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Das Erbe des Atalphen
Das Erbe des Atalphen
Das Erbe des Atalphen
eBook261 Seiten3 Stunden

Das Erbe des Atalphen

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Über dieses E-Book

Das Kraterland wird beherrscht vom Kaiser, der den Ordensburgen das Recht verliehen hat, magiebegabte Mädchen und Jungen als Novizen für die Ritterorden auszuwählen. So wird auch Kymbelin gegen seinen Willen in die Ordensburg Landwehr verschleppt, um dort zum Ritter ausgebildet zu werden. Bei der Eingangsprüfung Kymbelins stirbt die Ordensherrin Quena, und man gibt dem Jungen die Schuld daran. Der Ritter Laelykin wird ihm als Belehrer zur Seite gestellt. Nur Casper und Layla, ebenfalls Novizen, begegnen ihm freundschaftlich. Kymbelin findet auf einem Streifzug, durch eine verbotene Bibliothek, eine rätselhafte Prophezeiung, und kurz darauf taucht der Atalph Anrath, ein geflügeltes Wesen aus der legendenhaften Vergangenheit des Kraterlandes auf. Daraufhin überschlagen sich die Ereignisse, denn es geht um nichts Geringeres als die Herrschaft über das Kraterland.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Okt. 2020
ISBN9783752917727
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    Buchvorschau

    Das Erbe des Atalphen - C. A. Parker

    1. Die Prüfung

    Der Wagen ratterte über das Kopfsteinpflaster in den Burghof, und das Torgitter schloss sich hinter Kymbelin. Mit einem Ruck blieb das Gefährt stehen, und er und die anderen sechs Jungen und Mädchen wurden aus dem Wagen gescheucht. Unsicher standen sie auf dem Hof und waren im Nu vom Regen durchnässt. Der Talentsucher deutete ihnen an, sich unter das Vordach zu stellen und zu warten. Dann verschwand er hinter einer Tür und überließ sie dem feuchten Wind.

    Es verstrichen die Minuten. Kymbelin war bis auf die Knochen durchgefroren. Er dachte daran zurück, wie sich sein Leben vor einer Woche grundlegend geändert hatte. Sechzehn Jahre hatte er auf dem Hof seiner Eltern verbracht, zusammen mit seinen beiden Brüdern und seiner kleinen Schwester. Es war ein entbehrungsreiches Leben gewesen. Es wurde von Sonnenaufgang bis -untergang gearbeitet und im Winter, wenn es früh dunkel wurde, gab es genug Sachen auszubessern oder Dinge zu tun, die im Sommer liegen geblieben waren.

    Erschrocken zuckte Kymbelin zusammen, als eine Tür, vom Wind erfasst, aufschlug. Der Talentsucher erschien in der Zarge. Ein großer, hagerer Mann mit einer Hakennase und tief liegenden Raubtieraugen, die unermüdlich blitzten.

    Kymbelin hatte sich gefürchtet, als er den Talentsucher, seinen richtigen Namen kannte er nicht, zum ersten Mal begegnet war. Sieben Tagen war das jetzt her. Er bekam Heimweh, besonders seine Mutter fehlte ihm sehr. Ihm war, als könne er immer noch ihren süßen Duft riechen. Er bedauerte, mitgekommen worden zu sein, aber er hatte keine Wahl gehabt. Das Gesetz hatte es verlangt.

    Eines Nachmittags war der Talentsucher erschienen. In seinem schwarzen Umhang hatte er unheimlich ausgesehen. Seine Mutter war bleich geworden, denn sie hatte erkannt, wer da zu ihnen gekommen war. Seine kleine Schwester Kito hatte sich ängstlich an den Arm ihrer Mutter geklammert. Seine beiden Brüder hatten sich, genauso wie er, abwartend verhalten und waren bemüht gewesen, gemeinsam ihre Angst zu unterdrücken.

    Allen wussten, was die Ankunft dieses Mannes bedeutete. In langen Winternächten wurde genug von Talentsuchern erzählt. Es waren schaurig anregende Geschichten, aber nur, weil man glaubte, sie würden einen nie selber treffen. Was sind schon Erzählungen verglichen mit der Wirklichkeit?

