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Oliver Hell Schattenkind: Oliver Hells neunter Fall
Oliver Hell Schattenkind: Oliver Hells neunter Fall
Oliver Hell Schattenkind: Oliver Hells neunter Fall
eBook423 Seiten6 Stunden

Oliver Hell Schattenkind: Oliver Hells neunter Fall

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Über dieses E-Book

Der Mann presste seine Handflächen gegen die Schläfen und gab einen unterdrückten Schrei von sich. Schrie in sich hinein, bis die Lunge und sein Zwerchfell schmerzten. Biss die Zähne aufeinander, bis sie ein ungesundes Knirschen erzeugten. Doch je stärker er presste, desto schlimmer wurde der Schmerz. Oder hatte das nichts miteinander zu tun? Er riss die Hände abrupt weg von seinem Kopf, ohne Effekt. Der Schmerz fuhr ihm vom Kopf aus in seinen Nacken, von dort aus über den Rücken bis in die Füße, bis in die Zehen. Jetzt hielt er es nicht mehr aus und begann zu schreien, als würde er bei lebendigem Leib in heißem Teer versenkt.

Karnevalszeit in Bonn 2015. In einem Park unweit der Bonner Universitätskliniken findet man einen Toten. Am Tatort ein jugendlicher Zeuge, der kein Wort spricht. Kaum beginnt das Team um Hauptkommissar Oliver Hell mit den Ermittlungen, wird in derselben Siedlung eine weitere Leiche entdeckt. Mitten in den tollen Tagen müssen die Bonner Ermittler einen Mörder finden, der maskiert und gut getarnt unter den Bonner Jecken einen Rachefeldzug unter Medizinern der Bonner Universität weiterführt.
Bei der Aufklärung fragen sich die Bonner Ermittler schnell, ob der rätselhafte Junge, dem Psychologen eine autistische Störung attestieren, der Schlüssel zur Lösung der Mordfälle ist …
Kontakt:
facebook.com/michaelwagner.autor
walaechminger.blogspot.de/
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. März 2017
ISBN9783742794079
Oliver Hell Schattenkind: Oliver Hells neunter Fall
Autor

Michael Wagner

Michael Wagner is the author of more than 80 books for children including the much-loved Maxx Rumble series, the CBCA Notable picture books Why I Love Footy, Why I Love Summer and Bear Make Den (which he co-authored with Jane Godwin) and the So Wrong series which was shortlisted for multiple children's choice awards in 2019 and 2020.

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    Buchvorschau

    Oliver Hell Schattenkind - Michael Wagner

    Mittwoch, 13.07.1988

    Gelsenkirchen

    Der Junge stand in einer Haltung da, als könne er nicht verstehen, was dort gerade passiert war. Sein Oberkörper war zwar nach vorne gebeugt, als wolle er sich auf jemanden stürzen. Doch der Rest des Körpers war merkwürdig spannungslos, seine dünnen Arme hingen schlaff neben seinem schmächtigen Oberkörper. Angesichts dessen, was sich gerade dort vor ihm abspielte, war das nicht nachzuvollziehen. Auf dem Boden des Kellers wälzte sich ein Kind, aus dessen Kehle gurgelnde Laute hervordrangen. Seine Hände krallten sich an seinen Hals. Der Beobachter blieb starr. Vor ihm lag sein Bruder. Sie hatten gespielt, das war im Keller ihres Elternhauses streng verboten. Doch der kleine Bruder hatte ihn überredet. Jetzt lag er da, sie hatten Cowboy und Indianer gespielt, so wie Winnetou und Old Shatterhand. Der Bruder hatte ihn gefesselt, das hatte ihm nicht gefallen. Er hatte angefangen, zu schreien, weil er diese Art Spiel nicht mochte. Gefesselt zu sein machte ihm Angst. Um nicht aufzufallen, hatte der Bruder ihm den Mund zugehalten.

    „Hör auf, ist schon gut. Die Eltern hören uns sonst, hatte er geflüstert. Er hatte genickt. Sein Bruder ließ dann von ihm ab, forderte ihn stattdessen auf, ihn zu fesseln. Das hatte er getan. Legte ihm das Lasso um den Hals und der Bruder rannte los, als sei er ein Wildpferd. Das Lasso zog sich zu. Er ließ das Seil los. Der Bruder fiel, röchelte, seine Beine fuhren wie irre über den Boden. Der Junge verstand nicht, dass es ein Todeskampf war. Er blieb wie versteinert stehen. Dann hörte er das erlösende Trampeln von Füßen auf der hölzernen Kellertreppe. Seine Eltern. Lautes Schreien. Er wurde angerempelt, beiseitegeschoben. Sein Vater machte einige eilige Schritte auf den Bruder zu, er wurde hochgerissen, das Seil von seinem Hals gezerrt. Seine Mutter schüttelte ihn, schaute ihn verzweifelt, beinahe hasserfüllt an. Doch diese Gefühlsregung verstand er nicht. „Was hast du getan?, schrie sie, stieß ihn dann beiseite, stürzte auf ihren jüngeren Sohn zu, kniete sich schluchzend neben ihren Mann. Der Vater küsste den Bruder, drückte ihm auf die Brust. Immer wieder. Eine nicht endende Ewigkeit lang. Später kamen fremde Männer mit orangeroten Anzügen. Eilten an ihm vorbei, sprachen laut und später ruhig. Sein Bruder wurde fortgebracht und kam nie wieder. 

