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Strullkötters Gastmahl
Strullkötters Gastmahl
Strullkötters Gastmahl
eBook418 Seiten5 Stunden

Strullkötters Gastmahl

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Über dieses E-Book

Kattenstroth und Schücking sind zu einem Festmahl bei Bauunternehmer Strullkötter eingeladen. Schnell kommt es zu Spannungen unter den Gästen, der Gastgeber zeigt sich von seiner unangenehmsten Seite. Am nächsten Morgen ist die Festgesellschaft eingeschneit und es gibt eine Leiche. Jeder der Anwesenden scheint verdächtig.
Auf der Suche nach dem Täter entdecken Kattenstroth und Schücking, dass es schon einmal ein schicksalsträchtiges Gastmahl bei einem Strullkötter gegeben hat. Und sie müssen feststellen, dass ihrer beider Leben enger mit dem mysteriösen Kult verknüpft ist, der in der Stadt sein Unwesen treibt, als ihnen lieb sein kann.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Mai 2017
ISBN9783742789204
Strullkötters Gastmahl
Autor

Anja Kuemski

Anja Kuemski ist eingeborene Bielefelderin.

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    Buchvorschau

    Strullkötters Gastmahl - Anja Kuemski

    Teil I

    1944

    Kapitel 1

    30. September 1944

    Die Sonne strahlte an diesem späten Samstagvormittag unbekümmert über die Häuserzeilen entlang der Detmolder Straße. Die beinahe sommerlichen Temperaturen lockten viele Bürger vor die Haustür, Kinder spielten unbeschwert auf der Straße, in den Gärten wurde geerntet, was man zuvor zum Eigenbedarf angebaut hatte. Hühner gackerten, wo einst Rosenstöcke gestanden hatten. Der Sinn fürs Praktische war dem Westfalen an sich schon immer zur Hilfe gekommen, wenn es drauf ankam.

    Oberleutnant Kattenstroth wurde hier und da freundlich begrüßt, er war in der Nachbarschaft bekannt. Wenn man nicht so genau hinsah, hätte man sich einreden können, dass Frieden herrschte. In diesem Teil der Stadt sah alles noch recht gut aus, aber andere Viertel hatten schon Schaden genommen, hier und da wirkte Bielefeld wie ein schadhaftes Gebiss.

    Die Bombenangriffe der letzten Wochen und Monate hatten zwar bisher weit weniger Schaden angerichtet als in manch anderer Stadt des Reiches, aber auch in Bielefeld hatte man einsehen müssen, dass der Krieg keinesfalls nur weit entfernt im Osten oder Westen stattfand. Auf seiner Reise von der Ostfront nach Hause vor ein paar Tagen hatte er weit Schlimmeres gesehen, aber hier in der Stadt berührte es ihn stärker, als er sich selber eingestehen wollte.

    Sein Heimaturlaub würde nur ein paar Tage dauern, bis er sich ausreichend von der Verletzung erholt hatte. Eigentlich hatte er keine akuten Beschwerden mehr, nur noch solche, die wohl niemals mehr besser würden, aber er vermutete, der Stabsarzt hatte ihn mal vorübergehend aus der Schusslinie nehmen wollen. Buchstäblich. Gleich nachdem ihm das Eiserne Kreuz an die Brust geheftet worden war, hatte man ihn auf Heimaturlaub geschickt.

    'Kurieren Sie sich aus, Kattenstroth. Wir können besser für ein paar Tage auf Männer wie Sie verzichten, als wenn Sie dauerhaft ausfallen, weil Sie sich zu viel zumuten', hatte der Lazarettarzt gesagt.

    Wenn er ehrlich war, tat das Bein schon noch weh, aber es gab andere Soldaten, die mit weit schlimmeren Verletzungen gleich wieder zurück an die Front beordert wurden. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er sich schonte, während seine Männer seit Wochen unter Dauerfeuer lagen. Zumindest die wenigen, die überhaupt überlebt hatten. Aber Befehl war Befehl und es wäre ihm kaum möglich gewesen, seiner Mutter zu erklären, dass er freiwillig auf ein paar Tage Heimaturlaub verzichtet hatte, von seiner Frau Malwine gar nicht zu reden. Sie hatten sich so sehr gefreut, als er vor drei Tagen unerwartet vor ihrer Tür gestanden hatte. Nur der kleine Alwin hatte sich vor Angst hinter seiner Mutter versteckt. Und das war es, was er ihn wirklich an diesem Krieg verzweifeln ließ.

