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Der Hölle so nah: der gehörnte Mann
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Der Hölle so nah: der gehörnte Mann
eBook279 Seiten3 Stunden

Der Hölle so nah: der gehörnte Mann

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Über dieses E-Book

Wer am Ende steht, steht eigentlich am Anfang. Hätte Tobias Schlierenbeck doch besser diesen Wahlspruch beherzigt, bevor er sich zu wirklich schrecklichen Taten verleiten ließ. Doch wenn Dein bester Freund Dein gesamtes Leben manipuliert, Deine Frau Dich betrügt und einen Killer auf Dich hetzt – dann ist es schwer, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Denn wo Gefühle im Spiel sind, wo Hass auf Liebe, Verzweiflung auf Hoffnung, Wut auf Leidenschaft trifft, bleibt kein Platz fürs Rationale. Und so nehmen Dinge ihren Lauf, die noch ein paar Tage zuvor unvorstellbar waren …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Aug. 2016
ISBN9783738080650
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    Buchvorschau

    Der Hölle so nah - Michael Bardon

    Prolog

    Der Hölle so nah

    Meine Geschichte beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem andere für gewöhnlich enden.

    Sie erzählt von einem Kopfschuss. Von einem Projektil, das sich seinen Weg durch mein Gehirn gebahnt – und dort irreparable Schäden hinterlassen hat.

    Doch am besten schildere ich Ihnen alles von Anfang an. Aber wo nur soll ich beginnen? Wann wird meine Geschichte, mein persönlicher Albtraum, überhaupt interessant für Sie?

    Entschuldigen Sie bitte! Ich habe mich Ihnen ja noch überhaupt nicht vorgestellt. Wo bleiben nur meine Manieren? Mein Name ist Tobias Schlierenbeck. Ich wurde vor 42 Jahren in Frankfurt am Main gezeugt, zehn Monate später geboren und lebe dort noch immer mein beschauliches Leben.

    Von Beruf bin ich Rechtsanwalt, Schwerpunkt Gesellschaftsrecht. Meine zahlreichen Klienten bilden die Elite unseres Landes. Industriemagnaten, Manager, Vorstandsvorsitzende, Spekulanten und Firmeneigner gaben sich in meinem Büro die Klinke in die Hand. Sie kamen zu mir, weil sie ein anderes Unternehmen in ihren Konzern integrieren wollten, aber auch, weil sie eine Fusion mit einer anderen Gesellschaft oder deren Liquidierung anstrebten.

    Ich war wirklich gut in dem, was ich tat. Und meine herausragende Eigenschaft war eindeutig mein nicht vorhandenes Gewissen. Mich plagten keine Schuldgefühle, und auf eine soziale Ader hat der liebe Gott bei meiner Entstehung zum Glück auch verzichtet.

    Jeder ist sich selbst der Nächste! Jeder sollte seines eigenen Glückes Schmied sein!

    Was kümmern mich irgendwelche namenlose Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz durch mein Zutun verlieren? Was kümmert mich die alleinerziehende Büroangestellte, die ihre Rechnungen, nach einer Kündigung aus wirtschaftlichen Erwägungen, nicht mehr begleichen kann? Ich musste meinen Porsche schließlich auch bezahlen; das Penthouse in der City haben mir die Makler auch nicht geschenkt.

    Dieses ganze Gerede von Hartz IV, von Chancengleichheit und besserer Bildung geht mir, gelinde gesagt, am Allerwertesten vorbei. Wer vom Tellerrand des Lebens fällt, landet eben auf dem Kompost, wird recycelt, verschwindet in einer Statistik.

    Doch ich schweife ab! Eigentlich wollte ich Ihnen ja die Geschichte vom Projektil in meinem Kopf erzählen, von meiner Frau und davon, wie es zu dem Unglück kam.

    Charly, meine Frau, und ich waren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren glücklich verheiratet. Wir genossen unsere kinderlose Ehe, unsere Zweisamkeit, unsere Unabhängigkeit, unseren wilden, exzessiven Sex in vollen Zügen.

    Sie mögen jetzt verständnislos die Nase rümpfen. Doch für meine Frau und für mich waren Kinder nie ein Thema. Wer braucht schon – entschuldigen Sie bitte diesen Vergleich! – eine schreiende Trompete, wenn er der sanften Musik einer Harfe zu lauschen vermag.

