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Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße …
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Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße …
eBook271 Seiten3 Stunden

Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße …

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach den Hintergründen der Ermordung seines Onkels beim "Röhm-Putsch" gewinnt der Autor Einsicht in die extrem politisch-gesellschaftlichen Widersprüche der Dreißiger Jahre, insbesondere anhand des Familienverbands und der anhängenden Gesellschaftskreise.

Henning Schroedter-Albers hat nach Abschluss seines Studiums die meisten Berufsjahre in Israel, Indien, Venezuela und Indonesien verbracht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Dez. 2016
ISBN9783741873232
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    Buchvorschau

    Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße … - Henning Schroedter-Albers

    Dresden 1934

    Es klingelte Sturm an der Wohnungstür. Die drei schauten sich erstaunt an, dann zum Fenster hinaus auf die Straße. Alles war an diesem Samstagmittag ruhig, die Junisonne spiegelte sich in den Blättern der Linden am Straßenrand in Dresden.

    Beatrice sprang als Jüngste vom Mittagstisch auf: «Ich werd mal schauen. Christel ist schon früher gegangen.« Sie ließ die Tür zum Flur offen stehen, so dass ihre Mutter und Jochen die Stimmen hören konnten. »Ja, bitte?« – »Wir sollen Dr. Schroedter zum Innenministerium abholen«, sagte eine männliche Stimme. »Mein Mann ist gerade erst zur Mittagspause aus dem Büro gekommen«. »Ja, entschuldigen Sie, aber wir haben die Anweisung. Es ist dringend. Bitte rufen Sie Ihren Mann.«

    Jochen hatte sich schon bei den ersten Worten mit entschuldigendem, fragenden Gesichtsausdruck seiner Schwiegermutter zugewandt langsam vom Stuhl erhoben. Er legte seine Serviette bedächtig neben seinen Suppenteller, meinte verwundert »Da muss etwas passiert sein, dass man mich nicht im Büro aufsucht, sondern hier zu Hause« und schritt den Stimmen entgegen. Vor der Tür standen zwei Männer in SS-Uniform: »Heil Hitler, Dr. Schroedter. Wir haben den Auftrag, Sie unverzüglich zum Innenministerium zu bringen.« »Und wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?« Jochen war befremdet, in seiner, auch bei der SS, stadtbekannten hohen Position bei der SA einen derartigen Bescheid in entschieden kurzer Form, ja, eigentlich in einem Befehlston zu erhalten. Beatrice beobachtete, wie die Männer sich zunächst zögernd auf Jochens Frage anschauten, dann erklärte der offensichtlich Diensthöhere: »Regierungsrat Freiherr von Eberstein«.

    Jochen ergänzte: »Aha, SS-Gruppenführer von Eberstein«. Er wandte sich Beatrice zu und erklärte: «Das muss wirklich dringend sein, wenn er selbst um eine Besprechung zu dieser Uhrzeit bittet.« Und zu den Männern: »Einen Moment. Ich ziehe meine Jacke an«.

    »Entschuldige mich bei Mutter, bitte. Ich werde schnell zurück sein.« Er nahm seine Uniformjacke von der Garderobe, zog die Augenbrauen mit einem überraschten, fragenden Ausdruck grüßend zu Beatrice hoch, ging zur Tür und zog sie hinter sich zu. Beatrice hörte die drei Männer die wenigen Stufen hinuntergehen.

    »So«, erzählte mir meine Tante Beatrice »das war der Beginn der schrecklichsten Stunden meines Lebens«

    Einfach lässt sich das Geschehen dieser Zeit und das Verhalten meines Onkels in den entscheidenden Jahren im Umkreis der Familie und in seinem ureigensten Wirkungskreis nicht schildern. Das musste ich sehr früh erkennen. Ich kann seiner Person nur gerecht werden, indem ich den engeren wie auch den weiteren Personenkreise um ihn in meine Darstellung mit einbeziehe: das heißt, dass ich im Grunde gefordert bin, ein breiteres Zeitbild insbesondere der Jahre 1931 bis 1934 und der Folgephase über die Geschichte meiner Familie in der Nazizeit hinaus aufzuzeichnen.