    Es war das allererste Mal, dass er seinen Sohn überhaupt sah. Der Junge war drei Jahre alt und er hatte nichts davon mitbekommen. Weder die ersten Schritte, noch die ersten Worte. Er war ein Fremder für seinen eigenen Sohn. Je eher der Krieg vorbei war, desto besser. Aber er würde sich hüten, diesen Gedanken laut auszusprechen.

    Mit ansehen zu müssen, wie die Familie sich abplagte, während er nichts tat, behagte ihm aber nicht. Also hatte er einfach mitgeholfen im Geschäft, so wie früher auch. Gestorben wurde eben immer, ob Krieg oder nicht, hatte schon sein Großvater stets betont, wenn es darum ging, welchen Beruf er sinnvollerweise ergreifen sollte. Die Familie hatte schon immer in der Branche gearbeitet, so weit man den Stammbaum überhaupt zurückverfolgen konnte, schon zu einer Zeit, als man noch Leichenfrauen dafür in der Stadt beschäftigte. Jetzt, wo die Bomben auch auf Bielefeld fielen und allein die Organisation des Alltags so viel mehr Zeit in Anspruch nahm, gab es für die Bestatter so viel zu tun, dass man froh war, eine zusätzliche Hand zu haben. Buchstäblich eine Hand. Die Linke war nicht mehr wirklich zu gebrauchen. Erfrierungen in allen Fingern.

    Dabei hatte er noch Glück gehabt, denn die Füße waren noch einigermaßen verschont geblieben. Zumindest hatte es gereicht, um tagelang durch die verschneiten Weiten Russlands zu laufen, nachdem der Großteil seiner Division vernichtet worden war. Das hatte das Oberkommando aber nicht davon abgehalten, ihm noch einen Orden anzuheften. Medaille für die Winterschlacht im Osten. Gab es, wenn einem die Gliedmaßen abgefroren waren und man trotzdem noch kämpfte. Ganz schön dämlich eigentlich. Und bei der Gelegenheit hatte es dann auch noch das Infanterie-Sturmabzeichen in Silber gegeben.

    Was er mit dem ganzen Zeug sollte, wusste er nicht. Natürlich machte es hier und da Eindruck auf manche Leute, aber satt wurde man davon auch nicht. Und eigentlich lag es nicht mal in seiner Absicht, irgendjemanden beeindrucken zu wollen. Wozu auch. Für ihn galt es, diesen Krieg irgendwie zu überleben. Erst recht, nachdem er gesehen hatte, wie schwer es für die Familie zu Hause war, über die Runden zu kommen. Lange konnte es doch nun wirklich nicht mehr dauern.

    Der Russe drängte sie gnadenlos zurück, im Westen musste man ebenfalls immer mehr ausweichen vor der Übermacht der Alliierten. Da konnte der feine Herr Hinkebein im Reichsrundfunk noch so viel plärren vom totalen Krieg und vom Endsieg. Er glaubte nicht mehr daran. Es sollte einfach nur noch vorbei sein. Kattenstroth musste grinsen. Gut, dass die Partei noch kein Mittel gefunden hatte, die Gedanken zu kontrollieren, sonst würde er gleich abgeholt. Einfach von der Straße in ein Auto gezerrt. Ein schwarzes. Unbedingt ein schwarzes Auto. Die Gestapo hatte heimlich doch zu viele Hollywood-Filme geschaut.

    Er hatte auch daran geglaubt, an die Notwendigkeit, dem Kommunismus etwas entgegenzusetzen, an den Anspruch des Führers, Deutschland wieder auf eine Augenhöhe zu bringen mit den anderen Mächten in Europa und an die Hoffnung, dass mit einem starken Mann an der Spitze alles besser werden würde. Er war vaterlos aufgewachsen, ein dreijähriger Halbwaise.

    Der große Krieg war damals so unvorstellbar für ihn gewesen und doch im Vergleich zu dem, was er nun selbst erlebt hatte, nur eine vage Erinnerung, die im Sperrfeuer des Feindes endgültig verblasst war. Aber er erinnerte sich an die Zeit vor Hitler, als auf den Straßen das reinste Chaos herrschte, man kaum noch wusste, wer da gerade auf wen eindrosch. Wie so viele andere hatte er geglaubt, dass nur mit starker Hand wieder Ordnung geschaffen werden könnte. Und war es nicht auch tatsächlich so gekommen? Hatte es nicht anfangs ausgesehen, als würde wirklich alles besser?

