recht elegant aus. Bei einer mit Sand bedeckten Badehose hat diese Technik jedoch den Nachteil, dass man dabei eine Fuhre Sand abbekommt. Also bücke ich mich schwerfällig, ergreife die Badehose und mache mich auf, sie im Meer auszuspülen.

    Es ist nur ein kurzer Weg zum Wasser. Barfuss mit vorsichtigen Schritten überwinde ich ein Feld unterschiedlich großer, glatt geschliffener Steine, das weit ins Wasser reicht. Die Steine sind nass, und man kann vortrefflich darauf ausrutschen. Noch ein letzter ausholender Schritt, die schlüpfrige Gefahrenzone ist überwunden, und ich stehe fest auf weichem, sandigem Meeresboden. Das Wasser reicht mir bis zum Knie. Es ist angenehm warm. Ob ich noch eine Runde schwimme? Sofort ist meine innere Stimme zur Stelle:

    Denk doch mal nach! Es ist schon spät, Badehose an- und ausziehen, mit feuchtem Handtuch abtrocknen, würdest frieren und ..."

    Die große Welle habe ich nicht kommen sehen. Sie unterbricht die Auflistung der Bedenken und umspült mich bis zum Bauchnabel. Ich habe Mühe, nicht von ihr umgeworfen zu werden. Aber die Shorts und der untere Teil meines Hemdes sind klatschnass.

    Diese plötzliche Dusche erkläre ich zum Ersatz für das abendliche Abschlussschwimmen. Ich schwenke die Badehose mehrmals durch das Wasser und wringe sie aus. Es wird Zeit, aufs Trockene zu flüchten, denn die nächsten großen Wellen rollen heran.

    Ich ziehe mein Hemd nochmals aus, um die nassen Stellen auszuwringen. Dabei fällt meine Armbanduhr aus der Hemdtasche in den Sand. Ein kurzer Anflug von Ärger: Habe sie wieder einmal mit an den Strand genommen, obwohl ich mir jedes Mal vornehme, sie im Zimmer zu lassen. Ich säubere sie sorgfältig und binde sie um.

    Dann suche ich meine Badelatschen. Einer liegt rechts, der andere links neben der Liege. Sie sind fast vollständig mit Sand bedeckt. Ich angle sie nacheinander mit den Füßen aus dem Sand und versuche, sie in eine solche Stellung zu bringen, dass ich hineinschlüpfen kann. Heute gelingt mir das nicht sofort, und ich muss eine Art kleinen Tanz aufführen, um sie an die Füße zu bekommen.

    Jetzt gilt es, die nasse Badehose und die Flasche mit Sonnenöl in das Handtuch einzurollen. Mir fällt auf, dass ich bei allem, was ich tue, sehr langsam vorgehe und dabei eine merkwürdige Sorgfalt an den Tag lege. Ist es wirklich erforderlich, die Ecken des Handtuchs genau übereinander zu bringen oder die nasse Badehose vor dem Einrollen ins Handtuch vorher sorgsam zusammenzulegen?

    Diese Sorgfalt entspricht nicht meiner sonstigen Gewohnheit. Man sagt mir in solchen Dingen eher Schlampigkeit nach, was ich durchaus einräumen würde.

    Mir fallen Kinder ein, die trödeln und alles betont langsam machen, um das Schlafengehen so lange wie möglich hinauszuzögern. Wende ich diese Verzögerungstaktik hier an, um noch eine Weile am Strand bleiben zu können? Das würde bedeuten, dass ich mich selbst austrickse, denn eigentlich zwingt mich nichts, jetzt zu gehen - aber nur eigentlich. Denn sogleich meldet sich meine Stimme:

    Es wird Zeit, jetzt zu gehen, dir ist schon kalt, du musst dich vor dem Essen noch duschen und umziehen, und schließlich muss ja mal Schluss sein."

    Wer kann sich dieser geballten Vernunft widersetzen?

    Der Abschied vom Strand fällt mir etwas leichter, weil die nassen Shorts sich bei jeder Bewegung unangenehm bemerkbar machen und der Tag nun in einen anderen Abschnitt übergeht, auf den ich mich sonst freue. Heute allerdings sind meine Gefühle gemischt. Den Vorschlag zum gemeinsamen Abendessen habe ich spontan - fast leichtfertig - unterbreitet und mir kommen jetzt Zweifel, ob das eine weise Entscheidung war?

    Ein fernes Grollen reißt mich aus meinen Gedanken. Es ähnelt zunächst einem Gewitter, schwillt aber schnell zu einem dauerhaften, gewaltigen Dröhnen an. So wie es die ruhige Abendstimmung zerstört, hat es etwas Gewalttätiges.

    Ich bin beunruhigt, weil ich den Ursprung des Donners zunächst nicht zuordnen kann. Dann aber erkenne ich zwei Militärjets von Süden heranrasen. Für einen Moment bildet sich die beängstigende Vorstellung, dass hier keine der üblichen Patrouillen geflogen wird, sondern, dass es aus diesen Maschinen gleich Bomben regnet. Die Düsenjäger fliegen nahe der Küste und dicht über dem Wasser im Langsamflug. Eine Maschine führt, die Zweite hält sich links daneben, um eine Flugzeuglänge versetzt.