    Als mir meine Tante Beatrice, Cousine meiner Mutter, nach wiederholten Anläufen erstmals die Umstände von der Ermordung Jochens, ihres Mannes, vom 30. Juni 1934 ausführlich schilderte und mir wiederholt versicherte, dass er als SA-Brigadeführer in Sachsen nach ihrem Wissen und ihrer Kenntnis seines Charakters ganz und gar unberechtigt der Verschwörung gegen Hitler verdächtigt worden war und dass sie sich nur eine parteiinterne Intrige als Grund der Ermordung erklären konnte, versprach ich ihr spontan, in Archiven nach den damaligen Ereignissen und Aktenniederschriften nachzuforschen. Ich war damals in den Siebziger Jahren sowieso öfters in Berliner Archiven in Familiengeschichtsforschung tätig und – ich war naiv genug zu glauben, dass nach so vielen Jahren seit der Naziherrschaft der Zugang zu allen Akten der NS-Zeit doch sicher endlich möglich sein müsste und dass ich da leicht fündig würde, um die Hintergründe der von ihr vermuteten Intrigen innerhalb der Partei gegen Onkel Jochen klären zu können.

    Heute stelle ich notgedrungen fest: Den größten Teil meiner heutigen Kenntnisse über Onkel Jochen und sein Leben verdanke ich nur einer Zeitzeugin: seiner Witwe, der Cousine meiner Mutter. Was immer sie mir berichtet hat, habe ich versucht, so wahrheitsgetreu ihren Aussagen entsprechend wiederzugeben. Nur ein sehr geringer Anteil meines Berichts beruht auf Aktenkenntnis aus Archiven.

    Einen wesentlichen Einblick aus erster Hand gaben mir einige wenige erhaltene, von Onkel Jochen an Tante Beatrice gerichtete Briefe. Briefe, ab 1931 geschrieben an sie als seine Verlobte und ab Januar 1934 als seine Frau. Diese Briefe konnte ich allerdings erst nach dem Tod von Tante Beatrice vollständig einsehen. Zu ihren Lebzeiten hütete sie sie als letztes von ihm verbliebenes Kleinod und gab mir nur zeitweilig einzelne Seiten als Beleg für ihre Berichte.

    Ihre eigenen an Onkel Jochen gerichteten Briefe hatte sie – oder er selbst als Empfänger – leider nicht aufgehoben, höchstwahrscheinlich da sie von ihr selbst als nicht für aufhebenswert gehalten wurden, indem sie sich bescheiden als keine stilistisch ausdrucksstarke Briefschreiberin einschätzte.

    Nur an einen – für mich in der Beurteilung der Personen entscheidend – eigenhändig geschriebenen Brief glaubte sie sich wörtlich erinnern zu können, da sie in den Formulierungen unschlüssig hin und her geschwankt sei und schließlich ihre sprachlich gewandtere Mutter zur Hilfe gebeten hätte: Einen Monat vor der geplanten Hochzeit im Januar 1934 wollte sie sich nochmals Klarheit über seine soziale, seine religiöse und seine politische Einstellung verschaffen. Er hatte ihr einen ausführlichen Bericht über eine Weihnachtsfeier am 4. Dezember 1933 mit »meinen Jungens« (seiner SA-Brigade) geschrieben. Und dieser Bericht hatte sie in den Einzelheiten über die Umstände dieser Feier stark beunruhigt.

    Der Wortlaut dieses Briefes, den sie mir im Alter von 77 Jahren mit wachem Gedächtnis in allen Details stockend, bald sich öfters verbessernd, bald neu ansetzend zur Niederschrift diktierte, entspricht so eindeutig ihrer Ausdrucksweise, dass ich ihn hier gleichsam wie ein Original wiedergebe, als Einleitung zu den Fragen, die sich für jeden Nachgeborenen zu diesem Schicksalsjahr 1933 stellen.

    Ein erinnerter Brief

    Ein erinnerter Brief der Braut in Berlin vom Dezember 1933 an den SA-Brigadeführer Dr. Joachim Schroedter in Dresden. Die heikle Titelformulierung dieser Dokumentation zu den Umständen des privaten und des beruflichen Lebens, der parteipolitischen Tätigkeit und der Ermordung von Onkel Jochen anlässlich des so genannten »Röhm-Putschs« ist mir aufgrund dieses nachgestellten Schreibens von seiner Braut Beatrice vom 6. Dezember 1933 als bezeichnend für die spannungsreiche Beziehung des jungen Paars erschienen.

