Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Herr Gutermann
Herr Gutermann
Herr Gutermann
eBook244 Seiten3 Stunden

Herr Gutermann

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Manuel beschließt zu sterben, denn ihm fehlt der Sinn im Leben. Nicht nur in seinem, sondern im Leben aller. Doch kurz bevor er springt, zögert er. Daraufhin taucht eine mysteriöse menschenartige Gestalt auf: Herr Gutermann. Er nimmt Manuel mit zu sich und schlägt ihm dort ein Spiel vor. Ein Spiel um Manuels Leben. Dieser willigt ein, doch scheint das Spiel letztendlich nicht zu gewinnen. Wird er nun sterben müssen?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Dez. 2021
ISBN9783754933930
Herr Gutermann
Autor

Fabian Fischer

Ich bin ein Hesse mit oberschlesisch-unterfränkischen Wurzeln. Gelebt habe ich schon in mehreren Ecken der Welt und überall war es wichtig, zumindest temporär ankommen zu können. Offenheit und Toleranz sind mir daher sehr wichtig. Seit 2015 wohne und arbeite ich in Frankfurt am Main. Als studierter Orientalist und Kulturgeograph mit Schwerpunkt Entwicklungsforschung und politischer Geographie bin ich als Autor ein klassischer Quereinsteiger. Die Idee, Romane zu schreiben, hatte ich schon länger. Die Zeit, sie zu Papier zu bringen, allerdings nicht. Im ersten Corona-Lockdown 2020 habe ich gemerkt, dass ich ein Ventil brauche, um mich sinnvoll und kreativ zu beschäftigen. Nun hatte ich auch die Zeit, um mich diesem Projekt zu widmen.

Ähnlich wie Herr Gutermann

Ähnliche E-Books

Action- & Abenteuerliteratur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Herr Gutermann

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Herr Gutermann - Fabian Fischer

    Sonntag: Manuel

    Erst gestern hatte Manuel beschlossen, zu sterben. 

    Heute würde er es in die Tat umsetzen. 

    Wie jeden Tag klingelte sein Wecker um 6:20 Uhr.

    Geweckt werden musste Manuel heute aber nicht, denn er hatte die ganze Nacht hindurch diverse Optionen der Selbsttötung durchgespielt.

    Gegen 5:05 Uhr hatte er schließlich eine Entscheidung getroffen, mit der er leben konnte.

    Zumindest die verbleibenden Stunden.

    Bei der Entscheidung hatte ihm eine Pro- und Contra-Liste geholfen, wie er sie auch oft im Arbeitskontext anfertigte.

    Während die Contra-Seite, also die Nachteile einer Selbsttötung, viele fein säuberlich aufgelistete und damit wohldurchdachte Punkte aufwies, sah es bei den Pros, den Vorteilen, nach dem genauen Gegenteil aus: Viele durchgestrichene Begriffe und Halbsätze lagen quer und übereinander und machten diesen Teil der Übersicht kaum lesbar.

    Manche Wörter waren erneut über ihre ausradierten Vorgänger geschrieben und dann wieder gestrichen worden. Der einzig noch lesbare, gültige Begriff stand vertikal und schluderig am linken Seitenrand geschrieben.

    Wenn man sich das Wort durchlas, überkam einen das Gefühl, als hätte Manuel zum Ende hin keine große Lust mehr gehabt, sich noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

    Dort am Seitenrand, beinahe schon gequetscht, stand:

    Ruhe.

    Als der Wecker aus dem Schlummermodus erwachte, legte Manuel seinen Stift zur Seite, stand von seinem Bürostuhl auf und ging zu seinem Nachttisch.

    Er drückte auf die Stopp-Taste, der Wecker verstummte wieder und Manuel hörte: Nichts. 

    Seit gestern kam es ihm so vor, als würde er sich unter einer Glocke oder etwas Ähnlichem befinden.