    *

    Donnerstag, 22.05.2014

    New York City, NY, Vereinigte Staaten

    In allen Versuchslaboren auf allen Kontinenten dieser Welt galt ein Gesetz: Das Geschöpf dient dem Leben.

    Animal servit vitae.

    Dieser Spruch stand auch über dem Haupteingang zu den Forschungslaboren, in denen mehrere Menschenaffen in für ihre Verhältnisse kleinen Käfigen lebten. Tierschutz und Tierwohl waren hier wie dort Fremdwörter. Wenn man davon ausgeht, dass ein Schimpanse in freier Wildbahn ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern auf der Suche nach Nahrung durchstreift, waren vier Quadratmeter armselig. Eine Zumutung, eine Qual. Zwei von ihnen hatten das Glück, in einer größeren Behausung leben zu können. Dort gab es eine zweite Ebene, es war ein sehr großer Ast darin aufgestellt, mit dem man vom Boden aus kletternd diese zweite Ebene erreichen konnte. Dort gab es ein Nest aus Blättern, die sich der Affe selber dorthin tragen konnte. So sollte der letzte Rest an selbständigem Handeln simuliert werden. Ein kaum zu ertragender Rest für ein freiheitsliebendes Tier. Diese beiden Affen waren die Protagonisten in einem Experiment. Lange hatte der Forschungsleiter nach diesen Tieren gesucht, bis er in Afrika in einem Tierpark fündig geworden war. Dort wurden Tiere versorgt, die in freier Wildbahn nicht überlebensfähig gewesen wären. Diese beiden Affen zeigten ein Verhalten, dass sie von ihren Artgenossen unterschied und auch für diese als gefährlich darstellten. Sie hatten aus welchem Grund auch immer die Affensprache nie gelernt oder wieder verlernt. So wie es Hunde gab, die isoliert aufgewachsen, den Umgang mit ihren Artgenossen nie gelernt hatten. Sumbo und Big T. waren Außenseiter. Die Wildhüter und Tierpfleger, die mit ihnen umgegangen waren, berichteten, dass diese Affen sich manchmal wie wild gebärdeten, dann wieder minutenlang still und regungslos dasaßen und in eine völlig eigene Welt abgeglitten zu sein schienen. Irgendjemand attestierte ihnen ein fast autistisches Verhalten. Durch den Titel in einer Fachzeitung war der Laborleiter auf sie aufmerksam geworden.

    ‚The autistic chimps‘ war der Titel des Aufsatzes gewesen, den ein afrikanischer Kollege verfasst hatte. Mit diesem Aufsatz besiegelte er das Schicksal von Sumbo und Big T. Seit November 2012 lebten diese beiden Schimpansen jetzt in New York City. Eine Reihe von Versuchen hatte belegt, dass es tatsächlich so eine Art Autismus war, an dem sie litten. Eine Affenvariante.