    Nun stand der Talentsucher vor ihnen und es gab keinerlei Zweifel daran, dass er einer war. Allein seine Ausstrahlung hätte als Beweis genügt, wäre da nicht der Wagen mit den Kindern gewesen. Schweigend stand der Mann vor ihnen und wartete auf eine Reaktion. Schließlich war sein Vater vorgetreten und deutete mit einem Nicken einen Gruß an. »Seid willkommen, Herr. Was führt Euch zu unserem kleinen Hof?«

    Kymbelin bemerkte, wie sein Vater die Worte herauspresste. Jedes Kind wusste, was Talentsucher wollten. Es gab keinen Zweifel über die Absichten dieses Mannes, nur die Höflichkeit gebot es, danach zu fragen.

    »Der Diener des Kaisers erbittet von Eurer Familie eine Gunst«, erklangen die rituellen Worte des Fremden.

    »So tretet heran und waltet Eures Amtes, im Namen des Kaisers«, antwortete Kymbelins Vater ebenso zeremoniell. Er machte dem Mann Platz, sodass dieser mit seiner Arbeit beginnen konnte.

    Gemessen und dennoch mit der Arroganz seines Amtes, das ihm genug Autorität verlieh über Schicksale zu entscheiden, trat er heran und legte die Hand auf Kitos Stirn.

    Kymbelins Mutter erbleichte bei dieser Geste. Der Talentsucher schloss die Augen, während das kleine Mädchen ihn nur unverständlich anstarrte. Sie war noch zu jung, um wirklich zu begreifen, was vorging. Dann öffnete er seine Augen und verkündigte feierlich: »Den Geist dieses Kindes habe ich nicht gespürt.«

    Kymbelins Mutter stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und drückte Kito an ihre Brust. Kymbelin sah, wie ihr Tränen über das Gesicht rannen. Seine kleine Schwester war verschont geblieben. Sein Vater starrte weiterhin ernst drein. Dann bewegte sich der Talentsucher weiter zu Kymbelins Brüdern. Auch hier wiederholte er die Prozedur und lehnte beide mit denselben rituellen Worten ab.

    Kymbelin befiel eine dunkle Beklemmung, als sein zweiter Bruder abgelehnt wurde. Er wusste mit Gewissheit, dass dies bei ihm nicht geschehen würde. Diese Erkenntnis verwirrte ihn zutiefst. Er hatte keine Ahnung, ob dies gut oder schlecht für ihn war, nur sein Leben würde sich in Zukunft grundlegend ändern.

    Als der Talentsucher seine Hand auf Kymbelins Stirn legte, zuckte dieser leicht zurück. Seine Haut kribbelte bei der Berührung und er fühlte von diesem Augenblick nichts mehr. Es war nicht so, als würde ihm schwarz vor Augen. Von einer Sekunde zur anderen wurde sein gesamtes Wahrnehmungsvermögen ausgeschaltet, und dann war es plötzlich wieder da.

    Er sah, wie der Talentsucher seine Hand wegnahm. Schon erwartete er dieselben Worte, wie bei seinen Geschwistern, zu hören, obwohl er im Innern wusste, es würde nicht dazu kommen. Und tatsächlich, ein erfreutes Aufblitzen in den ansonsten leidenschaftslosen Augen des Besuchers kündigten es geradezu an. »Die Suche ist vollendet. Diesem Kind wohnt der immerwährende Geist inne!«

    Der Talentsucher sprach diese Worte mit einer Gewissheit aus, die Kymbelins Eltern zurückzucken ließ. Seine Mutter hielt immer noch die kleine Kito in ihren Armen. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie erkannte, dass sie ihren Sohn verloren hatte - aber ihren Liebling hatte es nicht getroffen und dafür dankte sie den Göttern.

    Kymbelin stand wie betäubt da. Talentsucher kannte er nur aus Geschichten. Wenn du nicht brav bist, holt dich der Talentsucher, wurde ungehorsamen Kindern gesagt.