    Er vernahm Geräusche von draußen, konnte Gerüche um sich herum aufnehmen, aber etwas schien ihn von seiner Außenwelt zu trennen. Es war eine beunruhigende Dumpfheit, keine friedliche Stille. Einmal bewegte er seine rechte Hand vorsichtig nach vorn und versuchte, etwas zu greifen.

    Die unsichtbare Glocke um ihn zu berühren.

    Doch er griff nur Luft. Und auch als er mit seinen Armen wild um sich schlug, zerplatzte die Blase nicht.

    Er beschloss, sich ab heute darum nicht mehr zu kümmern. Insgesamt musste er sich nicht mehr um vieles kümmern. 

    Muss ich duschen?

    Manuel blickte an sich herunter.

    Er trug noch immer die dunkelblaue Jeans und das karierte Hemd, das er gestern für die Arbeit angezogen hatte.

    Er war gegen 21:10 Uhr mit leerem Blick nach Hause gekommen und direkt in sein Schlafzimmer gegangen.

    Dann hatte er begonnen, die Übersicht an Vor- und Nachteilen seiner Selbsttötung zu erstellen. 

    Dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, sah man ihm direkt an: Seine schwarzen, vollen Haare waren verstrubbelt, leicht fettig und alles andere als in Reih und Glied. Seine Augen waren blutunterlaufen und juckten leicht. Und seine Zähne hatte er zuletzt gestern früh geputzt.

    Duschen sollte ich schon.

    Er kratzte sich durch die Jeans am Hintern und schlappte zum Fenster hinüber. Als er nach draußen blickte, verbesserte sich seine Stimmung nicht unbedingt: Es war ein kalter, nasser Novembertag, so wie man ihn kannte und nicht schätzte. Die Schaukel auf dem Spielplatz gegenüber wurde vom Wind angeschubst und die kahlen Äste von zwei Apfelbäumen auf der Wiese nebenan bogen sich mal nach unten, mal nach oben.

    Ätzendes Wetter. Ein richtiges Unwetter. Unwetter? Was für ein dämlicher Begriff. Wetter ist doch auch weiterhin Wetter, auch wenn es beschissen ist.

    Damit räumte Manuel seinen Platz am Fenster, verließ das Schlafzimmer und ging in die Küche. Er hatte keinen Hunger, aber eine Kleinigkeit essen wollte er schon.

    Das Abendessen hatte er gestern schließlich auch schon ausgelassen und für sein Vorhaben brauchte er sicher etwas Stärkung.

    Nachdem er sich zwei Toastbrote mit Butter und Marmelade und die dritte Tasse Kaffee einverleibt hatte, lief er ins Badezimmer. Auf halbem Wege dorthin entschloss er sich aber doch, nicht zu duschen.

    Wozu denn auch? Die Leiche wird doch eh nochmal gesäubert, das ist dann nur Wasserverschwendung.

    Mit dieser neuen Entscheidung lief er wieder zurück ins Schlafzimmer, setzte sich an den Schreibtisch in der Ecke und zog ein weißes, leeres Papier aus der Schublade.

    Er griff zu seinem Füller, drehte den Verschluss langsam ab und begann zu schreiben.

    Liebe Eltern, lieber Thomas, ...

    Manuels Abschiedsbrief war kurz. Er brauchte daher nicht lange, um ihn zu schreiben. Da er keinen konkreten und für Unbeteiligte nachvollziehbaren Grund für die Selbsttötung nennen konnte, beließ er es bei:

    mir tut es leid, aber es muss sein. Das ist allein meine Entscheidung, es liegt nicht an euch oder so.

    Verzeiht mir bitte. Ich habe euch erneut enttäuscht.

    Euer Sohn und Bruder

    Manuel

    Dann legte er den Stift beiseite und packte den Brief zusammen mit seiner Übersicht an Vor- und Nachteilen in einen Umschlag.