    Im Gegenlicht erscheinen sie schwarz, nur die Cockpits werden vom Abendlicht hell erleuchtet, und ich kann darin die behelmten Köpfe der Piloten erkennen.

    Die Triebwerke haben nun im Vorbeiflug ohrenbetäubende Lautstärke erreicht und lassen meinen Körper innerlich vibrieren. Die Jets fliegen über die nördliche Bucht und sind vor dem Hintergrund der Berge und dem dunklen Wasser nicht mehr auszumachen. Erst ein erneutes Dröhnen kündigt ihren Steigflug an. Sie werden wieder als steil nach oben fliegende, schwarze Dreiecke sichtbar, abgehoben gegen das Graublau des Abendhimmels, hinter sich eine dunkle Rauchschleppe, die der Wind seitlich verschiebt und schnell auflöst.

    Ich bin wieder einmal fasziniert von der gewaltigen Kraft dieser Technik, die Menschen erzeugen und bändigen können.

    Als jemand, der selbst ein paar Stunden als Privatpilot durch die Lüfte geschaukelt ist - und übrigens auf diesem Wege, diesen Flecken hier gefunden hat - schaue ich mit Wehmut und Neid auf die Leute im Cockpit solcher Maschinen.

    Aber irgendwo ist da noch das Gefühl der Enttäuschung oder Ernüchterung, dass dieser schöne Strand und die herrlichen, malerischen Sonnenuntergänge nicht von dieser hoch entwickelten Kriegstechnik verschont bleiben.

    Was für ein Unsinn! Da baust du dir in deinen Vorstellungen eine heile Welt, eine Insel der Glückseeligen und bist sauer, wenn du merkst, dass es sie nicht gibt. Eine geniale Art, sich selbst zu ‚ent’ - täuschen und sich fertig zu machen, weiter so", rügt meine Stimme sofort. In Gedanken antworte ich trotzig:

    Ja, ja stimmt schon, aber trotzdem ist es schade!" Ich mache mich auf in Richtung Georgios Taverne. Das Wegstück über den Strand ist kurz, vielleicht nur vierzig Meter.

    Diese Strecke zu überwinden, kommt mir heute wie Schwerstarbeit vor. Ich fühle mich schlapp und müde, so als hätte ich den ganzen Tag Zementsäcke geschleppt. Ich stolpere, eine Sandale rutscht vom Fuß. Es braucht einige Zeit, bis ich sie, ohne meine Hände einzusetzen, wieder am Fuß habe. Mein Gang muss dem eines Betrunkenen ähneln.

    Zur Taverne verläuft der Weg über eine betonierte, steile Auffahrt, die hauptsächlich dazu dient, Boote an den Strand zu transportieren. Sie verbindet den Strand mit der Straße, die vom Dorf in den Bergen kommt und vor der Taverne in eine gepflasterte Plattform mündet.

    Am Fuß der Auffahrt befindet sich ein Wasserhahn mit einem kurzen grünen Schlauch. Ich drehe den Hahn auf und versuche, den Sand von Waden und Füßen zu spülen. Das gelingt nicht sofort. Erst, nachdem ich die Öffnung des Schlauchs etwas zudrücke und der Wasserstrahl mit größerer Geschwindigkeit austritt, lässt sich der restliche Sand entfernen. Nach diesem mühsamen Reinigungsprozess erwartet mich eine weitere Herausforderung: Es gilt, mit nassen Füßen, in glatten und offenen Gummisandalen, ohne aus diesen herauszurutschen oder zu stolpern, eine beachtliche Steigung zu überwinden. Es gelingt, ich erreiche die Plattform vor der Taverne unfallfrei.

    Die Taverne ist ein - wie hier üblich - in gelblich-roter Farbe verputzter, zweistöckiger Bau mit flachem Ziegeldach und einem geräumigen, einstöckigen Vorbau. In der oberen Etage bildet dieser Vorbau eine große, offene Dachterrasse. Im rückwärtigen, überdachten Teil des Hauses liegen Gästezimmer, von denen ich eines bewohne.

    Unter der Dachterrasse liegt der sogenannte kleine Gastraum, in dessen rückwärtigen Bereich, ein offener Durchgang zur Küche führt. Von der linken Seite des Gastraumes gelangt man durch eine Tür auf die große, verglaste Restaurantterrasse. Früher war sie kleiner und primitiver eingerichtet, aber keineswegs ungemütlich. Heute ist sie ‚touristisch voll erschlossen’: Ausgestattet mit einem festen Holzdach, einem mit hellen Steinplatten belegten Fußboden, einer umlaufenden Glasfront mit großen, verschiebbaren Fenstern, mit Plastikmöbeln, einer Musikanlage, einigen mehr oder minder gelungenen Dekorationsartikeln und einem großen Aquarium, in dem üblicherweise Krebse auf ihr Ende im Kochtopf warten. Zurzeit ist das Bassin unbewohnt, da die Wasserpumpe den Geist aufgegeben hat. Den ersten Stock der Taverne hat die Plastik-Ära noch nicht erreicht, hier ist die Zeit scheinbar stehen geblieben. Die Einrichtung der Gästezimmer besitzt noch den Charme der fünfziger Jahre. Zur Zimmerausstattung gehören der ein oder andere alte Tisch und jene typischen Stühle mit geflochtener Sitzfläche.