    Sie antwortet Jochen auf dessen Brief vom 4. Dezember. In diesem Schreiben ist das Wesentliche der politisch bedingten Meinungsunterschiede zwischen den Brautleuten konzentriert dargelegt:

    Liebes Büberle, Berlin, 6.XII.33

    da Du trotz meiner bisherigen Proteste hartnäckig dabei bleibst, mich »mein Mädel« zu nennen, gebe ich Dir meine Revanche!

    »Mein Engele« passt noch viel weniger zu mir!

    Hast Du das noch nicht bemerkt? Du hast eine unangenehme Kratzbürste erwischt!

    Nimm Deine rosa Brille für einen Moment ab und sieh Dir genau an, was Du vor zwei Jahren auf Deinem Patientenstuhl geangelt hast. Ich hatte Dich gleich gewarnt!

    Hab Dank für Deinen langen Brief von vorgestern. Dass Du Deinen Leuten eine Predigt gehalten hast, beruhigt mich wieder. Bleib unbedingt bei der Linie von Tschirne – auch wenn Dich einige schief ansehen. SA und christliche Moralpredigt wird den meisten nicht zusammenpassen.

    Du schreibst, dass dieses Treffen im Schutzhaftlager Hohnstein stattgefunden hat. Wolltest oder konntest Du im Brief nichts über die Zustände dort schreiben? Wir haben in der Gemeinde von Verwandten der dort Gefangenen erfahren, die völlig verschreckt und zu Tode geängstigt um diese Familienangehörigen bangen – nach allem, was ihnen insgeheim über die Haftverhältnisse und die Wärter anvertraut wurde. Einzelheiten wagten sie nicht zu erzählen. Sie fürchten, deren Lage zu verschlimmern, bzw. dass sie selbst auch verhaftet werden.

    Stimmt es, dass in Hohnstein nur Kommunisten sind? Das las ich vor kurzem. Wie ich verstanden habe in der Gemeinde, sind die dort in Schutzhaft gehaltenen Verwandten zum großen Teil Fabrikarbeiter oder einfache Geschäftsleute?

    Ich bin wieder der ungläubige Thomas! Geschieht da Recht von der Regierung? Nach den Tumulten um den Reichstagsbrand – ich bleibe dabei – vertieft sich meine Unsicherheit.

    Kannst Du mich beruhigen? Wenn Du nach Berlin kommst? Oder nachher nach Probsthain?

    Ein Küsschen von Deiner Kratzbürste B.

    Wann immer ich diesen Brief lese – und ich nehme ihn oft in die Hand – steht Tante Beatrice leibhaftig vor mir: mit ihren blitzend tiefblauen Augen, mit herausfordernd vorgerecktem Kinn, spöttisch aufgeworfenen Lippen, um in klaren Worten zu einer für sie wichtigen Angelegenheit, ohne Umschweife, in leicht betont lässigem Berliner Akzent klarzustellen: »ich bin ja nun mal eine freche Berliner Göre«. Und bei all dieser sich selbst genießenden Kessheit steht im Vordergrund ein starkes soziales Verantwortungsgefühl für schwache, leidende Menschen und eine gesunde Skepsis gegenüber aller Obrigkeit, sobald diese sich nach ihrer Meinung offenkundig nicht rechtmäßig verhält.

    Ihr für sie so typisches Verhalten hat sicherlich das Kennenlernen von ihr und Onkel Jochen geprägt. Sie hat es mir dermaßen oft geschildert, dass ich es wie selbst erlebt vor mir sehe.

    Beuthen 1931

    Sie war im Juli 1931 nach Erledigung ihrer Klausuren an der Universität Königsberg wie jeden Sommer in den Semesterferien für eine Woche nach Berlin zu ihrer Mutter gefahren, um ihr dankbar und mit verantwortungsvoller Liebe haargenau über den Aufenthalt und den Fortgang ihrer Studien zu berichten, besonders auch über die für sie enttäuschend wenigen Treffen mit ihrem Onkel Alfred Mitscherlich, dem mütterlichen Cousin, der zu dieser Zeit aufgrund seiner hohen wissenschaftlichen Forschungsverdienste in der Landwirtschaft turnusmäßig gerade Rektor der Universität geworden war. Sie hatte sich von der verwandtschaftlichen Beziehung deutliche Unterstützung in ihrer schwachen finanziellen Lage erhofft, nämlich dass sie öfters eingeladen würde und sich dadurch die Mahlzeiten in der Mensa hätte sparen können. Stattdessen hatte sie bei Kurzbesuchen eine dermaßen arbeitgetriebene Familienatmosphäre erlebt, dass sie wahres Mitleid für die Kinder, aber insbesondere für die unter Leistungsdruck stehenden Söhne empfand und sie sich stets zu schneller Flucht aus dem arbeitsbesessenen Haus gedrängt fühlte.