    Der Leiter der Forschungsgruppe schien vor Freude überzuschäumen, als er die Ergebnisse der Tests vor sich hatte. Kurz drauf bekam er die Erlaubnis, mit seinen Forschungen zu beginnen. Tatsächlich schienen die Medikamente, die man den Tieren verabreichte, eine Art Besserung zu bewirken. Die Wachphasen, die von den Kameras gegenüber den beiden Spezialzellen akribisch aufgezeichnet wurden, schienen sich zu verlängern. Auch schienen die Zeiten, die sich die beiden Affen in ihrer ‚alternativen Welt‘ – so nannten die Forscher ihre Abwesenheitsphasen –  bewegten, kürzer zu werden. Sie interagierten mit den Pflegern. Man traute sich sogar, sie stundenweise gemeinsam in einem Käfig zusammenzuführen. Auch hier hatte sich die Kommunikation verbessert. Saßen sie anfangs oft teilnahmslos nebeneinander, ohne Kontakt aufzunehmen, kam jetzt die natürliche Affensprache bei ihnen durch. Als sei sie nur ganz tief unten in ihnen verschüttet gewesen. Die Forscher triumphierten schon in einem bisher nie gekannten Maß. Doch dann folgte ein herber Rückschlag. Sumbo lag morgens tot in seinem Käfig. Man studierte die Videoaufzeichnungen. Zuerst hatte der Affe in seinem Nest auf der zweiten Etage gelegen, schreckte dann mitten in der Nacht, genau um 2 Uhr 34 auf, war mit einem Sprung auf dem Ast, kletterte hinunter, rannte gegen das Gitter, prallte von dort aus zurück. Er blieb einige Sekunden erstaunt sitzen, schaute in Richtung der Kamera, als wüsste er, dass diese dort ist. Dann hielt er plötzlich die rechte Hand vor sein Gesicht, als wolle er aus den Linien in seiner Handfläche die Zukunft lesen. Er fixierte die Hand mit einem irren Blick. Verharrte in dieser Stellung für mehrere Minuten, bis er anfing, sich die Handflächen abzulecken. Erst langsam, dann mit einem lauten schmatzenden Geräusch, als würde er beginnen zu fressen. Kletterte dann langsam den Ast hinauf, setzt sich oben an den Rand der zweiten Etage. Die Kameras zeichneten weiter auf, was nun passierte. Er nahm sich einen Ast aus dem Nest, pflückte die Blätter feinsäuberlich ab. Dann begann er, ihn geschickt mit den Zähnen zu schälen, bis er eine Art Werkzeug gebastelt hatte. Mit nach oben gestülpter Oberlippe betrachtete er sein Werk, gab dabei zufrieden grunzend Laute von sich. Plötzlich durchfuhr Sumbo ein Zucken, er riss die Augen auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus, die auch Big T. in seinem benachbarten Käfig aus dem Schlaf riss. Sein Blick verwandelte sich in eine angsterfüllte Fratze. Die Pfleger und Forscher hielten sich die Augen zu, als sie das Video etwa eine Stunde später zu sehen bekamen. Mit dem Werkzeug, hinten breit und vorne spitz zulaufend, stach er sich wieder und wieder in die Brust. Das Blut spritzte aus mehreren Wunden, schon war sein Fell über und über blutig, als er plötzlich innehielt, das Werkzeug, dass von seinem Blut nur triefte, so weit als möglich von sich weghielt. Er stand auf, riss die Augen ein letztes Mal auf, schrie so laut, dass Big T. nebenan verzweifelt gegen die Betonwand trommelte, die die beiden Käfige trennte. Dann rammte er sich den Ast mit einer kräftigen Ausholbewegung in die Brust. Genau dorthin, wo da Herz saß. Die Hand hielt den Ast noch ein paar Sekunden lang umklammert, dann sackte Sumbo in sich zusammen und fiel von der Kante aus wie ein Stein auf den Betonboden. Nebenan schrie Big T.

    Die Nekropsie des Menschenaffen ergab, dass er sich bereits durch die ersten Stiche lebensgefährliche Verletzungen zugefügt hatte. Keiner sprach das aus, was dieser Primat getan hatte. Doch allen war klar, Sumbo hatte sich umgebracht.

    Jetzt konzentrierte sich alles auf Big T. Die Medikamentengabe wurde eingestellt, diskutiert, geändert, verworfen, neu zusammengestellt und wieder verworfen. Während dieser Unsicherheitsphase innerhalb der Forschergruppe bekam der Schimpanse keine Medikamente, mit dem Resultat, dass er wieder in seine alten Verhaltensweisen zurückfiel. Er interagierte nicht mehr mit den Pflegern, saß apathisch in seinem Nest oder auf dem Ast, fraß schlecht. Am 15. Mai des Jahres begann die neue Medikation. Schnell verbesserte sich der Allgemeinzustand des Affen erneut. Er nahm zu, wurde agiler, zeigte Interesse an Intelligenzspielen, die man ihm in den Käfig stellte. Forscher mit Tablets und Kladden lösten sich vor dem Käfig ab. Alles wurde handschriftlich festgehalten und per Video dokumentiert. Big T. war schnell die neue Hoffnung der amerikanischen Forscher. Hatten sie doch zu Anfang der Versuchsreihe mehr auf Sumbo gesetzt, da er jünger war. Der Schimpanse ließ sich von und mit den Pflegern und Forschern fotografieren, man hätte fast denken können, er würde sich bei den Shootings in Szene setzen, als wäre er ein tierisches Modell.

    Bis zu den Geschehnissen in der Nacht auf Donnerstag, den 23.5.2014.