    Er blickte nach rechts. Auf dem Schreibtisch stand ein kleines gerahmtes Bild, das ihn mit seiner Familie zeigte. Mutter, Vater, zwei Söhne im jungen Erwachsenenalter. Sie im Kostüm, die drei Männer im Anzug mit Krawatte. Eine freundlich lachende Truppe mit einer gewissen Ausstrahlung von Macht und Selbstbewusstsein. Im Hintergrund erstrahlte ein herrschaftliches Haus, ein regelrechter Palast. Und über dem Hauseingang prangte ein Wappen. Mit einer Sprungfeder, Turbine, Säge und Glocke darauf sowie dem Wahlspruch SIMUL FORTIS. Gemeinsam stark.

    Seine Lippen kräuselten sich. Er fixierte das Wappen und ballte seine rechte Hand zur Faust. Mit einem erneuten Blick auf seinen Brief entspannte sich sein Gesicht aber wieder und er begann zu grinsen.

    Die Glocke um ihn existierte noch, allerdings war sie weniger spürbar geworden. Er sah es als Bestätigung, das Richtige zu tun. Manuel merkte, dass der Regen draußen deutlich stärker war, als er es vorhin noch gedacht hatte. Und ebenso stärker waren auch die Gerüche im Zimmer, darunter auch sein Körpergeruch.

    Na gut, ich dusche doch noch. Was soll der Geiz?

    Er ging daher ins Badezimmer, entkleidete sich und stieg in die Duschkabine. Dort blieb er aber nicht wie gewöhnlich nur fünf Minuten. Heute stand er wie fixiert unter dem Duschkopf und ließ sich wortlos das warme Wasser auf den Kopf regnen. Die Minuten vergingen und Manuel griff nicht zum Drehknopf, um das Wasser wieder abzustellen.

    Er wusste, dass er hier nicht noch viel länger stehen konnte. Wie so oft, fiel es ihm aber schwer, eine schnelle und ihn zufrieden stellende Entscheidung zu treffen.

    Erst nach fünfzehn Minuten und einem schnellen Überschlagen des zusätzlichen Wasserverbrauchs stoppte er den Wasserschwall und verließ die Duschkabine.

    Beim Abtrocknen blickte er noch schnell in den Spiegel, entschied sich aber sowohl gegen das Verwenden eines Deodorants als auch die Rasur seines Fünftagebarts.

    Gegen zehn Uhr stieg er dann in seinen anthrazitfarbenen Saab 900 und fuhr an die Küste.

    An einem Wanderparkplatz ließ er das Auto stehen und ging weiter in Richtung Klippen. Das Wetter schien ihm sein Vorhaben nicht zu verzeihen, so sehr stürmte es. Doch je näher er dem Abgrund kam, desto weniger Geräusche hörte und desto weniger Regen spürte er.

    Keine drei Meter von der Klippe entfernt sah er die hohen Wellen und die schäumende Gischt. Das Meer brodelte.

    Neben seinen Füßen beobachtete er, wie der Wind das durch die Jahreszeit mittlerweile grün-braun gefärbte Gras hin und her peitschte.

    Manuel bekam aber von den Elementen um ihn herum wenig mit. Die Glocke um ihn war seit seinem Aufbruch wieder deutlich spürbar, nun umso geschlossener, beinahe schon hermetisch. Es war ein seltsames Gefühl, das ihn umkam. Als würde er tauchen und alles um sich beobachten, aber nichts spüren können.

    Er ging zwei Schritte nach vorn und blickte nun direkt nach unten: Die Wellen zerschellten an den Steinen knapp 80 Meter unter ihm. Gleich würden sie auch ihn zerschellen.

    Manuel zögerte. Er hatte gedacht, dass er, gut gestärkt und durch das ganze Koffein belebt, sein Vorhaben schnell durchziehen würde. Doch nun zögerte er. Er blickte wieder auf und schaute aufs Meer.