    Umso mehr freute sie sich nun auf die Aufnahme bei ihrer Tante Else, der Cousine ihrer Mutter, die jeden Sommer sie bereitwillig und warmherzig in ihrem Haus in Beuthen empfing und ihr alle Freiheiten gewährte, deren sie nach einem anstrengenden Semester bedurfte. Denn sie musste die ihr seit Studienbeginn gewährte Gebührenermäßigung regelmäßig mit Fleißarbeiten und besonders guten Klausurnoten rechtfertigen. Ihre Mutter Rita hatte ihre reiche Erbschaft auf Anraten ihres Ehemanns, eines Offiziers, vollständig in Kriegsanleihen angelegt und entsprechend nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs den Großteil ihres Vermögens verloren. Sie lebte nunmehr geschieden in Berlin-Schöneberg in einer immer noch weitläufig herrschaftlich zu nennenden Wohnung, war aber genötigt, mehrere Zimmer an gut situierte Herren zu vermieten, um über ein Einkommen zu verfügen und wenigstens ihrer Tochter eine für sie wichtige »gesellschaftlich angemessene« Ausbildung zu ermöglichen.

    Ein mehrwöchiger Sommeraufenthalt in Beuthen war für Beatrice jährlich ein heiß ersehnter Genuss: die üppig angebotenen Mahlzeiten der lebensfrohen Tante, die mit den Cousins und Cousinen bis in die Nächte geführten hitzigen Gespräche über alles Mögliche, was sie gemeinsam interessierte: Kunst, Religion, Literatur, Philosophie … , die Bademöglichkeiten vom Oderstrand aus, bis zu dem das Privatgrundstück der Familie reichte, die Radausflüge – das alles erschien ihr wie ein Paradies im Vergleich zu den ihr oft grausig langweilig und trocken erscheinenden Vorlesungen, die sie besuchen musste.

    Überdies war für sie das Haus der Familie selbst schon ein Anziehungspunkt: die Beuthener Villa soll ursprünglich der Witwensitz der auf der gegenüberliegenden Oderseite ansässigen Fürsten von Carolath gewesen sein. Diese mündliche Überlieferung ist aber tatsächlich nie durch Urkunden belegt worden. Die Villa lag am Stadtrand der Kleinstadt Beuthen, war wie das Schloss Carolath von riesigen Fliederbüschen zur Landstraße nach Glogau abgegrenzt und hinter dem Gebäude mit einem von Tante Else liebevoll und mit langjähriger Gärtnererfahrung gepflegten Obstgarten verbunden, der in Oderwiesen bis zum Oderstrand überging. Das war wie geschaffen für die Wasserratte Beatrice; sie gab es offen zu: das größte Vergnügen, mehrmals am Tag – bereits im Badeanzug – vom Haus aus die fünfzehn Minuten im Dauerlauf bis zum Wasser zu spurten, dann erst einmal tief durchzuschnaufen, die Glieder zu strecken und dann nichts wie rein in den Strom zu springen. Wenn sie von den gleichaltrigen Familienmitgliedern begleitet wurde, war sie stets die Erste am Ufer. Ihre Augen leuchteten stolz den Nachkommenden entgegen: »Entschuldigt, ich will nicht angeben, aber irgendetwas muss ja aus meinem Studium der Leibesübungen herauskommen«.

    Als sie Ende Juli 1931 in Beuthen ankam, verbrachte sie gleich frohgemut den Spätnachmittag mit drei Cousins von fünf Kindern der Familie, nämlich mit ihrer gleichaltrigen Cousine Waltraut und deren jüngeren Brüdern Siegfried und Hans an der Oder. Sie frönten mit Genuss der angenehm warmen Sonne, sprangen immer wieder ins Wasser, bis sie sich entspannt darüber austauschten, was sie zurzeit beschäftigte.

    Waltraut erzählte – wie immer sehr sachlich, für die übermütige Beatrice manchmal zu ernsthaft – über ihre Ausbildung in Berlin als Lehrerin in rhythmischer Gymnastik bei dem damals für Frauen neuartig künstlerisch-sportlichen Ausbildungsangebot des bekannten Bode-Instituts.

