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Im Licht Kafarnaums: Novelle
Im Licht Kafarnaums: Novelle
Im Licht Kafarnaums: Novelle
eBook224 Seiten3 Stunden

Im Licht Kafarnaums: Novelle

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Über dieses E-Book

Die Brüder Stefan und Max reisen in der Mitte ihres Lebens gemeinsam mit einer illustren Reisegruppe für eine Woche nach Israel. Hierbei begegnen sie sich, den Mitreisenden und dem Heiligen Land auf überraschende Weise.
Besonders durch das "Licht Kafarnaums" eröffnet sich Stefan eine Perspektive, die der zweiten Hälfte seines Lebens eine neue Richtung gibt."
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Feb. 2021
ISBN9783753180458
Im Licht Kafarnaums: Novelle
Autor

Leo Gold

Leo Gold studierte an den Universitäten Tübingen, Freiburg im Breisgau und Frankfurt am Main Germanistik. Er lebt in der Nähe von Wiesbaden.

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    Buchvorschau

    Im Licht Kafarnaums - Leo Gold

    Auf dem Weg

    Hotelfrühstück – Begrüßung durch den Reiseführer – Altstadtbesichtigung in Jaffa – Caesarea – Mittagessen in Akko – Abendstimmung in Haifa – Kibbuz am See Genezareth

    Stefan und Max wachten so früh auf, dass sie vor Beginn des Frühstücks erneut zum Strand von Tel Aviv spazierten. Da sie die letzte Nacht ihrer Rundreise in Jerusalem verbringen und von dort direkt zum Flughafen gefahren werden würden, war es für sie die letzte Möglichkeit, unabhängig von der Reisegruppe in Tel Aviv unterwegs zu sein. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Horizont.

    Gegen 7 Uhr betraten die beiden den Speisesaal, in dem sich einige der bekannten Gesichter vom Vortag in einer Schlange vor dem Kaffeeautomaten drängten. Normalerweise standen zwei Kaffeeautomaten zur Verfügung. Da einer davon defekt war und der andere wegen Überlastung auch nur noch in verminderter Geschwindigkeit die vier verschiedenen Kaffeevariationen brühte, wurde die Reihe vor ihm länger und länger. Max und Stefan entschieden sich, sich antizyklisch zu verhalten. Sie gingen zu dem Tisch, auf dem unterschiedliche Müslisorten, Kuh-, Hafer- und Sojamilch, Joghurt, Kefir, getrocknete Früchte und Nüsse standen. Schnell noch einen Esslöffel genommen und beide näherten sich einem der runden Gruppentische, an dem ein Ehepaar Platz genommen hatte, das aus Münster stammte.

    Andreas und Inge, wie sich die beiden mit Vornamen vorstellten, erzählten offen von sich und hielten auch nicht hinterm Berg damit, welche ersten gesundheitlichen Befindlichkeiten das ungewohnte Klima und Essen bei ihnen bewirkten. Stefan freute sich, dass Max zwischen ihm und Andreas saß. So brauchte er sich nicht aktiv am Gespräch zu beteiligen und konnte Personen beobachten, die er zunächst interessanter fand.

    Stefan waren zwei Frauen aufgefallen. Vom Alter und Aussehen zu schließen, vermutete er, es seien Mutter und Tochter. Die Mutter, sie hieß Maria, hatte lockiges, kinnlanges Haar, dessen Pony durch einen schwarzen Haarreif im Haupthaar verschwand, und ein ebenmäßiges Gesicht. Die blonden Haare der Tochter – Mathilde – waren, wie es zu dieser Zeit Mode war, in einem Dutt, der direkt auf der Oberseite des Kopfes mit einem Haargummi befestigt war, zusammengebunden. Offen reichten sie ungefähr bis zur Mitte ihrer Wirbelsäule. Das ebenmäßige Gesicht hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Aufgrund ihrer Jugend – Stefan glaubte, sie sei um die 30 Jahre alt – fielen noch mehr Blicke auf sie. Aus der Fülle an Reizen, die sich vervielfachte, als sich Mathilde und Stefan kurz in die Augen schauten, hob sich unter anderem die glatte und leicht gebräunte Haut Mathildes ab.

    Stefan beobachtete, wie sich Mathilde ans Ende der Reihe vor dem Kaffeeautomaten anstellte. Eine der beiden Frauen, die kurz darauf hinter ihr warteten, verband die zwei losen Bänder in der Mitte des Schlitzes des Rückenteils von Mathildes ärmelloser, lindgrüner Bluse – der zuvor ungewollt eine große, freie, ovale Fläche ihres Rückens offengelegt hatte – wieder zu einer Schlaufe zusammen.