    Spyros steht neben der Treppe zur Restaurantterrasse, grinst und ruft mir etwas auf Griechisch zu. Ich verstehe es nicht. Einmal, weil ich trotz häufiger Ferienaufenthalte nur wenig Griechisch gelernt habe, zum anderen, weil der Wind die Worte in die entgegengesetzte Richtung weht.

    Wahrscheinlich ist es wieder eine seiner Schweinereien, die er mir beigebracht hat. Wenn ich sie gelegentlich anwende, schüttelt er sich vor Lachen.

    Spyros ist achtundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, kräftig gebaut mit einem ganz leichten Ansatz zum Bauch. Sein dunkles Haar zeigt vereinzelt graue Strähnen.

    Er gehört zu den wenigen Menschen, die ich nie verstimmt, misslaunig oder aggressiv erlebt habe. Seine stetige Freundlichkeit, der Witz und die Ausgeglichenheit entstammen nicht einer professionellen Haltung seinen Gästen gegenüber, sondern seinem Naturell.

    Hervorstechend sind seine großen und strahlenden, braunen Augen. Sie sind wie ein Markenzeichen der Familie. Spyros hat sie vom Vater Georgios geerbt, so wie seine Schwester Milia und Kosta, sein jüngerer Bruder.

    Bei Spyros drücken sie immer einen Anflug von freundlicher Schlitzohrigkeit und Spott aus.

    Bekleidet ist er wieder mit seinem olivgrünen T-Shirt und der dunkelblauen Hose, die am Sitz und an den Taschenrändern etwas abgewetzt glänzt. Die Füße stecken ohne Socken in schwarzen Mokassins.

    Spyros’ ganze Haltung spiegelt Ruhe und Gelassenheit wider. Das Sonnenlicht verleiht seinem Gesicht jetzt einen bronzenen Farbton. Um in mein Zimmer zu gelangen, muss ich an ihm vorbei zum hinteren Teil der Taverne gehen. Dort führt eine Treppe in das erste Stockwerk. Ich wende meinen Blick von ihm ab, richte ihn auf den Boden und strecke meinen Arm ruckartig zu einem übertriebenen Gruß senkrecht nach oben. Ohne auf seine Reaktion zu warten, setze ich meinen Weg fort. Plötzlich, ohne mir über meinen Sinneswandel klar zu sein, halte ich ein, kehre um und gehe auf ihn zu.

    Da wir uns schon früh am Tag begegnet sind, tippe ich ihm nur auf den Oberarm und murmele halblaut eine der Schweinereien, die ich von ihm gelernt habe. Er antwortet mit einer noch deftigeren. Damit erschöpft sich unsere Konversation. Ich setze mich auf die Stufen des Einganges. Sie sind von der Sonne aufgeheizt. Ihre Wärme ist angenehm und tut meinem Hinterteil gut. Es ist durch die nassen Shorts kalt geworden. Spyros bleibt weiterhin stehen. Beide schauen wir schweigend auf das Meer, in die untergehende Sonne, auf die felsige Küstenlinie der Insel und die bewaldeten Berge. Alles ist nun in ein weiches, warmes Licht getaucht, das Schatten und Konturen verstärkt. Dieses Panorama löst in mir intensive, schwer zu beschreibende Empfindungen aus. Es sind ineinander verwobene Gefühle von Freude, Ehrfurcht und Sehnsucht. Offensichtlich entstehen solche Empfindungen nicht nur bei mir, sondern auch bei demjenigen, der dieses Bild sein ganzes bisheriges Leben vor Augen hatte.

    Denn nach einer Weile gemeinsamen Schweigens wendet Spyros seinen Kopf zu mir herab und sagt leise in ungewohntem Ernst: „Ist das nicht wunderschön?"

    * * *

    Eine gute halbe Stunde später sitze ich geduscht und umgezogen auf der Restaurantterrasse an meinem Stammtisch – es ist der Eckplatz direkt an der Fensterfront. Zuvor habe ich noch einen Tisch an den meinen gerückt, um Platz für die sieben Personen zu schaffen, die ich erwarte.

    Die Sonne ist seit einiger Zeit hinter dem Dunstband am Horizont verschwunden; es ist jetzt sehr viel dunkler. Dort aber, wo die Sonne untergegangen ist, glüht es noch tiefrot nach.

    Ich beobachte eine Weile die Fledermäuse, wie sie im Dämmerlicht mit ihrem vieleckigen, schnellen Flug Insekten jagen. An einem großen Tisch schräg neben mir sitzen Griechen vom Festland. Sie verbringen hier ihren Urlaub. Es sind sechs Personen. Ein Elternpaar mit zwei Kindern und zwei älteren, in traditioneller schwarzer Witwentracht gekleideten Frauen. Die Ähnlichkeit der Frauen untereinander und mit dem Familienvater lässt vermuten, dass es sich um Schwestern, also um Mutter und Tante des Vaters, handelt. Die Kinder bilden ein sehr ungleiches Paar.