    Siegfried berichtete mit witzigen Anekdoten über die Pfarrersfamilie Bronisch im brandenburgischen Züllichau, bei der er für den Gymnasiumsbesuch untergebracht war.

    Hans hörte nur aufmerksam zu, er hielt sich bescheiden mit seinen dreizehn Jahren zurück: »Was kann ich schon Großes erzählen!? Ich bin hier glücklich mit Mama, mit meinen Freunden in der Nachbarschaft. Die Schule in Glogau ist mit ihren Lehrern nichts Besonderes.«

    Als sie am Abend mit der Mutter im Salon saßen, drängte Beatrice ihre Cousine, ihre Eindrücke von Berlin zu schildern, wie sie die Geschehnisse der sich bekämpfenden Parteien auf den Straßen beurteilte. Sie hatte in Königsberg nur bruchstückweise darüber in Zeitungsnachrichten erfahren. Und während ihres kurzen Besuchs bei ihrer Mutter hatte sie sich ganz der kirchlichen Sozialarbeit ihrer Gemeinde in Berlin-Schöneberg gemeinsam mit ihrer Mutter Rita gewidmet und nur wenig mit ihr über die politische Entwicklung gesprochen.

    Waltraut enttäuschte sie. Ihre Cousine lebte asketisch konzentriert ganz ihrer Ausbildung, fern vom Rummel der Großstadtmitte und hatte nach ihren eigenen Angaben im Dahlemer Viertel nichts Aufregendes beobachten können. Als Beatrice sie über ihr Zimmer dort befragte, erzählte sie beiläufig, dass sie – wie auch schon in München davor – eigentlich immer bei jüdischen Witwen in Untermiete wohne. Bei ihnen fühle sie sich am wohlsten. Sie seien immer freundlich, zurückhaltend, mit ihren Mietkosten durchaus günstig. Und vor allem könne sie sich immer bei ihnen Rat holen, wo sie was preiswert kaufen kann.

    Beatrice schaute ihre Cousine gespannt an: »Und du hörst von diesen Frauen nicht, wie sie sich von dieser Dreckspartei bedroht fühlen?«

    Waltraut erwiderte den Blick gelassen: »Du meinst die NSDAP? Die nimmt doch niemand ernst! Solange Hindenburg und andere dagegen stehen.« Sie stockte. »Ja, doch, ich erinnere mich. Vor einem halben Jahr sagte mir eine Vermieterin: Mich schüttelt es, wenn ich auf dem Bürgersteig die Aufrufe dieser gefährlichen Halunken liegen sehe. Ich konnte die arme Frau gar nicht genug beruhigen.«

    Siegfried lachte abgehackt auf: »Wisst ihr, was mich mein Geschichtslehrer vor kurzem gefragt hat? Ob es in meiner Familie Juden gibt. Meine braunen Augen und meine Nase … Er zeigte sich richtig besorgt«. Er lachte weiter.

    »Siegfried!« kam es da für alle überraschend mit empörter Stimme aus einer bisher ruhigen Ecke des Salons, wo die Mutter ruhig in Stopfarbeit von Strümpfen versunken schien. Sie hatte aber das Gespräch mitbekommen. Mit Siegfried angesprochen, normalerweise in der Familie Zickel genannt, wusste der Fünfzehnjährige sofort, es wurde für ihn ernst. »Das ist partout nicht zum Lachen! Es ist schlimm genug, dass du Witze bei deinen Kameraden über unsere längst vergessenen Scharfrichterahnen aufleben lässt! Du solltest dich schämen!«

    Siegfried löste sich aus der freundschaftlichen Umrandung von Waltraut und Beatrice, sprang vom Sofa auf und lief auf die streng dreinblickende Mutter zu: »Mama! Nimm das doch nicht so streng! Fast in jeder Stunde macht er Bemerkungen über diese Partei und warnt, dass sie gefährlich werden könnte. Paah! Die mit ihrem Schmiergerede!«

    Er kniete theatralisch vor seiner Mutter auf den Boden, streckte die Hände nach ihr und rief Waltraut zu: »Spiel einen Walzer! Mamà möchte unbedingt am Abend tanzen.«

    Tatsächlich milderte sich der Gesichtsausdruck der Mutter augenblicklich, ihre Augen ruhten belustigt und liebevoll auf ihrem immer zu Streichen aufgelegten fünften Kind.