    Mathilde drehte sich irritiert um, als sie bemerkte, dass jemand sich an den Bändern am Rückenteil ihrer Bluse zu schaffen machte. Sie blickte erleichtert, als sie sah, dass es eine Frau war, die sich darum sorgte, dass alles seine Ordnung hatte.

    Maria, die ihren 57. Geburtstag in drei Monaten feiern sollte, leitete seit dem Ende ihres Musikstudiums die Musikschule einer Kleinstadt in der Nähe von Paderborn, beinahe 33 Jahre lang. Ihre Persönlichkeit passte zu diesem Posten. Sie war kämpferisch und konnte dadurch den Etat der Musikschule, der größtenteils von der Stadtverwaltung getragen wurde, schrittweise erhöhen. Und auch die Zahl der Musikschüler wuchs, bis auf eine kurze Phase ihrer Tätigkeit, kontinuierlich. Sie begann mit 300 Schülern, inzwischen waren es über 700 geworden. Die Kehrseite ihres extrovertierten Charakters, genauer, die Kehrseiten, bekam ihr Mann Richard zu spüren.

    Es ist ja das Besondere, dass manche Frauen, die in allen anderen verwandtschaftlichen Bezügen, Freund- und Bekanntschaften, großherzig, verständnis- und liebevoll, nicht nachtragend und geduldig sein können, ihren Ehemann oder Partner auf Herz und Nieren prüfen und achtgeben, dass sie ihm nur dosiert Annehmlichkeiten schenken. Am Anfang prüfen sie ihn, weil sie wissen möchten, ob er stressresistent genug ist, um ein treuer Gefährte, ein guter Ernährer und Familienvater zu sein. In der Mitte der Ehe prüfen sie ihn, weil sie sich vergewissern möchten, ob er treu und loyal zu ihnen und ihren Kindern steht. Und am Ende der Ehe prüfen sie ihn, um zu erfahren, ob sie während der Ehe nicht doch etwas übersehen haben.

    Richard, ebenfalls Pianist wie Maria, liebte sie seit dem Studium. Ihre Beziehung war von Höhen und Tälern bestimmt. In den Tälern dachte Maria zunehmend an Scheidung. Als sie eines morgens neben Richard aufwachte, ihn ansah, wollte sie sich scheiden lassen. Doch etwas hielt sie von diesem Schritt zurück. Stattdessen zog sie für einige Jahre in ein anderes Haus, ehe sie wieder zu Richard zurückkehrte.

    Diese Trennungszeit belastete Mathilde. Sie ließ es sich nicht anmerken, überspielte es. Mathilde fühlte sich zu ihrem Vater hingezogener, obgleich sie die Zuverlässigkeit ihrer Mutter schätzte, was keine ausgesprochene Fähigkeit ihres Vaters war. Sie besuchte Richard zu allen sich ergebenden Gelegenheiten. Bei ihm zuhause stand ihre Harfe. So war es ein Einfaches, ihren Vater täglich zu besuchen. Sie musste ja Harfe üben. Beim Harfespielen vergaß sie ihre Traurigkeit, dass ihre Mutter und ihr Vater nicht mehr zusammenwohnten. Als das ältere Geschwister fühlte sie sich verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Maria wieder zu Richard zog. Da es ihr vorerst nicht gelang, konzentrierte sie sich aufs Harfenspiel. Als Maria wieder zu Richard gezogen war, hörte Mathildes übermäßiger Einsatz für die Musik nicht auf. Denn ihre Sorge, die Eltern würden sich erneut trennen, wurde nicht still.

    Nach ihrem Abitur erhielt Mathilde einen Studienplatz an der ‚Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin‘. Im Anschluss daran spielte sie in verschiedenen Orchestern als Honorarkraft, bis sie sich gegenüber 130 Mitbewerberinnen durchsetzte und Soloharfenistin der Berliner Philharmoniker wurde. Nach dem Probejahr, das vor zwei Monaten geendet hatte, erlitt sie einen Zusammenbruch. Die vielen Jahre der Anspannung, in denen ihr Körper durchgehalten hatte, ballten sich in einem gutartigen Tumor an der Niere. Er konnte komplett entfernt werden. Doch der Schreck saß tief, wenn auch nicht so tief wie die Sorge um eine mögliche, erneute Trennung, ja vielleicht sogar Scheidung ihrer Eltern. Diese Sorge war aktiv und beeinflusste Tag um Tag ihr Leben, ihre Entscheidungen, ihre Freuden und ihre Traurigkeiten. Diese seelische Geschwulst war bösartig, streute ihr Gift in sämtliche, gesunde Bereiche, sich immer weiter ausdehnend, so dass es immer schwieriger wurde, sich mit der Musik zu beruhigen.