    Jetzt hatte es ihn getroffen und niemand tat etwas dagegen. Auf dem Gesicht seines Vaters konnte er sehen, dass dieser keinen Einspruch erheben würde. Seine Mutter war froh, dass nicht Kito ausgewählt worden war. Verständnislos blickte Kymbelin seine Eltern an und dann seine Brüder. Niemand sagte etwas, niemand half ihm.

    Der Talentsucher wartete geduldig. Schließlich seufzte sein Vater und ergriff die Hand Kymbelins, auch seine Mutter ließ die kleine Kito los und drückte die andere Hand ihres Sohnes.

    Der Talentsucher trat vor und Kymbelins Eltern legten seine Hände in denen des schwarz gekleideten Mannes. Dabei murmelten sie die Worte: »Wir übergeben den Geist dieses Kind der Obhut der Götter.«

    Seine Mutter war kaum zu verstehen, unter all den Tränen, die sie jetzt vergoss. Der Talentsucher zog ihn fort von seinen Verwandten. Kymbelin wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Da niemand was sagte, ließ er es mit sich geschehen. Der Mann schob ihn auf den Wagen mit den anderen Kindern und wenig später ratterte das Gefährt vom Hof. Er blickte noch lange zurück, und das Bild seiner Eltern, die sich umarmten und dabei seine Geschwister einschlossen, brannte sich in sein Gedächtnis ein.

    Der Talentsucher kam über den Hof gestampft und winkte den Kindern ihm zu folgen. Kymbelin ließ seine Betrachtungen der Vergangenheit und folgte mit den anderen dem Mann ins Innere der Burg. Der Talentsucher sprach nur das Nötigste mit seinen Schutzbefohlenen, und die Kinder waren viel zu sehr eingeschüchtert, um von sich aus Fragen zu stellen. Auch jetzt sagte der Mann nichts. Sie folgten ihm ebenso schweigsam.

    Kymbelin hatte sich mit seinen Leidensgenossen über das, was sie erwarten würde, unterhalten, aber wenig Brauchbares erfahren. Sie kannten lediglich dieselben Geschichten wie er. Sie selbst waren auch aus der Obhut ihrer Familien gerissen worden, und die Prozedur war jedes Mal die gleiche gewesen. Die Eltern hatten die Kinder nur widerwillig, aber ohne Widerstand zu leisten, dem Talentsucher mitgegeben.

    Kymbelins Gedanken wurden unterbrochen, als sie alle in einem großen Saal ankamen. Den Marsch durch die trüben und erdrückenden Gänge der Ordensburg hatte er kaum wahrgenommen, so sehr war er in seinen Betrachtungen vertieft gewesen.

    Die Halle unterschied sich eindeutig von den Gängen. Lampen und nicht Fackeln leuchteten mit ihrem milchigen Licht den ganzen Raum aus. Gobelins an den Wänden erzeugten einen wohnlichen Charakter. Acht Säulen trugen die Decke und waren mit feinstem Stuck übersät.

    Kymbelin zuckte zusammen, als er die ganzen Ordensritter an den Wänden stehen sah. Sie standen dort ruhig und erwartungsvoll, aber auf ihn selber machten sie einen beängstigten Eindruck. Ihre schwarze Kleidung wirkte wie ihre Waffen bedrohlich.

    Voll Schauern erinnerte er sich an das einzige Mal, als er einen Ordensritter gesehen hatte. Das war vor eineinhalb Jahren. Sein Vater hatte ihn und seine Brüder mit in die Stadt genommen. Es war ein besonderer Tag gewesen, denn es sollte ein Verbrecher hingerichtet werden. Ein ungewöhnliches Ereignis für die Kleinstadt und das war auch der Grund, weshalb sie mitkommen sollten.

    Ihr Vater wollte ihnen zeigen, was mit Leuten geschah, die sich nicht ans Gesetz hielten. Kymbelin hatte es zuerst für ein Spiel gehalten und sich bis fast vorne an die Absperrung gedrängt. Dort stand der Mann, der hingerichtet werden sollte, mit seinem Scharfrichter, einem Ordensritter.