    Waltraut brauchte nie lange zum Klavierspielen aufgefordert zu werden. Schon saß sie am Flügel und flink gingen ihre Finger über die Tasten.

    Sie wusste, wie ihre Mutter umzustimmen war, wenn sie – was selten geschah – mit einem der Kinder ungehalten war. Siegfried erhob sich, öffnete feierlich seine Arme und zog mit Kraft seine stämmige Mutter vom Sessel in seine Arme zum Tanz. Sie zeigte keinen Widerstand, lachte »Ach, Zickel!«, drehte ein paar Tanzschritte mit ihm und rief dann auch schon außer Atem »Nicht so schnell! Zu Hülfe!«, wand sich aus seinen Armen und ging benommen von den Drehungen zu ihrem Sessel zurück »Ich bin ja ganz taumelig!«

    Ihr Gesicht aber strahlte. Sie fühlte sich glücklich im Kreis ihrer Kinder und war wie stets um Harmonie besorgt. Beatrice war erleichtert, dass die ältere Tochter Ingeborg nicht anwesend war. Sie brachte durch ihre Launenumschwünge oft eine beklemmende Stimmung in das Haus. Tante Else hatte sie brieflich schon darauf vorbereitet, dass Ingeborg sich für eine längere Zeit zu einer Behandlung ihrer Depressionen in Beelitz aufhalten würde.

    Waltraut hatte das Spielen abgebrochen, Siegfried stand mit gespielt beleidigtem Gesicht eines gefoppten Tänzers in der Mitte des Zimmers, Beatrice und Hans hatten amüsiert den raschen Szenenwechsel beobachtet – und wie jeden Abend beschloss die Mutter mit liebevoller, fester Stimme den Tag: »Ich glaube, Mucki ist jetzt müde nach der Reise und dem Schwimmen. Ich gehe auch zu Bett.« Mucki war seit frühester Kindheit der Familienspitzname für Beatrice.

    Die jungen Leute zeigten sich einverstanden, lächelten belustigt über die besorgt freundliche Aufforderung der Mutter und alle zogen sich in die Schlafräume im oberen Stockwerk zurück.

    Beatrice wachte am nächsten Morgen spät auf. Sie bemerkte, dass sich die Familie bereits zum Frühstück begeben haben musste. Alle Schlafzimmertüren standen weit offen, das Dienstmädchen war mit der Bettwäsche beschäftigt. Als sie endlich fröhlich als Langschläferin begrüßt am Tisch saß und herzhaft in die frische Semmel biss, stieß sie erschrocken einen Wehlaut aus »Mein Zahn!« Sie griff ohne Rücksicht auf Tischmanieren in den Mund und zog triumphierend ein Zahnteil in die Höhe. »Das mir das jetzt passieren muss!«

    Ihre Tante reagierte mit gelassener Stimme: »Das ist kein Unglück. Gegenüber hat Dr. Schroedter seine Praxis. Du hast ihn bisher nicht kennen gelernt. Hans, möchtest du bitte nach dem Frühstück rübergehen? Schau, ob er da ist und du meldest Mucki an.« Und wieder zu Beatrice gewandt: »Du wirst sehen, er ist ein vorzüglicher Zahnarzt. Ich schätze ihn sehr. Ich lade ihn auch öfters zu uns ein.«

    Tatsächlich ging Beatrice am Nachmittag zu einer verabredeten Zeit über die Glogauer Straße in die Praxis und war erfreut, dass sie von der Sprechstundenhilfe gleich in das Behandlungszimmer gebeten wurde. Dort streckte ihr – wie sie sich später in ihrem Bericht über den Besuch ausdrückte – ein enorm gut aussehender Mann in weißem Kittel die Hand zur Begrüßung entgegen: »Schroedter«. Beatrice erzählte, dass sie sich bei seinem Anblick gleich streng vorgenommen hatte, ihre Überraschung über sein gutes Aussehen sich nicht anmerken zu lassen.

    Als sie ins Haus der Familie zurückkehrte, wurde sie gleich von ihrer Tante Else mit einem schelmischen Lächeln empfangen: »Nun, Mucki? Hat er dich gleich über deine Einstellung zur Religion geprüft?« Beatrice gab sofort zu, sie sei verdutzt gewesen,

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