    Was er damals nicht gesehen hatte oder nicht sehen wollte, war, dass sich diese Verbesserungen nur auf Kosten anderer erreichen und bewahren ließen. Als aber Männer wie Eduard Pannhorst plötzlich Karriere machen konnten, innerhalb weniger Jahre vom Gehilfen in einer Senfmühle zum Ortsgruppenleiter, das hatte ihm schon zu denken gegeben.

    Wenn man sich bedingungslos in den Dienst der Partei stellte, standen einem alle Türen offen. Man musste nur rücksichtslos genug sein, alle anderen beiseite drängen zu wollen oder sich bei den richtigen Leuten anzubiedern. Aber das war für ihn selber nie infrage gekommen, nicht nur, weil er keinerlei Interesse an einer Karriere hatte, sondern vor allem, weil seine Mutter von Anfang an vor dem Mann mit dem lächerlichen Bärtchen gewarnt hatte. Das war ihre einzige Art, von Hitler zu reden. Der Mann mit dem lächerlichen Bärtchen.

    Es hatte ihn und Malwine einige Mühen gekostet, die Mutter davon zu überzeugen, so etwas vielleicht zu denken, aber besser nicht mehr auszusprechen. Seine Mutter war so tief in der Kirche verwurzelt, dass es ihr nie in den Sinn gekommen wäre, sich einer Bewegung anzuschließen, deren Verhältnis zur Kirche gelinde gesagt fragwürdig war.

    Seit gestern hatte er außerdem noch den vagen Verdacht, dass seine Mutter eventuell in illegale Aktivitäten verstrickt sein könnte. Bevor er wieder abreiste, musste er unbedingt noch einmal ein warnendes Gespräch mit ihr führen. Wenn seine Vermutung stimmte, dann benutzte sie Trauerfeiern, um den kirchlichen Widerstand zu unterstützen. Was genau sie da alles tat, wollte er lieber nicht wissen. Insgeheim bewunderte er sie dafür, aber wenn es herauskam, waren sie alle dran. Er musste eben auch an Malwine und Alwin denken, selbst wenn er innerlich mit dem Verhalten der Mutter durchaus einverstanden war.

    Als er gestern die Einladung zum Mittagessen bei Heinrich Strullkötter bekommen hatte, war er mehr als überrascht gewesen. Tatsächlich war sein erster Gedanke, dass es eine Falle sein könnte und man ihn wegen Wehrkraft zersetzender Gedanken verhaften würde, sobald er dessen Haus betrat.

    Immerhin war Fabrikant Strullkötter Parteimitglied und verstand sich ausgezeichnet mit den örtlichen Nazi-Größen. Seine Mutter und seine Frau hatten sich auch gewundert, weil doch der Pannhorst da ein und aus ging. Und der hatte die Familie Kattenstroth noch nie leiden können. Ortsgruppenleiter Pannhorst konnte offenbar nicht verwinden, dass Malwine damals lieber einen Bestatter geheiratet hatte, anstatt einen Parteigänger mit großer Karriere.

    Sein erster Gedanke war also gewesen, nicht hinzugehen. Aber Malwine hatte ihn ausgelacht und gemeint, dass man so viele Hintergedanken nicht mehr erwarten könne von den Goldfasanen. Wenn die ihn hätten verhaften wollen, wäre das längst geschehen. Eine Falle brauchten die niemandem mehr zu stellen. Stattdessen hatte sie ihn gedrängt, die Einladung anzunehmen, denn es könne ja nicht schaden, so zu tun, als gehe man einigermaßen konform mit den Parteibonzen.

    Das hatte ihm nicht behagt, er wollte sich eigentlich nicht von denen vereinnahmen lassen. Es musste reichen, dass er sein Leben für Volk, Vaterland und Führer aufs Spiel setzte. Für Letzteren vor allem. Vom Volk und vom Vaterland würde bald wahrscheinlich sowieso keiner mehr sprechen. Und ob der Führer in seinem Bunker überhaupt noch etwas davon mitbekam, was in seinem Reich vor sich ging, wer konnte das schon sagen.

    Nach wie vor gab es eine Menge Gerüchte, die besagten, dass das Attentat sehr wohl Spuren hinterlassen habe und es um die Gesundheit des Führers nicht gut bestellt war. Stattdessen traten seine Paladine immer häufiger in Erscheinung und das machte es auch nicht besser.