    Unwillkürlich hatte Kymbelin in die erbarmungslosen Augen des Ritters geblickt. Noch jetzt träumte er ab und zu, wie dieser das Beil hob und mit einem schnellen Schlag den Verbrecher köpfte.

    Kymbelin war schlecht geworden, denn er bekam ein paar Spritzer Blut ab. Nachher hatte sich sein Vater von seiner Mutter Vorwürfe anhören müssen, die Kinder zu so einer Veranstaltung mitgenommen zu haben.

    Und jetzt sah Kymbelin zum zweiten Mal in seinem Leben Ordensritter. Er erkannte vereinzelt Frauen unter ihnen und vor Staunen vergaß er, seinen Mund zu schließen. Casper, einer seiner Leidensgenossen, gab ihm einen Rippenstoß. Erst das weckte ihn aus seiner Starre.

    Seine Aufmerksamkeit wurde auf den hinteren Teil des Saales gelenkt. Dort stand eine Traube von Menschen und mittendrin eine hochbetagte alte Frau, ebenso in schwarze Gewänder gehüllte, wie die anderen Ordensritter im Raum. Ihr bleiches Gesicht und die schneeweißen Haare bildeten einen scharfen Kontrast zu ihrer Kleidung.

    Kymbelins Blicke wurden magisch von dieser Person angezogen. Sie hatte eine Ausstrahlung, die alles andere im Saal unterdrückte. Er fröstelte. Er hatte die seltsame Ahnung, dass sein Schicksal von dieser Frau abhing.

    Man scheuchte die Kinder weiter in die Halle, und sie mussten sich in einer langen Reihe vor der Frau und ihren Begleitern aufstellen. Sieben große, runde Augenpaare blickten verängstigt auf die Ordensritter.

    Der Talentsucher trat hervor und verbeugte sich vor der Alten.

    »Eurer ehrerbietiger Diener hat seine Aufgabe erfüllt und übergibt diese Seelen der Gemeinschaft der Ordensritter.«

    Man merkte, welchen großen Respekt er vor ihr hatte. Die Frau wandte sich ihm zu und musterte ihn gefühlt eine halbe Ewigkeit, bevor sie unfreundlich erwiderte: »Du hast lange gebraucht, Nigmali, um die dir gestellte Aufgabe zu erfüllen.«

    Kymbelin hörte zum ersten Mal den Namen des Talentsuchers. Dieser erbleichte ob des Tadels und brauchte eine kurze Spanne, um seine Stimme wiederzufinden. »Es ist nicht mehr so leicht wie früher die Auserwählten zu finden, Herrin. Die Zeiten ändern sich.«

    Mit einer Handbewegung wischte sie den Einwand hinfort. »Was soll’s, sich zu beklagen. Lasst mich sehen, was du uns anbietest.«

    Stolz trat sie mit vorgestrecktem Kinn hervor und ließ Nigmali unbeachtet stehen. Die Ordensritter, mit denen sie sich unterhalten hatte, folgten ihr schweigend. Kymbelin bemerkte ihre spöttischen Blicke in Richtung des Talentsuchers.

    Die Greisin trat zum ersten Kind und legte die Hand in der schon bekannten Weise auf dessen Stirn. Stille herrschte im Saal, nicht das geringste Geräusch war zu hören. Kymbelin hielt den Atem an.

    Schließlich nahm sie die Hand wieder von dem Kind fort und gönnte dem Talentsucher einen missbilligen Blick. Dieser zuckte mit den Schultern und entschuldigte sich mit den Worten: »Wie ich bereits sagte, Herrin, es ist schwieriger geworden.«

    Die Alte winkte mit der Hand einen Ordensritter heran, der sich des Kindes annahm und es wegführte, dann ging sie zum nächsten und wiederholte die Prozedur. Kymbelin kam sich wie auf einem Viehmarkt vor. Sie wurden beurteilt und er wusste nicht nach welchen Kriterien.

    Ein, zweimal war die Greisin hoch erfreut über das Kind, das sie prüfte, bei den anderen zeigte sie nicht soviel Freude. Kymbelin war der vorletzte und als Casper neben ihm von einem rothaarigen Ordensritter mit mehrfach gebrochener Nase fortgeführt wurde, bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Jetzt war er an der Reihe. Schweiß perlte von seiner Stirn. Wie sollte er sich verhalten?