    Big T. hatte gefressen, noch ein wenig auf dem großen geschwungenen Ast gesessen und hatte sich dann in sein Nest zurückgezogen. Seit dem Tod von Sumbo waren vierzehn Tage vergangen. Die Forscher hatten ihn beinahe vergessen, doch in dieser Nacht wurden sie an seinen Tod auf eine entsetzliche Art und Weise erinnert. Beflügelt durch den Drang, die Ereignisse innerhalb des Käfigs noch präziser analysieren zu können, hatten sie noch zwei weitere Kameras aufgebaut, die es ermöglichten, den Käfig nun aus mehreren Blickwinkeln zu erfassen. Gegen halb zwei erhob sich der Kopf von Big T. aus dem Blätternest, er lauschte, legte den Kopf schief, als müsse er ein sich anschleichendes Raubtier ausmachen. Langsam krabbelte er ganz hervor, trat an den Baumstamm heran und lief aufrecht auf ihm hinunter, nur auf seinen Hinterbeinen. Unten blieb er stehen, lauschte wieder. In dieser Position verharrte er für ein paar Sekunden. Auf allen Vieren schritt er majestätisch und  scheinbar beruhigt zu dem großen Ring aus geflochtenen Lianen herüber, der von der Decke des Käfigs hing und in dem er manchmal entspannt saß. Gab dem Ring einen Schubs und sah ihm beim Schwingen zu. Big T. schien sich zu langweilen. Nichts deutete darauf hin, was eine halbe Minute später geschah. Er wölbte seine Oberlippe vor, begann leise zu grunzen. Das Grunzen verstärkte sich, in seinem Gesicht lief eine Veränderung ab. Plötzlich stürzte er nach vorne, schlug mit der linken Hand nach etwas, dass nur er sehen konnte. Ein warnender Ruf erklang. So schrien Schimpansen, wenn sie etwas attackieren oder attackiert werden. Hoch und schrill, mit verzerrtem Gesicht. Der Affe steigerte seine Aggression gegen seinen nicht vorhandenen Gegner. Blieb dann mit einem Mal stehen, schüttelte den Kopf, warf die Arme um sich, als wolle er einen Schwarm Bienen abwehren. Auch diese Attacke lief nach einer halben Minute ins Leere. Er kehrte zurück zu der Stelle, an der der große Ast den Boden berührte, kletterte wieder, nur auf den Hinterbeinen laufend, hinauf, machte oben kehrt und kam unvermittelt zurück. Diese Bewegung vollführte er mehrmals hintereinander, man hätte denken können, er übe für eine Performance. Beim letzten Hinablaufen sah er sich dabei ständig um, als würde er verfolgt. Fing an zu Kreischen. Wieder verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze. Maßlose Panik war in seinen Augen zu sehen. So schnell wie nie zuvor kletterte er den Stamm hinauf, schrie und schlug mit den Armen blindlings nach etwas, dass sein Gehirn ihm in diesem Moment vorgaukelte. Floh vor einem imaginären Feind. Die Forscher konnten später nur erahnen, was der Menschenaffe in seinen letzten Momenten erlebt haben musste. Sich mit gezielten Hieben zur Wehr setzend, blieb er vor seinem Nest stehen. Er schien bereit, sein Refugium mit seinem Leben zu verteidigen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, seine Züge erschienen beinahe staunend. Er kam ins Taumeln, verlor die Balance, als hätte ihn ein mit Gift versehener Pfeil getroffen. Ohne sich abzufangen stürzte er aus vier Metern auf den gekachelten Boden des Käfigs. Big T. war schon tot, bevor er dort aufschlug.

    Alle Kollegen starrten am Morgen stumm auf die Monitore, sahen sich immer wieder das Video an. Diesmal aus drei Blickwinkeln, doch die Katastrophe war aus allen Richtungen gleich. Der Affe war tot. Sie warteten auf das Ergebnis der eilig durchgeführten Nekropsie. Schon bevor der Arzt ihnen das Ergebnis mitteilte, war ihnen klar, dass ihre Experimente mit dem Tod des Menschenaffen ein jähes Ende finden würden. Big T. hatte einen Herzinfarkt erlitten, der allem Anschein nach durch eine Panikattacke ausgelöst worden war. Gegen Mittag des 23. Mai wurden die Forschungen an dem neuen Medikament eingestellt, das Forscherteam aufgelöst und weitere Versuche bis auf unbestimmte Zeit vertagt.