    Kattenstroth konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie eine Zeit nach dem Krieg aussehen würde, aber noch weniger konnte er sich vorstellen, wie das Reich ohne Hitler existieren sollte, und er hatte den starken Verdacht, dass es auch sonst niemand konnte, einschließlich des Führers.

    Kattenstroth hatte sich erst noch die Bombenschäden in der Innenstadt angeschaut, was ihm sehr nahegegangen war, und ging nun die Detmolder Straße hinunter Richtung Brands Busch. Es war angenehm warm und nicht sehr weit bis zu seinem Gastgeber.

    Die Fabrik Strullkötter lag gleich gegenüber der Gaststätte „Zum Schwan". Kurz war er versucht, lieber dort zu Mittag zu essen. Andererseits gab es in den meisten Gaststätten nur noch wenige Speisen, die Zuteilung per Bezugsmarken war keine Garantie, dass man überhaupt etwas Anständiges anbieten konnte. Es hatte sogar einen Erlass gegeben, dass Gastwirte zweimal in der Woche ausschließlich Gerichte anbieten durften, die es auch im Feld für die Soldaten gab. Wer dachte sich nur so etwas aus? Da kam man als Soldat in die Heimat, wollte sich nur einmal mit etwas Anständigem satt essen und dann gab es im Gasthaus Feldküchenfraß. Also folgte er wohl doch besser der Einladung.

    Es war anzunehmen, dass Strullkötter seine Verbindungen dazu nutzte, seinen eigenen Speiseplan ordentlich auszustatten. Wenigstens wurde er mal richtig satt, wenn er sich schon mit den örtlichen Parteigrößen an einen Tisch setzen musste. Zumindest war nicht zu erwarten, dass er der einzige Gast sein würde. Sein Verdacht, verhaftet zu werden, war in der Tat eher unwahrscheinlich, aber ohne Grund eingeladen zu werden, ebenfalls. Irgend etwas musste Strullkötter sich davon versprechen. Sie kannten sich nur flüchtig, wie man sich eben kannte, wenn man sein Leben lang in der Nachbarschaft gewohnt hatte.

    Er nahm nicht an, dass man von ihm einen schonungslosen Bericht von der Ostfront hören wollte. Vielleicht sollte er aufhören, sich darüber Gedanken zu machen und es einfach nur hinter sich bringen. Andererseits war es dringend geboten, auf der Hut zu sein. Man konnte nie wissen, wann sich die Goldfasane auf den Schlips getreten fühlten. Ein falsches Wort und die ganzen Orden an seiner Brust waren nichts mehr wert.

    Er hatte sie auf Drängen Malwines auf Hochglanz poliert und an seine Uniform geheftet, obwohl er sie eigentlich nicht gern trug. Für ihn waren sie weniger ein Zeichen besonderer Tapferkeit, als vielmehr ein Symbol dafür, überlebt zu haben, im Gegensatz zu den meisten Kameraden aus seiner Division. Die hatte vor etwa drei Monaten einfach aufgehört zu existieren. Ausgelöscht. Nur eine handvoll Soldaten hatten sich retten können. Er fühlte sich schuldig. Er hätte mit seinen Kameraden dort sterben sollen. Stattdessen würde er mit Bielefelder Nazi-Größen an einem Tisch sitzen, sich mit feinen Damast-Servietten die Schildkrötensuppe von den Lippen tupfen und über den Endsieg schwafeln.

    Er blieb stehen. Sollte er wirklich hingehen? Noch konnte er einfach wieder kehrtmachen. Aber was sollte er Malwine erzählen? Konnte er die Situation seiner Familie verbessern, wenn er da hinging? Würden sie dann Nahrungsmittel ohne Lebensmittelkarte bekommen?

    Alwin war ein wenig kränklich, etwas besseres Essen wäre also durchaus ein lohnenswertes Ergebnis, wenn er sich schon dazu hergab. Er musste auch daran denken, dass er der Familie zusätzlich auf der Tasche lag. Es gab für ihn keine Bezugskarte, sie mussten ihn von den Zuteilungen der anderen mitversorgen. Da sollte er wohl besser jede Gelegenheit nutzen, woanders zu essen. Am Ende wollte Strullkötter sich vielleicht einfach nur mit einem Kriegshelden schmücken.