    Die Tochter ist ein schlankes, sehr hübsches, etwa sechzehnjähriges Mädchen, mit großen dunklen Augen und langem, schwarzem Haar. Der Sohn, etwa neunjährig, ist stark übergewichtig. Sein kreisrundes, etwas dümmlich wirkendes Gesicht und das kurz geschorene Haar erwecken den Eindruck eines Häftlings.

    Eine ähnliche Kopfform und Frisur besitzt auch der Vater. Dessen Haare sind jedoch um einiges länger und bilden einen militärischen Igelschnitt. Er wirkt freundlich, in sich ruhend und lebenslustig. Die Mutter dagegen verhärmt, gequält und rastlos. Ihre unruhigen kleinen Augen wieseln ständig hin und her und sind wie ihr Mundwerk ununterbrochen in Bewegung. Das blond gefärbte Haar ist nachgewachsen, die Haaransätze treten in ihrer natürlichen, dunklen Farbe hervor. Es sind nicht nur die Haare, die auf geringe Gepflegtheit hindeuten. Alles in allem wirkt sie wie eine Frau, die begonnen hat, sich aufzugeben. Mir kommt das Lied von Charles Aznavour in den Sinn: ‚Du lässt dich gehen.’

    Die beiden älteren Frauen sind ausschließlich auf den fetten Jungen konzentriert, reden fortwährend auf ihn ein, lachen, streichen ihm über den Kopf, wischen ihm den Mund ab, reiben Flecken von Hemd und Hose und necken ihn. Sie spielen ein Fütterungsspiel wie mit einem Haustier: Abwechselnd bieten sie kleine Häppchen Honigjoghurt an, die sie ihm auf einem Löffel dicht vor den Mund halten. Er versucht, danach zu schnappen, bevor der Löffel weggezogen wird. Wenn er die Leckerei ergattert, erhält er lauten Beifall, verfehlt er sie, wird er bedauert. Die Szene ist bizarr und abstoßend. Der dicke Junge tut mir leid.

    Obwohl das Spiel von Großmutter und Tante auf den ersten Blick liebevoll gemeint sein mag, entsteht dennoch in mir das Bild zweier Krähen, die laut krächzend um ihre Beute tänzeln und sie mit schnellen Schnabelhieben traktieren. Ich beschließe, diese Familie die ‚Krähenfamilie’ zu nennen.

    Die Tochter hat sich von alledem mithilfe ihres Walkmans abgeschirmt und schaut verträumt in Richtung Meer. Den Rücken halb zum Tisch und halb zu einer der schwarzen Frauen gedreht, ruht ihr rechter Arm auf der Rückenlehne des Plastiksessels. Auf diesen Arm hat sie ihr Kinn gebettet. Mit der Hand klopft sie rhythmisch auf die Lehne, zu nur für sie hörbarer Musik. Diese demonstrative Abwendung vom familiären Geschehen und die laszive, hin gegossene Haltung erscheinen mir wie eine aggressive und erotische Provokation. Ihre Herausforderung bleibt nicht ohne Wirkung, auch hier wechseln sich die schwarzen Frauen ab, allerdings mit Ermahnungen. Ich bin sicher, es sind Aufforderungen, sich ordentlich hinzusetzen. Von der neben ihr sitzenden schwarzen Frau erhält sie sogar einen Klaps auf den Rücken. Das Mädchen schreckt empört hoch, faucht wie eine Katze und begibt sich sofort wieder in ihre alte Pose. Nichts führt bei ihr zu einem ‚Haltungswechsel’.

    Auf mich wirken diese Maßregelungen kraftlos. Sie werden ohne Engagement vorgetragen, sind eher pädagogische Pflichtübungen. Wahrscheinlich ist man sich längst über deren Wirkungslosigkeit im Klaren.

    Die Mutter beachtet die Mästung ihres Sohnes nicht. Sie hat ihn wohl bereits an die beiden Alten verloren. Während der ganzen Zeit redet sie ununterbrochen.

    Es ist für mich nicht auszumachen, an wen sie sich mit ihrem Redefluss wendet; sie schaut beim Sprechen niemanden an. Das löst in mir eine merkwürdige Vorstellung aus: Anstelle der Worte kommen nun Rauchwolken aus ihrem Mund, sodass die Personen um sie herum, langsam von diesen Schwaden eingehüllt werden. Möglicherweise ist es ihre Methode, mithilfe des eigenen Wortschwalls Abstand zu den anderen zu halten, sie zu benebeln, oder sich selbst dahinter zu verstecken und zu verschanzen.