    *

    Mittwoch, 04.02.2015

    Bonn

    Zu der Zeit, als Oliver Hell seine allabendliche Runde mit Bond am Rhein entlang ging, erwachte auf einer Pritsche in einem muffigen Keller ein Mann. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. Wuchtete sich mit einem Satz vom Bett. Es gab in dem Kellerloch nichts, was seine besondere Aufmerksamkeit hätte erregen können. In der Ecke neben der Tür war nur das monotone Geräusch des alten Kühlschranks zu hören. Durch die mit fleckigen Decken verhängten staubig blinden Fenster drang kein Licht der gelblich schimmernden Straßenlaternen herein, die um diese Uhrzeit schon seit Stunden ihren Dienst verrichteten. Doch irgendetwas hatte ihn alarmiert. Kein Geräusch. Nichts hatte sich bewegt. Nicht einmal eine Ratte, die ihn schon bisweilen in seiner Bleibe besucht hatte. Trotzdem spürte er eine Veränderung. Etwas passierte. Passiert in ihm. Er stand auf, wankte auf die gegenüberliegende Wand zu und tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter über dem Waschbecken. Verengte die Augen zu Schlitzen, weil er wusste, was nun auf ihn zukam. Dann drückte er den Lichtschalter herunter. Die plötzliche Helligkeit schmerzte wie die Hölle in seinen Augen. Er kniff die Lider wieder zusammen. Doch der Schmerz blieb nicht nur, er wurde schlimmer. Der Mann presste seine Handflächen gegen die Schläfen und gab einen unterdrückten Schrei von sich. Schrie in sich hinein, bis die Lunge und sein Zwerchfell schmerzten. Biss die Zähne aufeinander, bis sie ein ungesundes Knirschen erzeugten. Doch je stärker er presste, desto schlimmer wurde der Schmerz. Oder hatte das nichts miteinander zu tun? Er riss die Hände abrupt weg von seinem Kopf, ohne Effekt. Der Schmerz fuhr ihm vom Kopf aus in seinen Nacken, von dort aus über den Rücken bis in die Füße, bis in die Zehen. Jetzt hielt er es nicht mehr aus und begann zu schreien, als würde er bei lebendigem Leib in heißem Teer versenkt. Als könne er sich durch rudernde Bewegungen davor retten, begann er, wie in Panik durch den versifften Raum zu rennen. Stieß gegen den stählernen Lattenrost des Bettes, doch der Schmerz, den er hier punktuell spürte, war nichts im Vergleich zu dem, der seinen ganzen Körper mittlerweile erfüllte. Jetzt fielen alle Dämme, er stieß einen markerschütternden Schrei nach dem anderen aus, taumelte gegen die feuerhemmende Stahltür. Rappelte sich hoch. Schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Nichts half. Mit voller Wucht schlug er daraufhin seinen Kopf gegen die Tür. Beim ersten Mal gab es nur eine fürchterliche Beule, doch beim zweiten Versuch platzte die Haut auf seiner Stirn auf, Blut spritzte gegen die Tür und auf den dreckigen Fußboden. Sein Kopf ruckte wie getrieben zurück und schlug erneut mit voller Wucht gegen den Stahl. Wieder und wieder. Bis seine Stirn und seine rechte Augenbraue nur noch ein blutiger Klumpen Fleisch waren. Mit einem letzten Aufbäumen sank er in sich zusammen.

    *

    Donnerstag, 12.02.2015

    Bonn Ippendorf

    In einem Kellerzimmer, dem man es nicht ansah, dass es eines war, saß ein Junge auf einem Sessel und spielte mit seinem Lieblingsspielzeug: Einem Windrad aus Plastik. Das tat er jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sein Name war Jerome. Er war an diesem Tag dreizehn Jahre, sieben Monate und sechs Tage alt. Doch Zeit spielte für ihn keine Rolle. Er war Autist und lebte seit seiner Geburt in diesem Zimmer. Es mangelte ihm an nichts, er bekam dreimal am Tage etwas zu essen, man zog ihn morgens an, brachte ihn abends zu Bett. Dazwischen war er allein, allein in seiner Welt. Diese Welt war luxuriös, doch mit diesem Wort konnte er nichts anfangen, es bedeutete ihm nichts, dass er teure Kleidung trug oder Hummer und Kaviar zu essen bekam. Luxus bedeutete für seine Eltern hingegen alles. Fast so viel, wie ihr Ansehen in der Bonner Gesellschaft. Sie gingen auf angesagte Partys, waren gern gesehene Gäste auf den Bällen und Empfängen der Bonner High Society. Man kannte ihre Gesichter, sah sie in den Zeitungen. Doch das Gesicht ihres Sohnes kannte keiner. Niemand ahnte etwas von seiner Existenz. Nachdem die Ärzte schon früh den Verdacht geäußert hatten, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte, verheimlichten die Eltern die Schwangerschaft. Seine Mutter gebar ihren Sohn in Frankreich, auf einer Studienreise, wie die offizielle Lesart war. Als sich herausstellte, dass er Autist war, steckte man ihn in diesen goldenen Käfig und hielt ihn vor der Welt verborgen. Dreizehn Jahre, sieben Monate und sechs Tage lang.

    Jerome kannte keine Sonne, nur UV-Lampen an der Decke. Er kannte keinen Regen, nur das Wasser aus der Dusche in seinem zwanzig Quadratmeter großen Badezimmer. Er kannte keinen Wind und keinen Schnee. Er kannte kein Gras unter seinen Füßen und er wusste nicht, wie es war, am Strand entlang zu laufen.

    Jerome kannte auch keine Liebe. Was er kannte, war der stets mürrische Gesichtsausdruck seiner Mutter, wenn sie sich um ihn kümmerte. Ihm die Windeln wechselte oder ihn fütterte. Doch er kannte keine Gefühlsregungen, konnte nicht den Hass in ihrem Gesicht lesen. Er wusste nicht, was es bedeutete, wenn sie ihm zuflüsterte: „Warum stirbst du nicht endlich?"

    Er konnte auch nicht ergründen, wieso auf ihrem Gesicht nur ein einziger Gedanke zu lesen war: Wieso gerade ich? Wieso muss ich mit einem autistischen Balg gestraft werden? Das passte nicht in ihr Leben. Passte nicht in die feine Gesellschaft, in der sie und ihr Mann sich bewegten. Das alles verstand Jerome nicht. Er kannte nicht den Unterschied zwischen Leben und Tod. Doch nicht ganz 24 Stunden später sollte er ihn kennenlernen.

    *

    Bonn

    Mitten in dem bodenlosen Ozean, durch den er seit mehreren Wochen trieb, kam plötzlich eine Insel in Sicht. Doch vor der rettenden Insel lauerte die Gefahr. Tödlich. Unbekannt.