    Links am Horizont sah er eine Fähre, die geradewegs ins Nachbarland fuhr. Und rechter Hand war der Dicke Eugen zu sehen, ein rot-weißer Leuchtturm, dessen Architekt sich ein eigenes Denkmal setzen wollte und die normalerweise hohe und schlanke Gestalt durch einen dicken Klotz von Gebäude ausgetauscht hatte. Neben den Klippen war der Dicke Eugen die Sehenswürdigkeit in der Region.

    Manuel war in seinen knapp 39 Jahren sehr oft hier gewesen. Mit seinen Eltern, seinem Bruder, Freunden. Zum Picknick am Klippenrand oder um über kleinere Schleichwege zu einer geschützten Bucht zu kommen, die nur die Einheimischen kannten. Früher hatte er auch Frauen hierhergebracht, die er beeindrucken wollte. Meist waren diese aber mehr von der Landschaft als von ihm beeindruckt gewesen.

    Heute kam er allein. Und heute würde er nicht picknicken oder die Bucht aufsuchen oder jemanden beeindrucken wollen. Heute würde er wohl eher enttäuschen. Etwas anderes, etwas Neues tun. Man könnte schon sagen: Ins kalte Wasser springen. Manuel musste über seinen Wortwitz schmunzeln. Er dachte an seine Liste. Und er versuchte, das Meer und die Gischt zu hören. Er wollte den Wind und den Regen spüren. Aber er hörte und spürte nichts, die Glocke war zu dick. 

    Ist das der Ausblick auf die Ruhe, die ich mir erhoffe?

    Die Fähre war mittlerweile am Horizont verschwunden und das Leuchtfeuer am Dicken Eugen blitzte weiterhin in regelmäßigen Abständen auf. Manuel schaute wieder aufs Meer.

    »Springst du nun endlich, oder was? In zehn Minuten kommt ein Junge her, der sollte dich hier nicht so zweifelnd antreffen. Das bringt den ganzen Zeitplan durcheinander, weißt du?« 

    Manuel war regelrecht erschrocken, als ohne Vorwarnung eine tiefe Stimme die Stille in seiner eigenen Glocke zerschnitten hatte. Beinahe wäre er dadurch abgestürzt.

    Er konnte aber einen Satz nach hinten machen und sich dadurch aus der unmittelbaren Gefahrenzone retten. Keine zehn Meter entfernt sah er einen Mann vor sich stehen. Zumindest hielt er die Person für einen Mann.

    »Und für 14 Uhr hat sich ein krebskranker Mann angekündigt. 87 Jahre alt, seine Frau ist letzte Woche gestorben. Der hat immer starke Entscheidungen im Leben getroffen und so wird er es auch jetzt tun. Mächtig beeindruckend, der Typ. Bei dir bin ich mir nicht so sicher, du bist jetzt erst einmal ein Problem. Das ist wie beim Domino-Spielen: Wenn ein Stein blockiert, stoppt der ganze Prozess. Dann muss ich wieder schauen, dass die Blockade gelöst wird.

    Und das dauert. Dann bekomme ich Ärger, weil wir das Tagesziel nicht erreicht haben. Du willst doch jetzt nicht dieser beschissene Dominostein sein, der mir so viel Ärger bereitet, oder? Eben. Also, zieh’s nun schnell durch oder tritt zur Seite, der Junge ist nämlich sehr entschlossen.«

    »Was? Welcher Junge? Und was für ein Problem bin ich?« 

    Manuel hatte zunächst gedacht, dass er träumte. Dann war er sich sicher gewesen, dass der Mann, der vor ihm stand, ein Seelsorger sein musste. Der Ort war für Vorhaben wie seines in der Gegend bekannt. Dann wiederum hatte der Mann mehr erzählt, als ein Seelsorger wissen konnte. Oder der mit diesem Wissen sicher anders umgehen würde, als die Situation einfach zu akzeptieren.

    Manuel musterte den Mann nun genauer und zweifelte an der Seelsorger-Theorie. Er hatte dunkel geschminkte Augen und einen ungewöhnlich roten Mund. Mit all den Furchen und Grübchen im Gesicht schien der Mann sehr alt zu sein. Sehr, sehr alt.