    Ich wollte meine Charly mit niemandem teilen, und meine geliebte Charly, wollte das - so glaubte ich jedenfalls - auch nicht.

    Aber ich greife gerade voraus, und das wollte ich nicht.

    Doch manchmal fällt mir das Denken ein klein wenig schwer, und ich habe Mühe, meine zerrissenen Gedanken in der richtigen Reihenfolge zu sortieren. Sie schwirren durch meinen Kopf wie lustige, kleine Wellensittiche. Schlagen wild mit den Flügeln, flattern aufgeregt umher und treiben mich so an den Rand des Wahnsinns.

    Das kommt - so denke ich zumeist - von dieser verteufelten Kugel in meinem Gehirn. Ja, sie steckt noch immer in mir! Sie ist ein Teil von mir geworden, so wie die Nacht vor meinen Augen ein Teil von mir geworden ist.

    Sie haben schon richtig verstanden. Ich bin blind und befinde mich in einem nicht enden wollenden Albtraum.

    Mein Körper ist so steif wie ein Stück Metall, und mein Gehör funktioniert leider auch nicht mehr so gut wie früher. Doch dafür hat mich das Schicksal mit widerlichen, nervtötenden Tönen gesegnet, die in der Lautstärke einer aufheulenden Motorsäge permanent in meinem Kopf herumkrakeelen.

    Ach, herrje, jetzt ist es schon wieder passiert, ich greife voraus und verderbe so die ganze Geschichte.

    Kommen wir also zurück zu dem Ausgangspunkt meiner kleinen Erzählung. Kommen wir zurück zu dem Projektil, das noch immer in meinem Kopf steckt …

    Wut, Verzweiflung und andere Gefühle

    Ich stand mitten im Raum, hörte, wie unsere Wohnungstür unter den brutalen Fußtritten  erbebte. Ich hörte das Rufen der Polizeibeamten, die mich aufforderten, den aus französischer Eiche gefertigten Penthouse-Eingang zu öffnen. Und ich hörte das klägliche Gewinsel dieses staatlich anerkannten Versagers, der es gewagt hatte, meine Frau zu verführen.

    Ich hatte ihn kastriert! Hatte ihm seine hühnereigroßen Hoden mit dem Zimmermannshammer zerquetscht.

    Nie wieder würde dieser Blindgänger einer vergebenen Frau Flausen in den Kopf setzten oder einen seiner perfiden Pläne schmieden.

    Der Kastrierte war einmal mein bester Freund. Dank ihm hatte ich mich zum moralischen Wächter aller aufgeschwungen. War zum Robin Hood der Betrogenen geworden.

    Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick über die Fotografien an der mit Seidentapete bespannten Wohnzimmerwand gleiten. Nahm ein letztes Mal die Noblesse, die Anmut und die Sinnlichkeit meiner Charly in mich auf.

    Im Eingangsbereich, hinter mir, zersplitterte das teure Holz der massiven Wohnungstür. Schreie gellten durch den Raum, stürmten in einer höllischen Intensität auf mich ein. Die Achterbahn meines Lebens holte noch einmal ordentlich Schwung. Nahm ein letztes Mal Fahrt auf, bevor ich mich von ihr hinunter in den Tod stürzen würde.

    Wut, Hass, Enttäuschung, Unglaube, Verzweiflung!

    Eine Flut aus gegensätzlichen Empfindungen stürzte über mich herein, begrub mich unter sich, versuchte mich zu ersticken. Meine Hand zitterte leicht, als ich den Lauf der kleinen Halbautomatik, Winni-Opas Halbautomatik, gegen meine Schläfe presste. Das Spiel des Lebens war zu Ende. Das Rad der Zeit stand für immer still.

    Wer Winni-Opa ist, wollen Sie wissen? Warten Sie es ab! Er spielt eine Rolle in dieser Geschichte.

    Ich war stets volles Risiko gegangen. Hatte tagtäglich Schlachten geschlagen und war als Sieger daraus hervorgegangen.

    Doch dieses Spiel hier, das Spiel meines Herzens, hatte ich verloren. Die einzige Schlacht, das einzige Gefecht, das mir je etwas bedeutet hatte, war zu einem Fiasko, zu einer Farce ausgeartet.

