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Farbenblind
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eBook284 Seiten3 Stunden

Farbenblind

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Über dieses E-Book

"Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war.
"Weiß", erwiderte sie.
"Und weiß ist…kalt?", fragte er zögernd.
"Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass er von alleine darauf gekommen war.
Ein wenig stolz und ziemlich verlegen lächelte er sie an. Ein paar weitere Minuten verstrichen, ohne, dass jemand etwas sagte, dann meinte Milan, er müsse wieder nach Hause. Leyla hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, jedoch gehofft, dass er noch weit entfernt war.

Er sieht nichts.
Sie sieht mehr als andere.
Sie treffen aufeinander und wissen – sie brauchen einander.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum2. Juni 2020
ISBN9783752958447
Farbenblind
Autor

Maike Kops

Maike Kops wurde 1999 in Heidelberg geboren und lebt seitdem im Rhein-Neckar-Kreis. Schon im Kindergarten hat sie sich gerne Geschichten ausgedacht und fing in der Grundschule an, diese aufzuschreiben. Aus einer anfänglichen Beschäftigung gegen Langeweile wurde schnell eine Leidenschaft, die sie bis heute verfolgt. Wenn sie mal nicht schreibt, liest sie oder vertreibt sich die Zeit mit dem Schauen von Serien und YouTube-Videos. Zurzeit lebt sie zusammen mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester sowie ihren Haustieren (darunter ein verrückter Beagle) in einem kleinen Ort in der Nähe von Heidelberg. An ihrer Seite ist stets ihr Freund zu finden.

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    Buchvorschau

    Farbenblind - Maike Kops

    Kapitel 1 - Leyla

    Ein goldbraunes Blatt segelte langsam auf den Boden und Leyla konnte ihren Blick nicht davon lösen. Dabei bereitete es ihr solche Kopfschmerzen, an den Ton zu denken, den sie damit verband. Und doch konnte sie erst aufhören, hinzustarren, als es sich zu einigen anderen Blättern gesellte, mit ihnen nahezu verschmolz und Teil des Teppichs wurde, bestehend aus abgestorbenen Pflanzenfasern. Leyla stellte sich gerne vor, dass die Äste eines Baumes Hände waren und die Blätter Klauen. Allerdings fand sie den Gedanken daran, dass auf dem Boden Dutzende von Fingern lagen, doch etwas makaber.

    Seufzend wandte sie den Blick vom Fenster, zog die Schultern hoch und legte die Hände fester um die warme, immer noch dampfende Teetasse. Im Hintergrund hörte sie ihre Mutter Klavier spielen und es hätte der perfekte Moment sein können, wenn da nicht diese störenden Farben vor ihrem inneren Auge gewesen wären. Müde lächelte sie vor sich hin und nippte an ihrem Tee. Pfefferminz. Die wärmende Flüssigkeit kroch ihre Speiseröhre hinunter, erst den Hals, dann vorbei am Brustbein – ein unangenehmes Gefühl, fand Leyla – bis hinab in den Bauch, wo sie sich ausbreitete und die Wärme langsam weiterleitete, bis hin in die Zehenspitzen. Auch dieser Moment hätte wundervoll sein können, wären da nicht immer noch die Farben, die sie plötzlich unheimlich störten, so sehr, dass sich ihr Körper anspannte. Mit einem Mal wollte sie weg, einfach nur noch weg. Weit entfernt sein von den Farben, als wären sie ortsgebunden und nicht geräuschgebunden. Egal, wie sehr sie ihr zu Hause liebte, sie verband es viel zu sehr mit Farben.

    Kapitel 2 - Milan

    Ein Blatt segelte langsam zu Boden, zumindest vermutete er, dass es ein Blatt war, das ihn gestreift hatte. Sein Kopf lag im Nacken, er hatte die Augen geschlossen und er spürte die sanfte Brise auf seiner Haut – er konnte sich kaum ein schöneres Gefühl vorstellen. Milan liebte Wind, Wetter allgemein. Es war eine seiner Arten, die Umgebung wahrzunehmen, ohne sie mit den Fingern zu betasten. Seufzend öffnete er die Augen – um ihn herum war es immer noch stockdunkel. Enttäuschung breitete sich in ihm aus, langsam, aber hartnäckig, wie ein Ölteppich. Dabei hätte ihn das nicht sonderlich überraschen sollen, dieses Spiel spielte er jeden Tag, seit 19 Jahren, seit er ironischerweise „das Licht der Welt" erblickt hatte.

    Und doch brachte es ihn jedes Mal aufs Neue um, sich eingestehen zu müssen, dass er immer noch blind war, es wohl immer sein würde. Manchmal wünschte er sich jemanden, der ihm die Umgebung beschrieb, vor allem die Farben – aber wie sollte ein Sehender einem Blinden Farben erklären? Seine Mutter hatte es oft versucht, war aber jedes Mal gescheitert. Sein Bruder redete nicht mehr mit ihm.

    Wehmütig dachte er an Simon, der, kaum, dass er 14 geworden war, immer nach Zigarettenrauch gerochen hatte und später dann nach Marihuana. Anfangs hatte er den damals neuen und ihm unbekannte Geruch nicht zuordnen können, bis seine Mutter irgendwann mal im Streit geschrien hatte: „Und du mit deiner verdammten Kifferei! Gib mir das gottverdammte Gras oder ich geh zur Polizei!"