    Die Greisin trat vor ihn hin. Er konnte in jeder Einzelheit ihre Falten entdecken. Sorgen und Verantwortung hatten in Jahrzehnten ihre Spuren hinterlassen. Kymbelin verlor sich in ihnen. Wie hypnotisiert ließ er die Prüfung über sich ergehen.

    Eine Hand legte sich auf seine Stirn und sein Geist wurde ins Nichts gezogen. Unendlich weit in die Ferne rückten alle Gedanken und verschwanden in einem grellen Sog. Unvermittelt stand Kymbelin auf einer grünen Wiese, über ihm lag ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken. Was machte er hier? Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Was soll’s?, dachte er und machte sich auf den Weg.

    Auf den Weg wohin? Er wusste es nicht mehr, aber es war wichtig gewesen, deshalb musste er gehen. Nur wohin? Kymbelin drehte sich einmal um die eigene Nase und entschied sich dann Richtung Berge, die kalt und weiß am Horizont schimmerten.

    Stunden waren vergangen und noch immer folgte er dem gewählten Kurs. Langsam verspürte er Hunger und Durst. Zu seinem Glück brauchte er nicht lange zu warten. Sein Weg führte ihn geradewegs zu einer kleinen Quelle, mit klarem Wasser. Hier standen auch Apfelbäume mit reifen Früchten. Genüsslich machte Kymbelin eine Pause und ruhte sich von seiner anstrengenden Wanderung aus.

    Er dachte über die eigenartige Situation, in der er steckte, nach. Wie er es auch drehte und wendete: Er wusste nicht, was er hier sollte. Da ihn seine Betrachtungen so sehr beschäftigten, bemerkte er den Wolf erst, als dieser ihm zähnefletschend gegenüberstand. Schnell sprang Kymbelin auf und stellte sich der Gefahr.

    Der Tier hatte bereits eine ganze Anzahl von Jahren auf seinen Buckel. Grau bis weiß schimmerte sein Fell in der Nachmittagssonne. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich ein weiblicher Wolf.

    Vielleicht eine verstoßene Rudelführerin, die zu alt war, um noch die Leitwölfin zu sein?, dachte er.

    Die Wölfin bleckte die Zähne und ließ ein tiefes Knurren ertönen. Vorsichtig bewegte sich Kymbelin rückwärts. Er wollte dem Tier das Wasser nicht streitig machen. Einen und noch einen Meter wich er zurück. Der Wölfin ging es anscheinend nicht ums Nass, denn sie kam ebenfalls mit jedem Schritt Kymbelins einen Schritt näher heran.

    Er wusste nicht, was er machen sollte. Bisher hatte er noch nie mit Wölfen zu tun gehabt. Was hieß bisher? Eigentlich hatte er keine Erinnerung an sein früheres Leben.

    Scharfes Knurren unterbrach seinen Gedankengang abrupt. Die Wölfin machte sich bereit ihn anzugreifen. Panik erfasste ihn. Schnell drehte er sich um und lief. Das war ein Fehler! Das Tier witterte die Chance und folgte ihm. Nach zwei, drei Atemzügen hatte es Kymbelin erreicht und sprang ihn von hinten an. Hart schlug er auf und er schrie. Die Krallen bohrten sich tief in seinen Rücken. Er spürte den heißen Atem des Tieres und das machte ihn noch panischer. Er drehte sich herum und versuchte das Raubtier abzuschütteln. Dies gelang ihm nur teilweise. Wild schlug er um sich, ohne ein Ergebnis zu erreichen. Die Wölfin hing immer noch an ihm.

    Kopflos ließ er sich fallen. Dies rettete ihm das Leben, denn er landete direkt auf dem Tier. Ein lautes Heulen erklang und danach nur ein leises Wimmern.