    »Charly, warum …? Warum hast du uns das angetan?«, hauchte ich beinahe tonlos.

    Ich hob den weißen seidenen Schal, den ich fest umklammert hielt. Ein letztes Mal noch wollte ich den Duft, das liebliche Parfum meiner toten Frau in der Nase spüren.

    Dann holte ich noch einmal tief Luft, starrte das Bild meiner Frau an und …

    »Waffe fallen lassen! Lassen Sie sofort die Waffe fallen!«

    Irritiert blinzelte ich mit den Augenlidern. Versuchte das Gehörte geistig aufzuarbeiten.

    »Sie sollen die verdammte Waffe fallen lassen! Letzte Warnung … nehmen Sie endlich die Pistole herunter!«, schrie eine hysterische Männerstimme in meinem Rücken.

    Verwunderung, Erstaunen, Erheiterung!

    Ja, ich gebe es offen zu. Bei den Worten des offenkundig überforderten Polizeibeamten musste ich kurz lächeln. Mit was wollte der Holzkopf mich denn bedrohen? Mit seiner Dienstwaffe? Mit dem Tode?

    Ein zweiter Polizist schob sich vorsichtig in mein Sichtfeld. Auf seiner Stirn glänzten unzählige Schweißtropfen, die, als kleines Rinnsal über seine rechte Schläfe laufend, unter dem Hemdkragen verschwanden. Seine mattschwarze Pistole deutete anklagend in meine Richtung, während seine Zunge dümmlich zwischen den feisten Lippen hervorlugte.

    Der Kerl sah aus wie ein waschechter Vollidiot und untermauerte durch sein affenartiges Aussehen eindrucksvoll die Evolutionstheorie.

    »Ja, Mann, dein Spiel ist aus«, grunzte er, während seine zusammengewachsenen Augenbrauen hektisch vor sich hin zuckten.

    Seine Worte hallten wie ein Donnerschlag in meinem Kopf. Sie erzeugten ein hohles Echo, das durch meinen gesamten Körper zu wandern schien.

    Dein Spiel ist aus … Dein Spiel ist aus … Dein Spiel ist aus …

    Ob ich wollte oder nicht: Ich musste diesem in einer Polizeiuniform steckenden Primaten Recht geben. Mein Spiel war aus! Meine Lebensuhr rückte gelassen und unaufhaltsam der Stunde null entgegen.

    High Noon … wie in dem gleichnamigen Western mit Gary Cooper und Grace Kelly.

    Ich hatte schon viel über den Tod gelesen. Hatte mich in den einsamsten Momenten meines Lebens intensiv mit ihm befasst. Würde ich auch ein gleißendes Licht erblicken, das mich mit seiner Wärme, mit seiner Herrlichkeit in eine neue, bessere Daseinsform geleitete?

    Würden meine Erinnerungen, die Bilder meines gesamten Lebens, in Sekundenschnelle als eine Art Kinofilm vor meinem geistigen Auge ablaufen?

    Würde es sehr weh tun, wenn die Kugel durch meine Schädeldecke drang und mein Gehirn in Fetzen riss?

    Ach ja. So viele Fragen, so wenige Antworten.

    »Allerletzte Warnung! Nehmen Sie endlich die Waffe herunter. Glauben Sie mir, Sie haben keine Chance zu entkommen«, donnerte nun wieder die Stimme in meinem Rücken.

    Doch, ich hatte eine Chance. Der Typ hinter mir war wohl genauso doof wie Mister Affengesicht, der seitlich versetzt vor mir stand und noch immer mit seiner Waffe auf mich zielte.

    Ruhe, Frieden, keine Zweifel …

    Mein Blick wanderte zurück zu der Fotografie meiner einst so geliebten Frau. Würde sie an der Himmelspforte auf mich warten? Mich wie früher zärtlich in die Arme schließen, mir verzeihen? Oder besser noch: verstehen, welche Beweggründe mich zu dieser Tat geradezu getrieben hatten?

    Eine weitere Frage eroberte mein Bewusstsein, ließ mich kurz innehalten, raubte mir den Atem.

    Konnte ich ihr überhaupt verzeihen?