    Hin und wieder reagiert der Vater mit ein paar flüchtigen Worten oder einem sparsamen Kopfnicken auf seine Ehefrau. Es wirkt automatisch und sehr routiniert. Er hat vieles um sich herum ausgeblendet. Seine Aufmerksamkeit gilt vor allem seinem Fischgericht, das er in einem nahezu feierlichen Akt zelebriert. Mit der Präzision und Sorgfalt eines Chirurgen schneidet er den Fisch auf, entfernt geschickt die Hauptgräte und legt diese auf einen dafür vorgesehenen Teller. Einige der noch vorhandenen Gräten zupft er mit den Fingern sorgsam aus dem Fleisch und platziert sie ordentlich auf den Rand des Grätentellers. Nun trennt er mit der Gabel ein Stück Fisch ab und führt es langsam zum Mund. Ehe er zu kauen beginnt, scheint er den Bissen zunächst abzulutschen. Diese Mundbewegungen erinnern mich an Weinkenner bei der Verkostung. Sein Gesicht nimmt einen zufriedenen Ausdruck an, gleichzeitig ruft es lautlos den anderen zu: „Lasst mich ja in Ruhe, ich genieße."

    Nach dem er einen Bissen bedächtig gekaut und heruntergeschluckt hat, angelt er sich mit der Gabel ein Stück Kartoffel und ein paar Bohnen, die er bedächtig verzehrt. Schließlich nimmt er ein Stück Brot, und nach einigen langsamen Kaubewegungen spült er dieses mit einem Schluck Rotwein herunter.

    Ich bewundere ihn. Es ist mir ein Rätsel, wie jemand sein Essen genießen kann, umgeben vom ständigen Wortschwall der Ehefrau, dem lauten Schnattern der älteren Frauen und dem Quieken des Sohnes.

    Mein Blick fällt nun auf das junge Paar, in der Nähe des Eingangs. Es sind Franzosen. Ihr Motorrad hat ein französisches Nummernschild, außerdem sind ein paar Gesprächsfragmente zu mir herübergeweht. Auf ihrer Tour über die Insel werden sie hier übernachten, denn Helme und Satteltaschen liegen bereits am Fuß der Treppe zu den Gästezimmern.

    Sie ist sehr schlank, keine Schönheit im üblichen Sinn, rötlicher Teint mit unzähligen Sommersprossen. Ein Rotschopf mit langem, vollem Haar, das vom Motorradhelm teilweise zu Strähnen verklebt, teilweise vom Wind aufgeplustert und so zu einer witzigen Clownsfrisur wurde. Auf den ersten Blick wirkt sie ernst und nachdenklich - in sich gekehrt, vielleicht sogar ein wenig spröde. Wenn sie jedoch mit ihrem Partner oder einer anderen Person spricht, strahlt ihr Gesicht unbändige Vitalität aus. Die großen hellen Augen lassen Klugheit und Witz erkennen.

    Er ist mittelgroß, schlank, durchtrainiert und dunkelhaarig. Wahrscheinlich stammt er aus dem Süden Frankreichs. Er hat ein markantes Gesicht mit einer großen schmalen Nase. Auffallend sind seine feingliedrigen Hände. Die randlose Brille gibt ihm das Aussehen eines jungen Pfarrers oder Hochschullehrers. Von ihm gehen Ruhe und Ernsthaftigkeit aus.

    Beide sprechen gedämpft miteinander und sehen sich dabei in die Augen. Sie warten auf ihr Essen. Vor sich haben sie halbgefüllte Biergläser. Auf ihrem Tisch liegen diverse Landkarten. Für Studenten sind sie mit ihren dreißig bis fünfunddreißig Jahren zu alt. Ich vermute, sie könnten Musiker oder Lehrer sein. Sollten sie länger bleiben, werde ich das herausfinden.

    * * *

    Ein großer Nachtfalter hat sich verirrt und fliegt pausenlos gegen die Fensterscheibe neben mir. Sein Ziel könnte der Lichtkegel der Laterne draußen am Ende der Straße sein. Als ich das Fenster aufschiebe, um das Tier zu befreien, faucht der Wind in den Raum, fährt in die Haare und Kleidung, wirbelt Papierservietten durch die Luft und zerrt an den Papiertischdecken.

    Alle im Raum schrecken auf. Sogar die Mutter der Krähenfamilie verstummt für einen Moment. Die schwarzen Frauen und das französische Paar richten fragende und vorwurfsvolle Blicke auf mich. Mir ist, als würden Kanonenrohre auf mich zielen. Nur die Tochter lächelt mir freundlich zu. Sie hat den Kampf des Insekts beobachtet.

    Ich hatte weder diesen heftigen Windstoß noch so viel Aufmerksamkeit erwartet. Ein wenig verlegen gebe ich mimisch zu verstehen, dass ich das Fenster gleich wieder schließen werde. Meine Rettungsaktion gestaltet sich jedoch etwas schwierig: Das erschöpfte Tier, festgekrallt zwischen Rahmen und Scheibe, macht keine Anstalten, durch den offenen Spalt zu entkommen. Erst ein kleiner Schubs ermöglicht ihm die Flucht. Ich schließe das Fenster, und es kehrt Ruhe ein. Wieder schenkt mir die Tochter ein Lächeln. Diesmal liegen darin Zufriedenheit und Anerkennung. Ist sie ein wenig neidisch auf das Entkommen des Falters?