    Wie Stefan und Max waren Maria und Mathilde noch nie allein miteinander verreist. Da Maria die Gabe hatte, spontan zu sein, und das Gefühl und später den Gedanken nicht verlor, sie habe etwas mit Mathildes Zusammenbruch zu tun, lud sie Mathilde auf diese Israelreise ein. Mathilde wunderte sich, weshalb das Reiseziel ‚Israel‘ sein solle. Sie waren zwar beide katholisch getauft, ansonsten hatten sie mit der Kirche und dem Glauben nicht viel am Hut. Weshalb also ‚Israel‘? Auf Mathildes Frage, warum es ‚Israel‘ sein solle, Mallorca, Tunesien, Griechenland oder Italien seien doch auch schön und schneller zu erreichen, hob Maria die Schultern und sagte: „Keine Ahnung. Als ich vorgestern Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war mir klar, wir zwei müssen nach Israel reisen."

    Mathilde wusste nicht, wie ihr geschah. Aber sie war offen, nach ihrem Zusammenbruch noch offener, weil auch sie mutmaßte, dass sie nicht von ungefähr krank geworden war. Zudem war sie neugierig, wie es sein würde, allein mit ihrer Mutter zu verreisen.

    Stefan blickte von Mathilde zu Max, der immer noch mit seinen Tischnachbarn Andreas und Inge sprach. Stefan hörte, wie Andreas zu Max sagte: „Wir müssen noch unsere Koffer packen. Aber wir sehen uns ja gleich wieder in der Lobby."

    Da die Schlange vor dem Kaffeeautomaten auf zwei Personen zusammengeschrumpft war, stellte sich nun Stefan an und holte für Max und sich zwei Café, die sie tranken, ehe sie ihre gepackten Koffer aus dem Hotelzimmer holten und mit dem Aufzug in die Hotellobby fuhren.

    Dort hatte sich schon ein Pulk von etwa zwanzig Leuten um einen jungen Mann geschart, der sie, gemessen an der Gelöstheit und an dem Lachen, bestens unterhielt und der Reiseführer sein musste. Max und Stefan gesellten sich dazu und hörten, wie er gerade begann, die Vornamen auf seiner Liste laut vorzulesen. Kam eine Antwort, machte er einen Haken hinter dem Namen. Als er am Ende seiner Liste angelangt war, fehlten noch zwei Haken, damit die Gruppe komplett war. Noch einmal fragte er laut: „Maria und Mathilde?" Keine Reaktion. Stefan schaute in die Gruppe und bedauerte, dass die beiden Frauen, die er zuvor im Speisesaal gesehen hatte, offensichtlich nicht zu ihrer Reisegruppe gehörten. Dass sie Maria und Mathilde hießen, schien ihm unwahrscheinlich. Eher hätte er gedacht, die Tochter würde z.B. Yvonne, Vanessa, Lena, Juliane oder Katharina heißen. Und bei der Mutter dachte er an Namen wie Renate, Gabriele, Sabine, Gisela oder Eva.

    „Lasst uns auf die beiden noch einen Moment warten, sagte Ben, der Reiseführer, der schon seit zehn Jahren Touristen das Heilige Land zeigte. „Für die, die es noch nicht gehört haben: Mein Name ist Ben Schneider. Ich bin für die nächste Woche ihr Reiseguide und freue mich auf die Tage mit ihnen. Wie sie in ihrem Programm lesen konnten, werden wir heute zunächst mit dem Bus – unser Busfahrer, das ist der Tobias – an den Strand von Tel Aviv fahren und von dort nach Jaffa laufen, wo wir uns die Altstadt anschauen. Anschließend holt uns Tobias ab und fährt uns durch Tel Aviv in Richtung Caesarea, eine der bedeutendsten antiken Städte in Palästina. Von dort geht es nach Akko, eine alte Hafenstadt, an der viele der Kreuzfahrer an Land gegangen sind. Hier können alle, die es wollen, mit mir in einem kleinen Restaurant zu Mittag essen. Am Nachmittag fahren wir nach Haifa weiter und werden von dort zum See Genezareth aufbrechen. An dessen Ufer liegt das Kibbuz, in dem wir die kommenden zwei Nächte übernachten. – Ah, die beiden Damen, die gerade aus dem Aufzug kommen, das könnten, wenn wir Glück haben, Maria und Mathilde sein.