    Kymbelin wälzte sich zur Seite. Er hatte das Gefühl, als liefe ihm literweise Blut vom Rücken. Die Kratzwunden brannten höllisch. Als sein Blick zu der Wölfin glitt, vergaß er für einen Moment die Pein. Das Tier lag mit gebrochenem Rückgrat auf dem Gras und es war nicht zu übersehen, dass der Todeskampf nur noch wenige Augenblicke dauern würde.

    Die Blicke des Menschen und des Tieres trafen sich. Kymbelin hatte den Eindruck, diese Augen schon einmal gesehen zu haben. Dann brach urplötzlich der Blick der Wölfin, und Kymbelin wurde selbst in einen Strudel des Schmerzes geworfen.

    Er hörte einen Schrei und spürte einen Schlag. Zunächst wusste er nicht, wo er war, dann erkannte er in dem Ort den Saal der Ordensburg wieder, wohin er und die anderen Kinder gebracht worden waren. Vor ihm auf dem Boden lag die Greisin in einer grausam verrenkten Haltung. Es war offensichtlich, dass sie keinen Lebensfunken mehr in sich trug. Verstört blickte Kymbelin sich um. Alles was er entdeckte, waren nur ebenso verwirrte und verängstigte Gesichter. Sie blickten auf die tote Greisin und dann auf ihn. Wieso auf ihn? Er konnte doch nichts für ihren Tod. Oder? Sie hatte ihn einer Prüfung unterzogen und nun lag sie tot vor seinen Füßen. Was war geschehen? So sehr er sich auch anstrengte, die letzte Erinnerung, die er besaß, war die, dass die Greisin ihre Hand auf seine Stirn legte.

    Plötzlich setzten sich die Ordensritter in Bewegung und Kymbelin erkannte mit Grausen, dass sie es auf ihn abgesehen hatten. Einige langten bereits nach ihren Waffen. Eine der Begleiterinnen der Greisin hatte den Kopf der alten Frau in ihren Schoß gelegt.

    Kymbelin wich zurück. Es gab keinen Ausweg. Seit seinem Erwachen waren nur Sekunden vergangen. Alles schien sich in Zeitlupe abzuspielen. Ein Zucken durchlief den Körper der Greisin, und die Zeit blieb stehen. Die Frau bewegte versuchsweise die Kiefer, als sei sie es nicht gewohnt diese zu benutzen. Erschrocken erstarrten alle Anwesenden. Eine brüchige, von weit her zu kommende Stimme erklang aus der Kehle der toten Greisin.

    »Er ist es. Ich habe immer gewusst, dass ich es erleben würde.« Ein erneutes Zucken erfasste den Leichnam und dann sackte er leblos zurück.

    Kymbelin fing an zu Zittern. Er hatte von Nekromantie gehört, es aber als Kindermärchen abgetan, und nun war er Zeuge einer solchen geworden. Nicht nur Zeuge, verbesserte er sich zynisch, sondern auch Ziel.

    Nicht nur er konnte seine Lähmung abschütteln, die Ordensritter fokussierten ihn wieder. Befehle wurden gegeben und ein dicklicher, kleiner Ritter trat auf ihn zu, zerrte ihn weg von diesem Ort.

    Wortlos folgte Kymbelin dem Ordensritter. Er konnte das Geschehene nicht begreifen. Auch der Mann neben ihm sprach kein Wort. Sie gingen die gewundenen Gänge entlang, aus denen die gesamte Ordensburg zu bestehen schien. Kymbelin hätte alleine nicht mehr zurückgefunden, so verzweigt waren die Korridore. Schließlich kamen sie vor einer schweren Holztür zu stehen. Der Ordensritter drehte sich zu ihm um. Er klang äußerst grimmig, als er sprach: »Von nun an werden wir zusammen in diesen Räumen sein.«

    Daraufhin öffnete er die Tür und trat ein. Kymbelin folgte ihm. Sie betraten einen langen Flur. Der Boden war mit Parkett ausgelegt und die Wände waren verputzt. Einige Bilder hingen an ihnen. Er konnte nicht sogleich erkennen, was auf ihnen abgebildet waren, denn der Ordensritter schritt eilig durch den Flur, und Kymbelin musste ihm schnell, wollte er den Anschluss nicht verlieren.

    Der Mann blieb vor einer weiteren

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