    Der Mann erwachte aus seinem Traum. Geräusche. Fremd und nicht hierhergehörend. Nüstern blähten sich auf. Gefahr. Urinstinkt. Aus dem Dunkel, der bleiernen Schwärze des Vergessenwollens, tauchte plötzlich eine Gestalt auf. Unbekannt. Bedrohlich. Düster. Der Fremde stand in der Tür, seine Silhouette hob sich kaum gegen das Dunkel des Flurs ab. Etwas blitzte auf. Der Mann saß auf der Pritsche, bereit zum Sprung. Unvermittelt blendete ihn ein grelles Licht, er hielt sich die Hand zum Schutz vor die Augen. Ein metallisches Klicken. Noch nie zuvor real gehört, doch er wusste, was es war. Ohne seinen Gegner zu sehen, spannte er alle Muskeln in seinem Körper an. Ein Sprung. Ein gedämpfter Knall. Zwei Körper stürzten hart auf den Boden. Hände suchten nach Halt. Fanden nur Kleidung. Er rappelte sich auf. Die Lampe, dem Angreifer entglitten, lag auf dem schmutzigen Boden. Staubpartikel wirbelten auf in ihrem Schein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Fremde hinein. Überrascht sah er aus. Und leblos. Der Mann verstand. Er setzte sich auf die Pritsche und versuchte, seinen fliegenden Atem zu beruhigen. Seine Hand fuhr über den kühlen Rahmen, tastete nach der dünnen rauen Decke. Nahm das klumpige Kissen und presste es gegen seinen Bauch. Er verstand, dass es ihm gegolten hatte. Durch das Adrenalin, das durch seinen Körper pulste, dämmerte die Gewissheit. Man hatte ihn töten wollen. Es konnte ihn jederzeit wieder treffen. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter seinen gehetzten Atemzügen, sein Herz schlug dazu einen wilden Akkord. Angetrieben von der Neugier, stürzte er auf den Toten zu. Nahm die Taschenlampe vom Boden auf und leuchtete den Raum ab. Hastig flog der Schein hin und her. Hielt plötzlich inne. Mitten im Leuchtkegel lag sie. Die Versuchung. Die Rettung. Die Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Ein Ende, das er bestimmte. Langsam ging er zu der Stelle hinüber und hob die Waffe auf. Schwer und kalt lag der Stahl in seiner Hand. Mit der Klarheit eines eisigen Wintermorgens erkannte er seine Chance. Sie haben es getan. Sie haben mir Albträume und den nahen Tod geschickt. Jetzt werde ich ihr Albtraum sein.

    *

    Freitag, 13.02.2015

    Bonn Ippendorf

    Ein ihm nicht vertrauter Hauch strich über Jeromes Gesicht. Er ignorierte ihn, so wie er alles Neue ignorierte. Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung. So lebte er. So war er es gewöhnt. Ordnung bedeutete Sicherheit. Ohne dass er es so hätte benennen können. Etwas war heute anders. Langsam machte es den Jungen unsicher. Er hob den Blick und erkannte den Grund für den fremden Geruch und diesen unsicher machenden Luftzug. Dieser kam von der Tür. Diese war nicht wie seit Jahr und Tag verschlossen, sondern sie stand einen Spalt offen. Etwas Neues. Bedrohlich. Jerome nahm sich sein Windrad, drehte es wie immer, versuchte die offene Tür zu ignorieren. Gut eine Stunde lang gelang es ihm, der aufkeimenden Neugier zu begegnen, dann legte er das Windrad beiseite und begann zu wippen. Rieb seinen Zeigefinger an seinem Daumen und lauschte. Keine der Geräusche, die er so liebte kamen durch die Tür, nur ein Luftzug, der nach Neugier und nach etwas Fremdem roch. Jerome stand auf und wagte es, sich der offenen Tür zu nähern, langsam und vorsichtig.

    Die Welt hinter der Tür zu seinem Gefängnis war riesig und fremd. Und forderte von ihm alles ab. Allein um durch den Flur im Keller zu gehen, brauchte er eine Stunde. Roch an den Teppichen, strich vorsichtig über die Wände, verharrte regungslos an den Türen, fuhr ängstlich zurück, als er in einem Spiegel einen Fremden entdeckte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ihn der Unbekannte an. Bald hatte er sich entfernt und Jerome beruhigte sich wieder. Hinter einer Glastür nahm er einen blauen Schimmer wahr, der seine Neugier entfachte. Vorsichtig betastete er die Tür, bis er den Zweck der Türklinke erkannt hatte. Diese Tür ließ sich öffnen, anders als die zu seinem Gefängnis, das für ihn bisher sein Zuhause und seine Zuflucht gewesen war. Hinter der Tür lag eine Treppe. Jeromes Muskeln hatten noch nie Treppenstufen erklommen, seine Augen noch nie die Weite eines Wohnzimmers wie das seines Elternhauses gesehen. Fasziniert blieb er stehen und seine sonst so trägen Augen nahmen alles auf, was sich ihnen darbot. Die Sessel aus weichem Leder, die Pflanzen, die Möbel aus Zedernholz.