    Stefan drehte sich um und lächelte.

    „Entschuldigung, wir haben unsere Pässe nicht mehr gefunden. Jetzt sind sie aber wieder aufgetaucht. Alles im grünen Bereich", sagte Maria, während Mathilde neben ihrer Mutter lief.

    Wie bereits im Speisesaal ließen Stefan und Max den anderen den Vortritt und verließen als eine der letzten mit ihren Koffern die Lobby des Hotels. Ihr Busfahrer Tobias, untersetzt, wuscheliges graues Haar und auffällig dienstfertig, nahm ihnen die Koffer ab und verstaute sie. Als Max und Stefan als erste in den Bus einstiegen, hatten sie freie Platzwahl. Insgesamt waren sie nur 21 Personen, so dass der große Bus, der für über 50 Personen ausgerichtet war, viel Freiheit bot. Max wählte die zweite Sitzreihe auf der rechten Seite. Er setzte sich ans Fenster, Stefan neben ihn. Vor ihnen saß das Ehepaar, das gestern mit ihnen die Rückbank des kleinen Buses teilte, mit dem sie vom Flughafen abgeholt wurden. Neben ihnen machten es sich Andreas und Inge gemütlich und zwei Reihen hinter ihnen richteten sich Maria und Mathilde ein. Die Reihe direkt hinter ihnen blieb unbesetzt.

    Ben trug weit geschnittene Jeans und ein kurzärmliges Hemd, das über die Hose hing. Er war braun gebrannt, hatte schwarzes kurzes Haar, das schon begonnen hatte, vom Scheitel bis ungefähr zur Mitte des Kopfes zurückzuweichen. Dagegen hatte er einen starken Bartwuchs. Obwohl er sich erst vor drei Stunden rasiert hatte, sah man bereits die schwarzen Stoppeln. Er hatte einen grünen Militärrucksack dabei, der seine Kleidung, seinen Kulturbeutel und Bücher enthielt. Ließ er diesen im Kofferraum des Buses verstauen, behielt er einen zweiten, kleineren, schwarzen Rucksack bei sich, in dem er alles bei sich hatte, was er tagsüber benötigte.

    „Ben kommt sicher aus Bayern, sagte Max zu Stefan. „Bist du dir da sicher?, fragte Stefan zurück, „ich kann bei ihm keinen bayerischen Dialekt raushören. Daraufhin fragte Max Ben: „Bist du in Bayern aufgewachsen? Ben blickte irritiert, weil ihn die direkte Frage überraschte und weil er verdutzt war, dass allein die Sprachmelodie, in der er Deutsch sprach, verriet, dass er aus Bayern stammte. „Du hast Recht. Ich bin in der Nähe von Rosenheim aufgewachsen."

    Tobias fuhr den Bus dieselbe Straße entlang, an der Stefan und Max zum Strand gelaufen waren. Sobald das Mittelmeer in Sichtweite war, fuhr Tobias rechts ran und ließ die Reisegruppe aussteigen, nachdem Ben daran erinnert hatte, dass für Mitteleuropäer mit der israelischen Sonne selbst im Oktober nicht zu spaßen sei.

    Ben fragte, ob jemand die Aufgabe übernehmen würde, am Ende der Gruppe zu laufen, damit niemand verloren ginge. Max und Stefan erklärten sich dazu bereit. Das habe unter anderem den Vorteil, dachte Stefan, dass er sich in Ruhe anschauen könne, wer zusammen mit ihnen Israel kennenlernte. Die Sonne zeigte bereits jetzt – gegen halb neun Uhr vormittags –, welche Energie sie besaß. So mussten Stefan und Max nicht lange überlegen, ob sie ihre Leinenhüte im Bus lassen oder aufsetzen sollten. Da die Hüte beide beige mit einer schwarzen Krempe waren, wirkten die beiden, wie sie am Ende der Gruppe liefen, wie zwei langgezogene Schlusslichter.

    Max war überrascht, dass es nicht lange dauerte, bis sie die ersten bitten mussten, sich der Gruppe wieder anzuschließen. Diese hatten ihre Kameras ausgepackt, machten Fotos und waren damit so beschäftigt, dass sie nicht mehr daran dachten oder es ihnen nicht sonderlich wichtig war, Teil einer Gruppe zu sein, die sich langsam von ihnen absetzte. Sie mussten immer wieder daran erinnern, die anderen nicht aus dem Blick zu verlieren, bis ein nonverbales Zeichen ausreichte, die Gruppe zusammenzuhalten.