    Ihr egoistisches, widernatürliches Verhalten entschuldigen? Konnte ich wirklich vergessen, was sie mir angetan hatte? War ich wirklich bereit, ihr meine Absolution zu erteilen? Ihr von Neuem mein Vertrauen zu schenken? Mit ihr Hand in Hand durch den Garten Eden zu schlendern?

    Wut! Unbändige, alles auffressende Wut!

    »Niemals! Ich werde dir niemals verzeihen«, schrie ich aus Leibeskräften und sah, wie Affenschädel vor mir heftig zusammenzuckte.

    Oh nein! Ich würde Winni-Opas Pistole gut festhalten. Würde sie mit auf die Reise durch das himmlische Licht nehmen. Und dann, wenn Charly an der Pforte zur Unendlichkeit mit einem Lächeln auf mich wartete, würde ich sie bis in die Hölle jagen.

    »Ich komme, du hinterhältige Schlampe! Wir sind noch lange nicht miteinander fertig«, knurrte ich wutentbrannt durch die Zähne.

    Dann atmete ich ein letztes Mal tief ein, presste die Mündung der kleinen Pistole noch etwas fester gegen die Schläfe und drückte den Abzug bis zum Anschlag durch …

    Der vermeintliche Tod

    Gleißendes Licht. Leuchtend, unerträglich, intensiv, bösartig. Ich kniff meine Augenlider zusammen, versuchte, mich vor der Aura der himmlischen Illumination zu schützen. Meine körperlose Seele schrie gepeinigt auf, während mein Verstand nach einem schattigen Plätzchen Ausschau hielt.

    So also fühlt sich das ewige Leben an, dachte ich und verfluchte mich im Stillen dafür, dass ich keine Sonnenbrille bei meinem Suizid getragen hatte.

    Keine Schmerzen, keine Arme, Beine, Hände, Füße. Keinen Bauch, keinen Rücken, keine Brust, keinen Hermann, keine Eier. Und natürlich auch keine Pistole.

    »Scheiße, Wolfi … Ich glaube der Kerl lebt noch!«

    »Quatsch. Der Spinner hat ´ne Kugel im Kopf. Hat aus seinem kranken Hirn rote Grütze gemacht. Hast es doch selbst gesehen, Dieter.«

    »Trotzdem, Wolfi! Schau dir mal sein linkes Augenlid an, es zuckt.«

    »Echt jetzt? Ohne Scheiß?«

    »Ja, wenn ich es dir doch sage. Da, jetzt hat er geblinzelt.«

    »Ist ja echt gruselig. Pass auf, der Kerl hat immer noch seine Waffe in den Fingern. Nimm sie ihm besser ab.«

    Welche Finger?, dachte ich entsetzt. Ich hatte doch überhaupt keine Finger mehr.

    »Tote haben keine Finger, du Blödmannsgehilfe!«, schrie ich aus Leibeskräften.

    Was sollte der ganze Mist? Wer zum Teufel war dieser Wolfi, der sich über mich mit einem Typen namens Dieter unterhielt?

    Keine Reaktion auf meinen Aufschrei. Die beiden Kerle ignorierten mich einfach. Taten so, als hätten sie mich überhaupt nicht gehört.

    »Oh Mann, Dieter. Da hinten liegen ´ne Frau und ein Mann. Beide nackt. Großer Gott, die Frau ist tot. Der Mann lebt allerdings noch. Du meine Güte, was für ne Sauerei! Den hat jemand kastriert. Himmel, sieht das übel aus.«

    »War bestimmt das kranke Schwein hier,« sagte die Stimme über mir.

    »Richtig!«, sagte ich.

    »Was machen wir denn jetzt?«

    Eine böse Vorahnung schlich sich, als schattenhafte Gestalt verkleidet, in mein Bewusstsein.

    »Wir warten auf die Sanis. Die Zentrale hat die Jungs ja bereits angefordert. Vielleicht kannst du dem armen Kerl ja irgendwie helfen. Ich passe in der Zwischenzeit auf den Spinner hier auf. Einen Mann zu kastrieren, der ist doch nicht ganz dicht. Scheiße, jetzt zuckt er am ganzen Körper. Sieht aus wie bei einem Zombie.«

    »Zombie? Krankes Schwein? Nur zu, beleidigen Sie mich ruhig weiter! Ich bin Rechtsanwalt. Ein verdammt guter Rechtsanwalt! Ich werde mir jedes Wort merken und Sie wegen Beleidigung meiner Person verklagen. Tun Sie sich keinen Zwang an! Die Liste wird immer länger, was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Schmerzensgeld immer höher ausfällt«, knurrte ich in einem belehrenden Tonfall.