    Reizüberflutung. Einem Autisten soll man eine möglichst reizarme Umgebung bieten, keine Spiegel, keine Glastüren, keine Bilder. Doch jetzt stand Jerome in diesem Raum und sah die Gemälde an den weiß gekalkten Wänden, war fasziniert von deren Farbigkeit. Drehte sich im Kreis, berührte vorsichtig die Blätter einer großen Pflanze, deren Namen er nicht kannte, aber deren Geruch er sich sofort merkte. Vor den schneeweißen Sofas blieb er stehen. So etwas kannte er aus seinem Zimmer. Nur nicht so groß. Langsam ließ er sich nieder, roch an dem weichen Leder und streckte sich darauf aus. Ein Geräusch von außerhalb dieses Zimmers ließ ihn aufschrecken. War er nicht alleine? Kam der Fremde zurück? Der aus dem Keller?

    Langsam stand er auf, ging bis an die nächste Tür. Von dort war das Geräusch gekommen. Langsam drückte er die Klinke herunter, öffnete die Glastür einen Spalt und verharrte einen Moment lang. Das Geräusch war verklungen. Er öffnete vorsichtig die Tür und trat in den Hausflur. Außer vielen anderen Türen gab es dort nur ein Ding, an dem andere Dinge hingen. Er ging darauf zu, roch daran und erkannte bei einigen davon den Geruch der Person, die ihn in seinem Zimmer besuchte. Sofort stieß er sie von sich und verzog das Gesicht. Er sah sich um. Eine große Tür erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging darauf zu, zögerte, rieb wieder Daumen an Zeigefinger. Begann zu wippen. Ohne es zu wissen, spürte Jerome, dass sich hinter dieser Tür etwas komplett anderes verbarg. Er konnte es riechen. Es roch nach Freiheit, nach Verbotenem, nach Gefahr. Jerome kannte diese Begriffe nicht, doch er spürte, als er die Klinke herunterdrückte einen Geruch, der ihn sofort faszinierte. Draußen. Luft. Gerüche. Nicht das Alltägliche, Gewohnte. Es roch nach Abgasen, nach Schnee in der Luft, unbekannt, verlockend. Und als Jerome vor die Tür trat, verließ er sein altes Leben für immer. Hätte er das gewusst, wie hätte er reagiert? Wäre er weitergegangen? Oder hätte er einen Rückzieher gemacht? Einen Autisten wie ihn konnte man das nicht fragen, auch fehlte ihm die Ausdrucksmöglichkeit. Jerome konnte nicht sprechen, das einzige, was an ihm sprach, waren seine Augen. Die waren in diesem Moment rund und neugierig weit geöffnet, als er mehr taumelnd als zielsicher durch den Vorgarten seines Elternhauses ging. Das Gartentor ließ er offen stehen, wandte sich nach rechts, sein Schritt wurde sicherer, er ging weiter, spürte, wie der kalte Februarwind seinen Körper umspielte. Doch das war ihm gleich. Er kannte keine Kälte. Diese Frische verlieh ihm Energie. Er lief weiter, bereit, bis ans Ende der Welt zu laufen, wenn er nur nicht mehr in diesen Keller zurück musste. Jerome fuhr zusammen, als er wieder dieses Geräusch hörte, dass er bereits auf der Couch gehört hatte. Voller Angst, aber auch neugierig und mit offenstehendem Mund betrachtete er ein Auto, das langsam an ihm vorbeifuhr. Er drehte sich langsam, sah dem Fahrzeug hinterher, dünne Fäden liefen ihm aus dem Mund. Er bemerkte es, wischte sie mit dem Unterarm ab. Jerome ging weiter, bis er ans Ende der Straße gelangte. Bog erneut rechts ab, betrachtete eine große Straßenlaterne, blieb unter ihr stehen, trat einen Schritt zurück, etwas fasste ihn an der Schulter. Jerome fuhr herum, doch da war nichts, außer einer Pflanze. Diese roch anders als die, die er zuvor in dem Haus gesehen hatte. Er beruhigte sich von dem Schreck, der ihm durch alle Glieder gefahren war. Wieder blickte er zu der Straßenlaterne hinauf. Das sanfte gelbe Licht beruhigte ihn. Er ging weiter. Links öffnete sich ein Park. Plötzlich hörte er etwas. Stimmen. Schreie. Jerome fuhr zusammen. Wollte sich verbergen, doch da war nichts. Er blieb stehen und begann zu wippen. Wieder schrie jemand. Dann krachte es ganz in der Nähe. Jerome fuhr zusammen, bückte sich und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er kauerte sich auf die Wiese, begann leise zu wimmern. Er sah, wie sich ein Schatten über ihn legte.

    „Wer bist du denn?", fragte eine Stimme.

    Jerome blieb stumm, wippte, wimmerte vor sich hin.