    Nach meiner Befreiungsaktion weiß ich nicht so genau, was ich tun soll. Meine ‚Gäste’ sind längst überfällig. Bierflasche und Glas sind leer. Hab’ wohl zu schnell getrunken, um die Wartezeit zu überbrücken.

    Ich hasse das Warten, leide darunter. Ich kann nichts Vernünftiges tun, weil es unsinnig ist, etwas anzufangen, um es dann gleich wieder abbrechen zu müssen.

    Als ich noch geraucht habe, wurde ich beim Warten zum Kettenraucher. In der ersten Phase meiner Tabakentwöhnung war es genau diese Übergangssituation, deren Verlockungen zu widerstehen und deren Peinigung zu ertragen, den größten Willenseinsatz von mir forderte.

    Jetzt, nach vier Jahren, bin ich stolz, keine einzige Zigarette geraucht zu haben. Ich glaube, ich habe es endgültig geschafft. Geholfen hat mir dabei übrigens ein Prinzip der Anonymen Alkoholiker, an das ich mich angelehnt habe: „Heute werde ich nicht rauchen. Morgen entscheide ich neu." Trippelschritte der Abstinenz von Tag zu Tag lassen die Sehnsucht nach einer Zigarette erträglicher erscheinen. Damals gab es eine Reihe von Gründen, mich der Herausforderung des Nicht-Rauchens zu stellen: Da war einmal meine Luftknappheit. Mein Atem ging einher mit Pfeiftönen unterschiedlicher Tonhöhe und einer Lautstärke, die mich beinahe am Einschlafen hinderte. Zum anderen fühlte ich mich immer mehr geächtet. Als Angehöriger des schrumpfenden Häufchens der Abhängigen musste ich immer öfter Nichtraucher demütig um deren Entgegenkommen bitten, eine Zigarette rauchen zu dürfen oder eine Raucherpause zu akzeptieren. Ich wurde auf bestimmte Räume - meist auf kalte und zugige Raucherecken oder Balkone verwiesen - oder auf bestimmte Zeiten verpflichtet. Das kränkte.

    Das Rauchen degenerierte dadurch zu einer eiligen, körperlichen Verrichtung, von Genuss, Entspannung oder Gemeinschaftsgefühl keine Spur.

    Hinzu kamen die elementaren Erfahrungen von Abhängigkeit, der Zwang, ständig zu prüfen, ob noch genug Zigaretten zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich können nur Suchtgenossen die Panik nachvollziehen, die mich packte, wenn ich spät abends feststellen musste, dass die morgendliche Frühstückszigarette ausfallen würde. Ich hatte die letzte Notreserve gedankenlos aufgeraucht, kein Münzgeld für den Automaten und keine Wechselmöglichkeit, die einzige Gaststätte mit Zigarettenautomat und die Tankstelle weit weg, möglicherweise geschlossen.

    Aber neben diesen oder ähnlichen Diskriminierungs- und Abhängigkeitserlebnissen galten für mich auch die hinlänglich bekannten Vernunftgründe gegen das Rauchen sowie ein unverschämter Preisanstieg für Tabakwaren.

    Schließlich kam noch eine weitere ermutigende Überlegung hinzu: Als Heranwachsender habe ich mit dem Rauchen deshalb begonnen, weil ich zeigen wollte, dass ich schon ein ganzer Kerl bin. Warum sollte ich als Erwachsener nicht aus demselben Grund damit aufhören?

    Meine Gedanken kehren wieder in die Gegenwart zurück, und ich betrachte mich in meiner momentanen Situation. Da sitze ich nun eine geraume Zeit allein an einer von mir arrangierten Tischformation, langweile mich, trinke lustlos Bier und komme mir allmählich für dumm verkauft vor. Habe unter lautem Scharren von Tischbeinplastik auf Steinfußboden die Tische zu einer längeren Tafel zusammen geschoben, damit ein größeres gastliches Ereignis angekündigt und gleichzeitig die Anzahl der beliebtesten Plätze direkt an der Fensterfront vermindert. Und was passiert nun? Nichts!

    Ich schaue mir das durch die Augen eines Außenstehenden an und denke: „Traurig, wie lange der alte Knabe da so herumsitzt, hat sich bemüht, aber alle haben ihn versetzt, er will’s nur noch nicht glauben."

    Mich selbst so zu sehen, macht mich ärgerlich. Habe ich das eigentlich nötig? Ohne diese dämliche Verabredung, die ich unbedacht mit den Worten vorgeschlagen habe, „Na, dann lasst uns doch morgen Abend zusammen etwas essen, bringt die anderen mit, wenn sie Lust haben", hätte ich längst mein Essen bestellt. Haben sie die Verabredung für zwanzig Uhr vergessen? Ich beschließe trotzig und hungrig, nur mit einer Portion Ärger im Magen, jetzt mein Essen zu bestellen.

    Man kann nach der Karte auswählen. Seit einigen Jahren gibt es eine umfangreiche, mehrseitige Speisenkarte in griechischer, englischer und deutscher Sprache. Das Deutsch ist etwas fehlerhaft. Ich hatte mich mal erboten, es zu korrigieren. Mein Angebot wurde zwar dankend angenommen, geriet aber in Vergessenheit.