    »Herrje, was ist denn hier passiert? Das sieht ja aus wie in einem Schlachthof.«

    Weitere Stimmen prasselten auf mich ein. Wollten wissen, was sich in meinen vier Wänden zugetragen hatte. Das gleißende Licht vor meinen Augen verlor langsam an Intensität. Ich konnte konturenlose Gestalten erkennen, die in hektischer Betriebsamkeit an mir vorbeihuschten.

    Doch ich war zu müde, fühlte mich schlapp und kämpfte gegen das Gefühl, in einen hundertjährigen Schlaf verfallen zu müssen. Außerdem ignorierten mich ja doch alle. Ich konnte sagen, was ich wollte, die Menschen um mich herum reagierten überhaupt nicht auf meine Worte.

    So hatte ich mir den Tod nun wirklich nicht vorgestellt! Vielleicht befinde ich mich ja noch in einem Übergangsstadium? Eine Art Zwischenreich der Toten, dachte ich irritiert.

    So verhielt es sich augenscheinlich. Ich stand oder besser: lag an der Haltestelle zur Himmelspforte? Doch wenn das so war, wenn ich wirklich noch auf der Erde verweilen musste – abwartend, körperlos, mich niemanden mitteilen könnend –, war das eine bodenlose Frechheit. Wann würde endlich der Bus kommen und mich sanft schaukelnd zu Gottes Palast befördern? Hatten die da oben vielleicht übersehen, dass ich gestorben war? Was für ein Mumpitz lief denn hier nur ab?

    Wie zur Bestätigung hörte ich aus weiter Ferne eine einfühlsame Männerstimme.

    »Seine Vitalwerte sind eigentlich ganz ordentlich. Ich sehe eine Eintrittswunde – drehen Sie mal seinen Kopf ein wenig – aber keine Austrittswunde. Das Projektil scheint noch in seinem Kopf zu stecken. Ist das die Waffe, mit der er sich in den Kopf geschossen hat?«

    Keine Austrittswunde? Projektil scheint noch im Kopf zu stecken? Ordentliche Vitalwerte?

    Was ich Ihnen nun sage, sollten Sie sich gut merken! Benutzen Sie für einen Suizid nie, ich betone: nie eine Schusswaffe mit kleinem Kaliber. Achten Sie darauf, dass Ihre Pistole mindestens ein Projektil von Kaliber neun Millimeter abfeuert. Und benutzen Sie um Himmelswillen keine Vollmantel-Geschosse. Vollmantel-Geschosse sind ganz schlecht. Stellen Sie sicher, dass Ihre Waffe mit Hohlspitz-Geschossen geladen ist. Diese pilzen – dies ist ein Fachbegriff – nämlich schön auf und reißen Ihnen ein faustgroßes Loch in Ihr Gehirn. Ach ja, noch eins: Drücken Sie die Waffe nie gegen die Schläfe! Setzen Sie sie stattdessen lieber auf die Nasenwurzel! Wenn Sie dann abdrücken, jagt die Kugel direkt und ohne Umwege durch Ihr zentrales Stammhirn. Der Erfolg ist garantiert, Ihr Tod eine logische Konsequenz.

    Heute weiß ich diese Dinge. Doch damals, in meinem Wohnzimmer, verfügte ich leider noch nicht über dieses Wissen. Ich habe mich wie ein Amateur verhalten. Habe einen Kardinalsfehler nach dem anderen begangen und muss nun mit allen Konsequenzen dieses Amateurtums leben.

    Nun gut. Ich merke schon, Ihre Ungeduld wächst. Ich erzähle und erzähle, schweife vom eigentlichen Thema ab, verliere mich wieder einmal in Belanglosigkeiten.

    Ein Dozent an der Uni hat einmal einen schönen Wahlspruch geprägt. Ich habe ihn wie ein Schwamm in mich gesaugt. Habe ihn zum Leitspruch meines Lebens gemacht.

    „Wer am Ende steht, steht eigentlich am Anfang."

    Was sagen Ihnen diese Worte?