    Wie eine Mumie.

    Er war in recht altertümliche Gewänder gekleidet. Über einem ockerfarbenen Hemd trug er eine braune Weste und einen mittellangen schwarzen Mantel. An seinen Fingern schimmerten allerlei bunte Ringe, zusätzlich führte er einen knorrigen Wanderstock und einen Ledersack mit sich.

    Vielleicht ein sehr alter und exzentrischer Seelsorger?

    »Wer ... wer bist du? Was redest du da alles? Dominosteine? Was für ein Junge kommt vorbei? Und warum? Um sich umzubringen? Vielleicht ist er nur durcheinander?«

    Der Mann schmunzelte.

    »Hm, das darf ich dir leider nicht sagen. Aber er wird es durchziehen, soviel ist sicher. Wer ich bin? Ich bin ich, er! Es freut mich, Manuel.«

    Der Himmel über ihnen war dunkelschwarz. Nur ein kleiner Lichtkegel brach durch die Wolkendecke und erhellte die Szenerie. Der Mann machte eine ausladende Geste und verbeugte sich leicht vor Manuel. Die Situation hatte etwas Majestätisches, auch wenn es ihn gleichzeitig gruselte.

    »Du ... du bist Gott? Woher kennst du meinen Namen? Bin ich tot, bin ich schon gesprungen?«

    »Gott? Hahaha, ach nein, doch nicht er. Wieso denkt jeder von euch immer gleich an ihn? So gut sieht er nun auch nicht aus. Hast du ihn schon mal gesehen?«

    Manuel schüttelte irritiert den Kopf.

    »Weiße Haare, weißer Kittel, Lederschlappen. Er könnte auf Ibiza wohnen und es würde keinem dort auffallen. Der Kerl hat es echt drauf. Die Massen zieht er wie früher zwar nicht mehr an, aber seine Gefolgschaft ist noch recht groß und mächtig. Und das, obwohl doch viele seiner Aussagen fragwürdig sind, meinst du nicht auch?«

    Manuel meinte es auch, konnte oder wollte aber nichts darauf in diesem Moment erwidern.

    »Du musst nichts sagen, ich kann dein Gesicht lesen. Wie ein Buch. Ich weiß nicht, ob das mir schmeicheln soll oder ob ich mich über den begrenzten Verstand der Menschen schämen soll. Mich mit Gott zu verwechseln. Gott ist auch nur einer unter vielen. Wenn ich alle in seinem Rang aufzählen müsste, bräuchte ich wahrscheinlich so an die 7320 Paar Hände. Aber dass der sich so an die Spitze einer Bewegung geputscht, ich meine gepusht hat, ist schon beeindruckend. Ich hätte damals auch die Chance gehabt, aufzusteigen. Aber ich bin nicht so geltungsbedürftig. Ich agiere lieber im Hintergrund, als dass ich irgendwelche Tempel mit Fotos oder Statuen von mir haben möchte.

    Du hast gefragt, wer ich bin: Ich bin Herr Gutermann.

    Woanders bin ich als Engel bekannt. Manchmal auch als Dschinn. Als gute oder schlechte Fee, je nach Märchen. 

    Nach mir sind viele Buch- und Filmcharaktere entstanden.

    Kennst du vielleicht den Gluhschwanz? Oder den Sandmann? Die Liste ist schier endlos. Und je nach Region werde ich etwas anders dargestellt. Äußerlich. Mit einer anderen Motivation. Oder einer anderen Vorgehensweise. Aber im Großen und Ganzen ist das egal.