    Statt der Bestellung à la carte bevorzuge ich es - wie in Griechenland üblich - meine Mahlzeiten mit allen Zutaten in der Küche selbst zusammenzustellen. Genau das habe ich jetzt vor.

    * * *

    Auf meinem Weg zur Küche muss ich am Tisch der Krähenfamilie vorbei. Das Mädchen beobachtet mich, und unsere Blicke treffen sich. Es beginnt ein kurzer, wortloser Dialog. Ich schaue sie mitleidig an und verziehe den Mund bedauernd, um ihr zu bedeuten, dass sie mir in ihrer misslichen Situation leidtut.

    Sie versteht meine Mitteilung spontan und antwortet, indem sie die Augen nach oben rollt, den Mund verzieht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen und hilflos mit den Schultern zuckt. Ich übersetze das als: „Ja, es ist grauenhaft, aber was soll’s, ich kann nichts ausrichten."

    Ich widerspreche mit einem ermunternden Lächeln, einer dicht am Körper gehalten, energisch geballten Faust und sage ihr damit: „Ach was, das bekommst du schon geregelt."

    Offenbar freut sie sich über meine Zuversicht und Ermutigung, schüttelt aber zweifelnd den Kopf. Mit einer wegwerfenden Handbewegung weise ich ihre Bedenken zurück, schaue sie halb herausfordernd, halb ungläubig an und beende unsere Zwiesprache mit der Botschaft: „Unsinn, natürlich packst du das." Dann bin ich an ihr vorbei.

    In der Küche herrscht rege Betriebsamkeit. Der Koch - ein weitläufiger Verwandter von Georgios aus Athen - hantiert mit Töpfen und Pfannen. Er arbeitet hier in der Saison und hat in den letzten Jahren die Vielfalt und Qualität der Angebote professionell erhöht und damit auch die Preise. Früher kochte Mutter Georgina solide griechische Küche ohne Schnörkel. Heute am Sonnabend erwartet man mehr Gäste als sonst. Deshalb helfen Georgina und die Großmutter. Spyros ist an der Friteuse beschäftigt. Alle wirken gelassen, sprechen und lachen miteinander. Man begrüßt mich mit dem obligatorischen:

    „Guten Abend, wie geht es dir?" Und ich antworte darauf mit der Standardformel, dass es mir sehr gut geht. Man darf nicht sagen, es würde einem nicht oder nur halbwegs gut gehen, damit bringt man alles durcheinander. Es muss dann zwangsläufig gefragt werden, wieso und warum. Das dauert lange und ist kompliziert, besonders dann, wenn das Griechisch so mager ist, wie das meine.

    Spyros unterbricht sein Tun und fragt, was ich essen möchte. Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich das noch nicht weiß. Daraufhin wischt er mit einem Lappen die von innen beschlagene Frontscheibe der Vitrine ab. Es werden verschiedene Gemüsegerichte, Fleischbällchen, Pastizio und Mussaka auf Küchenblechen sichtbar. Ich kann mich für keines dieser Angebote so recht erwärmen. Mir fällt das Abendessen des Vaters der Krähenfamilie ein, und ich frage, ob er einen schönen Fisch für mich hat. Daraufhin zieht Spyros eine Schublade des Gefrierschrankes auf, in der Fische verschiedener Art und Größe auf Eis lagern. Einen davon nimmt er heraus und zeigt ihn mir. Es ist eine mittelgroße Brasse, mehr als ausreichend für eine Einmannportion. Ich nicke, und Spyros legt den Fisch auf die Waage. Aus der Vitrine wähle ich noch verschiedene Beilagen. Es fehlt nur noch etwas zu trinken. Dazu gehe ich in den kleinen Gastraum nebenan.

    Fast an jedem Wochenende treffe ich dort Milia hinter einem alten, dunkelbraunen Schreibtisch, auf dem eine Registrierkasse und ein Telefon stehen.

    Sie ist die um ein Jahr jüngere Schwester von Spyros. Wenn sie aus der Stadt mit ihrer Tochter Maria die Familie besuchen kommt, hilft sie am Abend im Restaurant bei der Abrechnung. Sie nimmt dann wieder den Platz ein, den sie vor ihrer Heirat im Familienbetrieb innehatte.

    Milia ist eine herbe Schönheit, durchaus fraulich, mit den aus-

    drucksvollen, dunklen Augen des Vaters, einer tiefen Stimme und langem dunklem Haar, das sie meist straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt. Damit betont sie den Zug zur Strenge. Sie empfängt mich mit einem herzlichen Lächeln, als ich den kleinen Gastraum betrete. Seit ich angekommen bin, haben wir uns noch nicht gesehen. Sie steht auf, kommt auf mich zu, wir umarmen uns, und unsere Wangen berühren sich links und rechts zu einer freundschaftlichen Begrüßung. Ich merke, dass sie sich etwas versteift und sich schnell von mir löst.