    Kriegsheld. Er konnte sich selbst kaum ertragen. Er fand es falsch, eine Anstecknadel dafür zu bekommen, dass er nicht gestorben war. Er hätte sterben müssen, genau wie der Soldat, der nur wenige Schritte vor ihm zerfetzt worden war. Die Druckwelle hatte ihn von den Füßen gerissen. Und nur das war der Grund, warum er noch am Leben war. Die Mutter oder die Ehefrau jenes Soldaten würde nichts bekommen als einen kurzen Brief.

    Er hatte nach der Hand des Toten gesucht, um wenigstens den Ehering zu bergen. Er wusste, Malwine hätte sich gewünscht, wenigstens den Ring zu bekommen, wenn er gefallen wäre. Aber er hatte die Hand nicht finden können. Und dann war er einfach umgefallen. Ein paar Kameraden hatten ihn aufgesammelt und ein gutes Stück getragen, weg von der Front, weg von den unzähligen Toten. Sie hätten den Orden verdient, nicht er.

    Er wusste nicht, was aus ihnen geworden war, nachdem sie ihn im Feldlazarett abgeliefert hatten. Wahrscheinlich waren sie ebenso dumm wie er selber und hatten sich gleich beim nächstbesten Offizier zum Dienst gemeldet. Das hatte er auch, aber er war erst ausgelacht worden und dann wieder umgefallen. Musste irgendwie mit seinen Ohren zu tun haben. Er schwankte seither oft wie ein Seemann im Sturm.

    Wie lang der kurze Weg doch sein konnte. Entfernungen verloren irgendwie ihre Bedeutung, wenn man wochenlang durch die Weiten Russlands gestapft war, nur um dann aus nächster Nähe mit den Leichenteilen der Kameraden bespritzt zu werden.

    Wenn er weiter so trödelte, würde er die Vorspeise verpassen. Wahrscheinlich mochte er sowieso keine Schildkrötensuppe. Andererseits überschätzte er vielleicht auch Strullkötters gute Verbindungen und es gab nur Kartoffeln und Steckrüben. Etwas anderes schien es daheim schon länger nicht mehr zu geben. Und das, obwohl es im Heeresverpflegungsamt in der Meisenstraße noch reichlich Reserven gab. Das wusste er sicher. Was für ein Hohn, dass nur ein paar Minuten von hier so viele Nahrungsmittel lagerten, die dringend benötigt wurden, aber niemand tat etwas.

    Es war ziemlich ausgeschlossen, dass die Vorräte ihr Ziel an der Front jemals erreichen würden. Ein großer Teil der Zugverbindungen war bereits zerstört und die Kompanien, die man damit hätte ernähren wollen, existierten gar nicht mehr. Vielleicht sollte er das gleich mal erwähnen, dass man damit der Bevölkerung etwas Gutes tun könnte. Andererseits war es vielleicht doch klüger, auf Malwine zu hören und einfach den Mund halten. Beim Essen spricht man nicht. Ein guter Rat, wenn es je einen gegeben hatte.

    Entschlossen legte er die letzten Meter zur Fabrik Strullkötter zurück, es half ja nichts.

    Die Villa aus der Gründerzeit lag gleich schräg gegenüber der Fabrik, wo um diese Tageszeit noch jede Menge Ostarbeiter zum Wohle des Deutschen Volkes kriegswichtiges Material herstellten. Alles für den Endsieg.

    Er klingelte, bevor er es sich doch noch anders überlegen konnte.

    Kapitel 2

    Ein adrett gekleidetes Dienstmädchen öffnete Kattenstroth und führte ihn in das geräumige Wohnzimmer. Dort hatten sich offensichtlich bereits weitere Gäste versammelt. Zu Kattenstroths Kummer war Ortsgruppenleiter Pannhorst tatsächlich unter ihnen. Die anderen Anwesenden ignorierte er zunächst, da der Hausherr bei seinem Eintreten aufgesprungen war und nun auf ihn zu eilte, als begrüße er einen lange verschollen geglaubten Freund.

    „Mein lieber Kattenstroth! Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, nicht wahr, Auguste?", fragte er die magere Frau an seiner Seite, die mit etwas verkniffenem Lächeln nickte und ebenfalls auf ihn zukam.