    Freunde und Bekannte wie Frau Holle oder Ahone nennen mich meist Griesgram oder Besserwisser. Ich bin mir aber mittlerweile sicher, dass sie das mit einem Augenzwinkern meinen. So ganz ohne sind die nämlich auch nicht. Haben’s faustdick hinter den Ohren. ›Schüttel die Decke‹? Du kannst mich mal. Ich weiß doch, wer da alles drin schläft. Nee nee. Aber nun zu dir: Ich habe das Gefühl, dass du deine Entscheidung in dem Moment, in dem du springst, bereuen wirst. Vielleicht bereust du schon, überhaupt hierhergekommen zu sein?«

    Manuels Stirn legte sich in Falten. Er musste träumen. Frau Holle kannte er aus den Märchenbüchern seiner Kindheit. Ahone konnte er nicht einordnen. Aber das sollte nicht weiter Thema sein, denn er befand sich sicher in einem Traum.

    »Nein, Manuel, du träumst nicht. Falls du daran zweifelst: Schau mal an dir runter. Bist du nass? Hat der Regen deine Kleidung aufgeweicht? Ich beantworte diese Fragen schon mal: Ja. Und das ist ein Zeichen, dass du nicht träumst.

    Also, mit Blick auf den kleinen Mike, der hier gleich herradelt, bitte ich dich, nun zu mir zu kommen. Ich habe etwas Zeit, daher können wir uns ein bisschen unterhalten. Ich bin nämlich sehr gesellig, weißt du? Aber lass uns erst einmal vom Ort des Geschehens oder sagen wir mal lieber vom Ort des Ungeschehens weggehen.«

    Manuel war sich immer noch sicher, dass er träumte.

    Die Fragen und Antworten von diesem Mann hatten ihn nicht wirklich überzeugt. Aber was sollte er nun auch machen? Springen wollte er gerade tatsächlich nicht mehr, da hatte er – Herr wie? – recht. Und die unsichtbare Glocke um ihn herum existierte auch nicht mehr.

    Er nahm das als gutes Zeichen, dass er nicht gesprungen war. Er machte an der Klippe kehrt und ging vorsichtig zu dem exzentrisch gekleideten Mann hinüber. 

    Herr Gutermann schmunzelte erneut.

    Er streckte Manuel seine Hand voll glitzernder Ringe hin und öffnete seinen Mund. Mit seinen blutroten Lippen formte er ein unnatürlich großes Oval. Aus diesem strömte ein dicker, schwarzer Nebel, der ihn, Manuel und eine kreisrunde Fläche um sie herum sofort einhüllte.

    Manuel überkam ein Schauer und zog schnell seine bereits ausgestreckte Hand weg. Er versuchte erfolglos, wegzurennen, aber seine Beine waren schwer wie Blei. Er wollte aus Verzweiflung schreien und um Hilfe rufen, aber auch das funktionierte nicht. Und dann hörte er aus dem Nebel nur noch eine Frage: »Wollen wir uns nicht setzen und unterhalten? Du brauchst keine Antwort geben, denn heute wirst du so oder so nicht sterben. Du hast also alle Zeit der Welt.« 

    Manuel hatte das Gefühl, dass der Nebel in seinen Mund, seine Nasenlöcher, seine Ohren und Augen strömte.

    Er hatte das Gefühl, gleichzeitig zu erblinden und zu ersticken. Aber er konnte nicht weg, dafür waren seine Beine zu schwer.

    Also akzeptierte er sein ihm unbekanntes Schicksal und griff nach Herrn Gutermanns ausgestreckter Hand.

    Er hörte nur noch ein hysterisches, schrilles Lachen, dann wurde ihm schwindelig und er fiel zu Boden.

    Eine gefühlte Ewigkeit später wachte er wieder auf.

    Er saß aufrecht und mit einem klaren Kopf auf einer Parkbank. Auf einer zweiten Bank ihm direkt gegenüber saß der mysteriöse Mann, der ihn so urplötzlich an der Klippe angesprochen hatte. 

    Manuel wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Der Blick auf seine Uhr ließ ihn aber verwirrt zurück:

    Er saß nun hier, fernab von Klippen und Regen und trotzdem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1