    Von dieser Aufgabe entlastet konnte sich Ben darauf konzentrieren, die Geschichte von Jaffa zu erzählen. Er war ein begnadeter Reiseführer. Ben glich dem verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Wie dieser ohne Punkt und Komma und mit Begeisterung über Literatur gesprochen hatte, so erzählte Ben mit Verve und Farbe von Jaffa. War Jaffa lange Zeit mehrheitlich von Arabern bewohnt, verdrängten sie die Gentrifizierung und die Touristen zunehmend. In dem Maß, wie der Hafen von Jaffa unbedeutender wurde, entstanden hippe Restaurants am Kai, deren Preise für die einheimischen Araber unerschwinglich waren.

    Am Rande der verwinkelten Altstadt von Jaffa mit den anmutigen Gassen wies Ben seine Gruppe auf den Laden eines Geldwechslers hin. Wer noch Euro in Schekel umtauschen wolle, würde hier einen guten Kurs bekommen.

    Als Stefan den kleinen Laden betreten wollte, sah er im Augenwinkel, dass ihm Mathilde gefolgt war. Geistesgegenwärtig hielt er ihr die Tür auf. Sie lächelte. „Ich brauch‘ auch noch ein paar Schekel. Ich hab‘ ganz vergessen, in Berlin noch zur Bank zu gehen, sagte sie. Überrascht, zum ersten Mal Mathildes Stimme gehört zu haben, antwortete er: „So ging’s mir auch. Allerdings habe ich in Frankfurt ganz vergessen, noch zur Bank zu gehen.

    Stefan war froh, nach dem Spaziergang durch die Altstadt von Jaffa wieder in den klimatisierten Bus einzusteigen. Hier machte Ben Werbung für die gekühlten Getränke, die bei Tobias gekauft werden konnten. Dann fuhren sie los. Ben nahm das Mikrofon mit der rechten Hand und hielt sich mit der linken Hand an der Lehne seines Platzes fest. Diese Position eingenommen war kein Halten mehr für seinen Redefluss. Er erklärte die Gebäude der Innenstadt von Tel Aviv, wies auf die Bauhaus-Architektur hin, flocht Anekdoten aus der jüngeren Vergangenheit Israels und der älteren Geschichte von ihm selbst ein und fühlte sich von den interessierten Zuhörern – Andreas, Inge, Max, Stefan, Maria und Mathilde –, ermuntert, ins Detail zu gehen.

    Als sie Tel Aviv auf dem Highway 2 in Richtung Caesarea verließen, zeigte Ben auf ein Gebäude, in dem angeblich ein Teil des israelischen Geheimdienstes untergebracht war. Wenig später, ebenfalls auf der linken Seite, erstreckte sich ein hügeliges Gelände mit vielen Sträuchern, auf dem Ben – so sagte er, ohne das Mikrofon zu verwenden, damit es nicht alle hören konnten – einen Ausbildungsabschnitt zu Beginn seiner Militärzeit absolviert habe.

    Stefan sagte zu Ben: „Ich hab‘ in einer Dokumentation gesehen, dass viele Israelis, die ihren Militärdienst beendet haben, anschließend durch Indien reisen, um dort wieder zu sich zu kommen." Damit traf Stefan ins Schwarze. Auch Ben reiste nach seiner Militärzeit nach Indien, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Unglücklicherweise hatte er innerhalb der Zweiten Intifada für sein Land kämpfen müssen.

    „Wie heißt du?, fragte Ben. „Stefan. Dann hielt Ben das Mikrofon vor seinen Mund und sagte zu allen im Bus: „Hier vorne, das ist Stefan. Er hat erzählt, dass er in einer Dokumentation erfahren hat, dass viele Israelis nach ihrer Militärzeit …. Und so erzählte Ben bis kurz vor ihrer Ankunft in Caesarea über die Bedeutung des Militärs für Israel. Besonders eindrücklich erschienen Max zwei von Bens Aussagen: (1) „Würde das israelische Militär einen Tag nicht in Alarmbereitschaft sein, würden die Nachbarn sofort einmarschieren und der Staat Israel, wie er nach dem zweiten Weltkrieg gegründet worden sei, wäre Geschichte. (2) „Die meisten Israelis hören oder schauen alle halbe Stunde Nachrichten, um sich zu vergewissern,

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