    Heinrich August Strullkötter war kein Mann, dem man ohne guten Grund widersprach, und sie hatte ohne Zweifel über die Jahre gelernt, das nur im Notfall zu tun. Dass sie sich wirklich Sorgen gemacht hatte, konnte ernsthaft bezweifelt werden, denn es war nicht so, dass man oft miteinander zu tun hatte. Hin und wieder lief man sich über den Weg, grüßte, sprach ein paar Worte. Seit er vor fünf Jahren erst nach Westen und dann nach Osten abgerückt war, hatte er sie überhaupt nur ein einziges Mal gesehen, beim letzten Heimaturlaub. Und da hatte er wahrlich andere Interessen gehabt, als mit den Nachbarn zu plaudern. Damals hatte ihn nichts anderes gekümmert, als endlich seine Frau zu sehen. Zwei Tage hatte er bleiben dürfen, dann hatte er wieder zurückgemusst zur Truppe, die auf dem Weg nach Osten war.

    „Herr Strullkötter. Gnädige Frau", sagte er artig und grüßte militärisch zackig.

    „Heil Hitler!", brüllte Eduard Pannhorst neben ihm und schaute ihn von oben herab an.

    Kattenstroth seufzte innerlich. Das konnte ein langes Essen werden. Anstatt zu antworten, nickte er nur und wandte sich den anderen Gästen zu.

    Auguste Strullkötter wusste, was von ihr erwartet wurde, und stellte sie ihm vor.

    „Zuerst die Damen, ich weiß ja, was sich gehört. Darf ich Ihnen also Elsbeth Hartung vorstellen? Sie ist eine erfolgreiche Heimatdichterin. Zum letzten Geburtstag unseres Führers hat sie ein Gedicht verfasst, das sogar in der Zeitung abgedruckt wurde. Sie ist außerdem stellvertretende Führerin in der NS-Frauenschaft unserer Ortsgruppe."

    Kattenstroth nahm die Hand der Dichterin und deutete einen Handkuss an, anstatt den Arm zu heben, was sie nicht zu stören schien, sondern ihr rundes Gesicht mit einer leichten Röte überzog.

    Er war sich sicher, den Namen schon einmal gehört zu haben. Malwine turnte im Verein an der Königsbrügge und da kam man an der NS-Frauenschaft einfach nicht vorbei. Frau Hartung war nicht nur rein äußerlich eine Vorzeige-Deutsche, sondern hatte die treue Gefolgschaft des Führers derart verinnerlicht, dass sie jedes Mal bei der Erwähnung seines Namens verzückt aufseufzte. Zumindest behauptete Malwine das. Er nahm sich vor, darauf zu achten.

    „Und sicherlich haben Sie auch schon von Thea Winter gehört, dem kommenden UFA-Star. Sie hat ihre Karriere hier am Stadttheater begonnen, aber inzwischen dreht sie auch mit Gründgens."

    „Aber nicht doch", wehrte die junge Dame mit schlecht gespielter Bescheidenheit ab, beobachtete aber dann sehr genau durch ihre langen falschen Wimpern hindurch seine Reaktion.

    „Mit Gründgens, alle Achtung", erklärte Kattenstroth bereitwillig und deutete bei ihr ebenfalls einen Handkuss an.

    Zufrieden lächelte sie und ließ ihre Hand noch einen Moment in seiner verharren. Seines Wissens nach hatte die junge Schauspielerin mitnichten an der Seite von Gustaf Gründgens gefilmt, sondern hatte es lediglich bewerkstelligt, auf ein Foto mit ihm zu gelangen, welches anlässlich einer Filmpremiere in Berlin gemacht worden war. Allerdings stand zu erwarten, dass sie mit ihrem Aussehen beim Hinkebein durchaus Chancen hatte, in die Riege der begehrten UFA-Stars aufzusteigen, die in erster Linie an seiner Seite glänzten, anstatt auf der Leinwand.

    Er hielt es nicht für nötig, seine Gedanken zu dem Thema mitzuteilen und wandte sich den beiden Herren zu, die er noch nicht kannte.

    „Oberbaurat Rudolf Möller, mein lieber Kattenstroth, hat große Pläne für unseren Kesselbrink. Er möchte es unserem Führer gleichtun und die Überlegenheit des deutschen Volkes durch ebensolche Bauten dokumentieren. Seine Entwürfe stehen denen des Herrn Speer in nichts nach, wenn ich das so sagen darf."