    „Wer bist du und wo kommst du jetzt her, verdammt?"

    Jerome blieb der Stimme jede Reaktion schuldig.

    „Wer bist du?" Jerome hörte ein metallisches Klicken. Blinzelte, hob den Kopf. Sah den Fremden an. Nein, es war nicht der, den er im Keller gesehen hatte. Jetzt trat er nahe an Jerome heran, er konnte den Fremden riechen.

    „Ach du Scheiße, du bist ja noch eine viel ärmere Sau als ich", sagte die Stimme mitleidvoll. Steckte etwas weg, nachdem es erneut geklickt hatte. Jerome wimmerte weiter. Die Stimme verschwand. Erst viel später traute er sich aufzustehen, sah sich um. Die fremde Stimme war nicht mehr da. Doch ein paar Meter weiter lag etwas. War er das? Hatte er sich hingelegt? Jerome ging zögernd auf ihn zu, betrachtete den, der da lag. Nein, das war nicht der Fremde. Es gab noch einen anderen hier. Doch der rührte sich nicht. Jerome berührte ihn mit dem Fuß. Nichts. Der Fremde schien zu schlafen. Das kannte er. Schlafen. Das dauerte oft lange. Plötzlich spürte er einen Schlag von hinten und jemand schrie ihn an.

    „Was hast du mit meinem Mann gemacht? Was hast du gemacht? Wer bist du? Oh Gott, Ralf, was ist mit dir? Steh doch auf!"

    Jerome erschrak so, wie noch nie in seinem Leben. Aus seiner Kehle drang ein Schrei wie von einem Löwen und er schlug um sich, um dieses Wesen zu vertreiben, das dem ähnlich sah, dass immer in seinem Zimmer war. Doch es roch anders. Das Wesen wich zurück und lief schreiend davon. Jerome setzte sich und begann aufgeregt zu wippen.

    *

    Bonn Oberkassel

    Gegen 21 Uhr klingelte Oliver Hells Handy. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, den Anruf nicht anzunehmen, hatte er es sich doch mit einem Glas Wein auf der Couch gemütlich gemacht. Ein Blick auf das Display verriet ihm den Anrufer und damit auch die Dringlichkeit.

    „Hell. Wer stört?", fragte er scherzhaft.

    „Sorry, Chef, entschuldigte sich Jan-Phillip Wendt, sein Stellvertreter, „wir haben hier in Ippendorf einen Toten.

    „Braucht ihr mich dann unbedingt, wenn du schon vor Ort bist?, fragte Hell und versuchte, eine klitzekleine Chance auf den hervorragenden Bordeaux zu wahren. Wendt brummte etwas, dass Hell nicht verstand. „Wir haben einen Zeugen … oder besser gesagt, wir haben in der Nähe des Mordopfers jemanden aufgefunden … aber das schauen Sie sich besser selber an, Chef, antwortete er dann doch noch in einem ganzen Satz. Nachdem ihm Wendt die Adresse durchgegeben hatte, verschloss Hell den Bordeaux mit einem bedauernden Seufzen und machte sich auf nach Bonn-Ippendorf. Hoffentlich gibt es nicht wieder Ärger mit irgendwelchen Drogenbanden, wünschte er sich. Mit den seltsamen Andeutungen seines Kollegen konnte er nicht viel anfangen.

    *

    Bonn Ippendorf

    Das erste, was Hell hörte, als er seinen BMW in der Straße mit den gepflegten Vorgärten abgestellt hatte, waren die gellenden Schreie einer Frau, sie gingen ihm durch Mark und Bein. Als er näherkam, meinte er noch eine weitere Stimme zu hören, diese klang aber nicht menschlich in seinen Ohren. So dachte er, als er ein großes Gehölz umrundete, das am Rande eines kleinen Parks stand. Wendt hatte ihm den Fundort genau beschrieben. Mitten in dem Park, hatte er gesagt. Sofort sah er die immer noch schreiende Frau. Eine Beamtin der Bereitschaftspolizei versuchte vergeblich, sie zu beruhigen. Nein, sie wollte sie davon abhalten, dort in die Mitte des Parks zu laufen. Dorthin, wo weitere Beamte um zwei auf dem Boden liegende und kauernde Personen standen. Auch Wendt machte Hell dort aus. Der Kollege stand etwas abseits und Hell fand, dass er einen ratlosen Eindruck auf ihn machte. Hell versuchte, zu ergründen, was dort passierte. Auf dem Rasen lag ein Mensch auf dem Rücken, daneben kauerte die zweite Person, wippte mit dem Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Dabei stieß er immer wieder diese Laute aus. Diese Laute, die Hell als nicht menschlich eingeschätzt hatte. Doch sie waren es, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne. Aus der Kehle des Mannes, als solcher war er trotz der Dunkelheit zu erkennen, drangen Laute, die einem Löwengebrüll nicht unähnlich waren. Was ging hier vor? Einer der Beamten machte einen Schritt auf den Mann zu. Sofort erklang wieder dieser kehlige gutturale Schrei,

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