    Meine Frage, wie es ihr und Maria geht, kommt der ihren zuvor, und so erhalte ich prompt die Standardantwort: „Danke, sehr gut". Ich beeile mich, ihr zu versichern, dass es mir ebenfalls sehr gut geht, aber ganz besonders, wenn ich sie sehe. Trotz der plumpen Schlichtheit meines Kompliments erkenne ich so etwas wie Verlegenheit in ihrem Gesicht.

    Milia spricht verständliches Englisch, und wir unterhalten uns eine Zeitlang über ihr Kind, ihren Mann und das Geschäft in der Stadt. Dann berichte ich, dass Tochter Janina heiraten wird, Sohn Stephan eine interessante Arbeit gefunden hat, dass Freund Evangelos mit seiner Familie im Herbst hierher kommen wird, dass Katze Pauline nun auch die restlichen Tapeten zerkratzt hat, dass meine Anwaltskanzlei in Berlin jetzt ganz gut läuft, und ich einen jungen Rechtsanwalt eingestellt habe. Das Klingeln des Telefons unterbricht unser Gespräch, eine gute Gelegenheit, zurück an meinem Tisch zu gehen. Vorher entnehme ich dem Kühlschrank eine Flasche Mythos und ein Bierglas aus dem Regal darüber. Mythos schmeckt mir gut. Es ist das einzige griechische Bier, das hier zu haben ist, und stellt eine angenehme Abwechslung gegenüber den sonst üblichen holländischen Marken dar. Ich zeige Milia beim Herausgehen die Flasche. Sie spricht mit dem Anrufer in einem schnellen, lauten griechischen Stakkato. Ich kann nach den vielen Jahren immer noch nicht einschätzen, ob sie mit dem anderen schimpft, streitet, oder ob es sich um das normale Sprechtempo beim Telefonieren handelt. Sie nickt mir zu und notiert etwas auf einem Zettel vor ihr.

    * * *

    Als ich die Restaurantterrasse wieder betrete, sind das erste Paar, Anna und Klaus mit ihrem achtzehnjährigen Sohn Michael, eingetroffen. Anna ist eine attraktive Frau, vermutlich knapp über die Vierzig, mit aschblondem Haar, einem aparten, klugen Gesicht, ausdrucksvollen Augen und einem schönen Mund. Ihre schlanke Gestalt ist harmonisch proportioniert. Sie hat sich sehr herausgeputzt, was ihre Attraktivität in meinen Augen eher mindert. Ich empfinde ihre Kleidung für die hiesige Umgebung zu mondän, Sprechweise und Bewegungen wollen wohl den Eindruck von Exklusivität und Unnahbarkeit vermitteln.

    Ich stelle mir vor, dass sie in einem Mehrsterne-Hotel mit Swimmingpool, Cocktailbar, ein vom Gewicht der Speisen durchgebogenem Büfett, modisch gekleideten, vornehmen Gästen, feiner Restaurantetikette und diskret dahinrauschenden Kellnern besser aufgehoben wäre, als in dieser rustikalen Taverne.

    Dieser Habitus einer Grande Dame wirkt aufgesetzt und löst Abwehr und Abstand in mir aus. Es war ihr Bild, das vorhin am Strand vor meinem geistigen Auge auftauchte, und das ich erschreckt wieder verscheucht habe.

    Im Vergleich zu ihrem Mann Klaus wirkt sie aktiver, zielstrebiger und entschlossener. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, etwa so groß wie Anna, kräftig gebaut, runder Kopf, sehr helle, etwas starr wirkende Augen. Das noch verbliebene Haupthaar ist sorgfältig von der rechten zur linken Seite des Haarkranzes gekämmt, kann aber den breiten Mittelscheitel nicht mehr verbergen. Klaus wirkt sympathisch, ruhig, ausgeglichen, ein wenig versonnen. Wenn er spricht, klingt sächsischer Dialekt an. Die Familie stammt aus der ehemaligen DDR und lebt jetzt in Berlin.

    Ihr Sohn Michael ist ein hübscher, groß gewachsener Bursche, mit den breiten Schultern eines amerikanischen Footballspielers, kurzem blonden Haar, die Augen vom Vater, sonst aber der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Er ist aufgeschlossen und selbstbewusst, was ihn älter und reifer wirken lässt. Die drei Ankömmlinge stehen ein wenig unschlüssig vor den Tischen, die ich zusammengestellt habe. Sie sind sich nicht sicher, ob diese Plätze für sie reserviert sind. Ich bemerke bei ihnen eine gewisse Erleichterung, als sie mich aus dem kleinen Gastraum kommen sehen. Anna murmelt eine Entschuldigung, so spät dran zu sein. Die gerade begonnene Begrüßung findet eine geräuschvolle Fortsetzung, denn jetzt trifft das Düsseldorfer Paar ein – Gabi und Günter. Auch sie entschuldigen sich, dass irgendetwas länger gedauert habe, ohne zu erklären, was es genau war.

    Gabi tritt wie ein Filmstar auf, der seine üppigen körperlichen Reize bewusst und betont zur Geltung bringt. Das hübsche, kindlich-puppenhafte Gesicht ist sorgfältig geschminkt und wirkt dadurch maskenhaft. Ihr kurz geschnittenes, platinblond gefärbtes Haar ist wild und frech in alle

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1