    Auf meine momentane Lebenssituation bezogen, bedeuteten sie, dass ich vor einem Neuanfang stand. Ich lag auf dem sündhaft teuren Edelholzparkett meiner Penthouse-Wohnung und hatte eine Kugel in meinem Kopf stecken. Ich konnte mich weder wie ein Mensch artikulieren, noch gelang es mir, mich zu bewegen. Dass ich nur noch verschwommen Konturen wahrnehmen konnte, hatte ich Ihnen – glaube ich jedenfalls – bereits erzählt.

    Mein Kopf schien in Watte gepackt. Einzig meine Ohren – vernachlässigte man einmal die schrillen Pfeiftöne – erfüllten noch ihren Zweck. Meine Sinne waren auf ein Mindestmaß reduziert, mein Körper diente nur noch als kraftlose Hülle, als ein Schneckenhaus für meinen angeschlagenen Verstand.

    In diesem Zustand zwischen dem Nichts und dem Irgendetwas trat ich meine Reise in die Frankfurter Uni-Klinik an. In den Augen der Polizisten ein widerwärtiger Freak, der seine schöne Frau ermordet und einen Mann fast zu Tode gequält hatte.

    Was der Notarzt über mich dachte, kann ich Ihnen nicht sagen. Doch ich muss gestehen, er war sehr nett zu mir, spendete mir Trost, sprach mir sogar Mut zu.

    Sicher hatte auch er schon einmal die leidvolle Erfahrung eines Betrogenen durchlebt. Sicher verfügte dieser gebildete Mann über den nötigen Intellekt und brachte ein gewisses Verständnis für meine schwierige Situation auf.

    Schließlich war ich ja kein Unmensch. Ich hatte meine Frau nicht aus einer abartigen, gestörten Veranlagung heraus ermordet. Das Gegenteil war der Fall. Ich hatte es nur gut gemeint und sie von ihrer schweren Last, ihrer unerhörten Schuld befreit.

    Was Sie noch nicht wissen: Ich bin eine tragende Säule dieser Stadt. Stehe mit der Bürgermeisterin auf Du und Du. Spiele mit den Richtern regelmäßig eine Partie Golf oder fahre mit dem Oberstaatsanwalt zu einer gemütlichen Weinprobe aufs Land.

    Diese Menschen würden mich bestimmt verstehen. Sie würden ihre Lippen schürzen, verständnisvoll mit dem Kopf nicken und Charly – für das, was sie mir angetan hatte – aufs Strengste verurteilen. Ich hätte beinahe mein Gesicht verloren. Wäre zum Gespött, zum Hauptgesprächsthema hinter vorgehaltener Hand geworden. In den Elite-Kreisen, in denen ich mich bewege, lästert man nicht öffentlich. Man macht es heimlich, im Verborgenen, fernab von Gut und Böse.

    Und das nach allem, was ich für diese Frau getan hatte! Ich hatte sie aus der gutbürgerlichen Schicht geholt und in den gehobenen Kreisen dieser wunderschönen Weltmetropole eingeführt.

    Meine Gedanken schweiften ab. Entfernten sich zu einem Punkt in meinem Leben, an dem meine Arbeit für mich noch oberste Priorität genossen hatte. Ich noch nicht der süßen Versuchung meiner einzigartigen, wunderschönen Charly anheimgefallen war.

    Gott, wie sehr sie mir schon jetzt fehlte! Wie sehr ich den süßen Duft ihrer zarten Haut vermisste. Wie sehr ich ihre sanft geschwungenen Lippen, ihre gletscherblauen Augen herbeisehnte.

    Das Schicksal ist ein bösartiges Monster. Es füttert dich mit den lieblichen Verlockungen des Lebens. Zeigt dir das Paradies auf Erden, lässt dich die Einmaligkeit der Liebe spüren. Und dann, wenn dir die Sonne wie ein Flutlicht aus dem Arsch scheint, türmen sich am Horizont wahre Wolkengebirge auf, bringen Sturm und Hagel mit sich, stürzen dich in ein alles beherrschendes Unglück.

    Ich sehe schon, jetzt wollen Sie auch den Rest der Geschichte hören.

    Ich durchschaue Sie. Sie wollen sich an meinem Pech berauschen, sich an meinem Unglück ergötzen. Nur zu! Lassen Sie keine Gemeinheit aus.

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