    „Wirklich beeindruckend", schwafelte Kattenstroth und fragte sich, ob er schon jetzt zu gelangweilt klang. Aber entweder schien niemand seine Mühe zu bemerken oder man war es so sehr gewohnt, mit einem gewissen Maß an Scheinheiligkeit umzugehen, dass es niemanden mehr überraschte.

    „Wir werden in Bielefeld einen Aufmarschplatz haben, da träumt man in Nürnberg nur von, protzte der Oberbaurat. „Haben Sie da schon mal …? Also, sind Sie da aufmarschiert, Kattenstroth?

    „Nein, als das groß in Mode kam, stand ich an der Westfront."

    Irritiert rückte Möller seine Brille zurecht und schaute tadelnd zu Strullkötter, als sei es dessen Schuld, dass Kattenstroth sich ungehörig benahm. Die Hausherrin überspielte die Situation gekonnt und stellte auch den letzten Herrn vor.

    „Wolfgang Wichmann, stellvertretender Chefredakteur der Westfälischen Neuesten Nachrichten."

    „Heil Hitler", sagte der Mann mit Nachdruck und hob die Hand zum Gruß. Kattenstroth warf einen verstohlenen Blick auf Frau Hartung und musste ein Lachen unterdrücken. Malwine hatte Recht gehabt. Statt den Gruß zu erwidern, lächelte er den Redakteur unverbindlich an.

    „Und dies ist natürlich Richard Kattenstroth, Oberleutnant der 6. Infanterie-Division, Träger des Eisernen Kreuzes Zweiter Klasse, Infanterie-Sturmabzeichen in Silber und der Medaille Winterschlacht im Osten. Wir sind stolz auf Sie, Kattenstroth, wirklich stolz."

    Tatsächlich sah Strullkötter so aus, als würde er vor Stolz platzen, als hätte er höchstselbst den weiten Weg nach Russland unternommen, um ihm das Zeug an die Brust zu heften. Aber keiner der hier Anwesenden war je über die Grenzen Westfalens hinausgekommen, da war Kattenstroth sich ziemlich sicher.

    „Ich fürchte, ich muss Sie korrigieren, Herr Strullkötter. Die 6. Infanterie-Division existiert nicht mehr, es gab nur ein paar hundert Überlebende. Wir wurden eingesammelt und zusammen mit der 552. Grenadier-Division neu aufgestellt. Wir sind jetzt die 6. Grenadier-Division und wenn ich die Lage richtig einschätze, wird es die auch nicht lange geben."

    „Das ist …, das sollten Sie nicht …", stammelte der Hausherr und blickte sich um, als befürchte er, die Gestapo würde ihn abholen, weil er nicht verhindert hatte, dass jemand so etwas aussprach.

    Ortsgruppenleiter Pannhorst ließ es sich natürlich nicht nehmen, sofort darauf hinzuweisen, dass solche Äußerungen schon gefährlich nahe an Volksverhetzung grenzten und nur deshalb mit Nachsicht zu behandeln waren, weil er sicherlich noch unter den Folgen seiner Verletzung litt.

    „Ansonsten möchte ich aber doch darauf bestehen, solche antideutschen Äußerungen nicht hören zu müssen." Er bedachte Kattenstroth mit einem boshaften Blick.

    „Ich bin sicher, der Oberleutnant hat es nicht so gemeint, Eduard", erklärte die junge Schauspielerin und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu, der wohl mondän wirken sollte, jedoch eher dazu führte, dass Kattenstroth sich vornahm, ihr aus dem Weg zu gehen. Was auch immer da im Dunstkreis des Hinkebeins so üblich war, er wollte lieber nichts davon wissen.

    „Tja, wollen wir uns dann zu Tisch begeben?" Auguste Strullkötter reichte ihm ihren Arm und signalisierte ihm damit, dass er offenbar Ehrengast war. Das entsprach erst recht nicht seinen Vorstellungen eines gelungenen Mittagessens, ließ sich aber nun wohl nicht mehr vermeiden.

    Erneut rief er sich die Ermahnungen seiner Gattin ins Gedächtnis, nichts Unbedachtes zu sagen. Bisher war er da offenbar nicht sonderlich klug vorgegangen. Manchmal war der Mund einfach schneller als das Hirn.

    Als man saß, brachte das Dienstmädchen eine Suppenterrine herein und schöpfte jedem ungefragt etwas in den Teller. Anscheinend hatte er sich ganz erheblich verspätet, wenn man sich jetzt so beeilte mit dem ersten Gang.

    „Es tut mir leid, gnädige Frau, dass ich so spät gekommen bin, aber im Geschäft …" Er ließ den Rest offen und lächelte die Hausherrin entschuldigend an.

    „Sie sind auf Heimaturlaub und helfen im Geschäft aus? Kattenstroth, Sie sind ja ein ganz Unverwüstlicher", spottete Pannhorst.

    „Ich finde es imponierend, dass Sie Ihrer lieben Frau helfen, trotz der schweren Verwundungen."

    Frau Strullkötter lächelte ihn besonders freundlich an. Offenbar konnte sie den Ortsgruppenleiter auch nicht leiden.

    „Welcher Art waren denn Ihre Verletzungen?", wollte die junge Schauspielerin wissen.

    Kattenstroth würde nie verstehen, worin der Reiz für diese jungen Frauen lag, ausgerechnet danach immer wieder zu fragen. Bewunderung lag in ihrem Blick, aber auch eine unterschwellige Erregung, die seine Befürchtungen zu bestätigen schien.

    „Granatsplitter im Bein, Erfrierungen in Händen und Füßen, Schussverletzung am Hals", spulte er herunter. Es war ihm unangenehm, darüber zu reden und er wollte keinesfalls, dass es zum zentralen Thema bei diesem Essen wurde.

    Wie zu erwarten, reckten alle ihre Hälse, um wenigstens eine Narbe am Hals zu erkennen, aber der Kragen seiner Uniform verhinderte das glücklicherweise. Schlimm genug, dass man seiner linken Hand ansah, dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen war, selbst wenn es nur darum ging, die Gabel ordentlich festzuhalten. Mit etwas Glück würde er damit als untauglich für die Front eingestuft, wenn er in ein paar Tagen zum Stabsarzt ging. Zumindest hatte der Arzt im Lazarett das angedeutet, bevor er ihn in die Heimat geschickt hatte.

    „Ich bin sicher, es gibt appetitlichere Themen zum Essen", gab er schließlich zu bedenken und hoffte, dass wenigstens Frau Strullkötter diesen Hinweis aufnehmen würde.

    Nachdem jeder Suppe bekommen hatte und auch die Weingläser gefüllt waren, hob der Gastgeber seines an.

    „Verehrte Damen, werte Herren, ich möchte mich bedanken, dass Sie alle der Einladung in mein bescheidenes Domizil gefolgt sind an diesem wunderschönen sonnigen Tag. Heute vor vierzig Jahren hat mein Vater das Grundstück nebenan erworben und damit die Weichen gestellt, um aus einer kleinen Taschenfabrikation ein Unternehmen von Weltruf zu erschaffen. Fahrräder aus Bielefeld radeln überall in der Welt, er wartete, bis alle gebührend über diesen Reim geschmunzelt hatten, „und nun obliegt es mir, daraus ein Unternehmen zu erschaffen, das nach dem Endsieg als Vorbild für andere dienen soll. Schon heute produzieren wir kriegswichtige Maschinengewehrteile, die dringend an der Front benötigt werden. Und diesen denkwürdigen Tag vor vierzig Jahren möchte ich heute im Kreise lieber Freunde feiern. Heil Hitler.

    „Heil Hitler", antworteten alle, was der guten Frau Hartung sichtlich einen Schauer über den Rücken jagte. Heinrich Strullkötter prostete ihnen zu und sie tranken von dem Weißwein. Kattenstroth verstand nicht viel davon, aber er musste zugeben, dass er sehr gut schmeckte.

    Prüfend blickte er auf seinen Teller, um sich die Suppe genauer anzusehen, bevor er davon aß. Farbe und Geruch ließen ihn jedoch nicht lange im Zweifel, was er da vor sich hatte und beruhigt begann er zu essen. Kürbissuppe. Das war unverfänglich und konnte selbst einem linientreuen Parteigenossen wie Eduard Pannhorst nicht den Appetit verderben.

    Um alle Missverständnisse auszuräumen, sah sich die Gastgeberin offenbar auch genötigt, eine grundsätzliche Erklärung abzugeben. Frau Strullkötter war eine umsichtige und kluge Frau, das musste Kattenstroth anerkennen.

    „Damit Sie sich nicht wundern, was wir heute alles auf den Tisch zaubern, kann ich Sie beruhigen, selbstverständlich muss niemand auch nur einen einzigen Abschnitt seiner Bezugsscheine abgeben."

    Alle lachten höflich, wobei der

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