    Sie hatte die Drogen nicht bekommen, war aber auch nicht zur Polizei gegangen.

    Er erinnerte an den großen Streit, den sie hatten, bevor Simon beschlossen hatte, nie wieder mit ihm zu reden. Eine Welle der Wut ergriff Milan, als ihm bewusst wurde, dass er niemals wissen würde, wie sein Bruder aussah, ob sie sich ähnelten oder nicht.

    Kapitel 3 - Leyla

    Sie hatte Tränen in den Augen, alles vor ihr schien zu verschwimmen, sie verschleierten ihr die Sicht. Sie hasste das. Sie hasste Töne und Farben und dass sie dafür sorgten, dass sie so anders war. Leyla erinnerte sich daran, wie sie von klein auf seltsam angesehen wurde, wenn sie sagte, dass gewisse Klänge farblich nicht zusammenpassen würden.

    Sie hatte auch nicht vergessen, wie ihre Mutter sie zu etlichen Therapeuten gezerrt hatte – und sie jedes Mal mit einer neuen Diagnose aus den Praxen gekommen war, von der keine stimmte. Am Ende hatte sie durch Zufall, als sie im Fernsehen auf eine Dokumentation gestoßen war, herausgefunden, was mit ihr nicht stimmte, was – im Nachhinein betrachtet – fast schon zu einfach war. Damals hatte sie gehofft, es würde sie beruhigen, aber letzten Endes machte es für sie persönlich alles nur noch schlimmer.

    Wut packte sie, in ihr tauchte der Gedanke auf, der sie seit ihrer „Selbstdiagnose" immer wieder im Inneren aufzufressen drohte: Sorg dafür, dass du nie wieder siehst oder hörst.

    In manchen Momenten erschien ihr dieser Gedanke abwegig, dumm, hatte einen bitteren Beigeschmack von Du wirst es bereuen! Aber in diesem Augenblick kam es ihr wie eine Erlösung vor, wie etwas, das ihr Leben ungemein erleichtern würde.

    Kapitel 4 - Milan

    Blind zu sein war so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er hätte seine Ohren sofort gegen seine Augen getauscht. Er war sich sicher, dass es leichter war, taub durch die Welt zu gehen als Augen zu haben, die nicht mal ansatzweise funktionierten. Noch nie funktioniert hatten. Er wünschte sich, dass er zumindest ein paar Jahre hätte sehen können, damit er sich unter Farben etwas vorstellen konnte. Worte wie „rot, „blau oder „lavendelfarben sagten Milan nicht viel. Allerdings stellte er sich bei „lavendelfarben etwas vor, das ungefähr dem Duft entsprach. Etwas Leichtes, Helles, irgendwie süßlich und unaufdringlich.

    Vorsichtig streckte er die Hand aus, so lange, bis seine Fingerkuppen auf die Sitzfläche der Parkbank trafen. Langsam fuhr er ein Stück des Holzes nach, bis er sich sicher war, sich setzen zu können, ohne dabei die Kante zu erwischen und von der Bank zu kippen. Natürlich hätte er seinen Blindenstock dafür benutzen können, aber er wollte nicht auf das leise Klicken des Stockes vertrauen, lieber verließ er sich auf seinen Tastsinn. Milan hasste den Stock, er gab ihm das Gefühl, noch hilfloser zu sein. Und nicht nur das – seine Hilflosigkeit, seine Behinderung waren für jeden sichtbar. Die Steigerung wäre die Blindenbinde gewesen, die anderen geradezu ins Gesicht schrie: Seht her, ich bin blind und bemitleidenswert! Zumindest stellte er sich es so vor und darauf konnte er gerne verzichten.

    Plötzlich realisierte er, dass seine Hand noch immer auf der Sitzfläche der abgenutzten Parkbank ruhte. Furchen an den Kanten der einzelnen Holzstreben, hier und da waren einzelne Splitter herausgebrochen, wodurch er die Spitzen der übrigen Holzfasern ertasten konnte. Hin und wieder gab es kleine Löcher in der Oberfläche, die er nicht zuordnen konnte und er nahm sich vor, seine Mutter bei Gelegenheit danach zu fragen.

    Milan hatte das Gefühl, dass sie unter der Wärme seiner Hände ausblich, so, wie die Sonne es tat, zumindest, wenn er seiner Mutter Glauben schenkte. Und warum sollte sie ihn anlügen?

    Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf seinen Lidern, die die blinden Augen verdeckten.

    Früher hatte er dabei nie die Augen geschlossen, für ihn war es ja so oder so stockdunkel. Aber eines Tages hatte sein Bruder ihn gebeten, doch bitte dabei die Augen zu schließen, damit es nicht so gruselig wirkte – damals hatten sie noch miteinander geredet. Eine Zeit lang hatte er nicht verstanden, was daran unheimlich sein sollte, bis seine Mutter es ihm erklärt hatte. Damals hatte er gelacht und gesagt, dass ihm doch egal sei, ob man ihm ansah, dass er blind war. Er hatte nicht zugeben wollen, dass er es nahezu darauf angelegt hatte, da erschien ihm es wie ein guter Kompromiss. Damals, als er zehn oder elf Jahre alt war, das Gefühl brauchte, irgendetwas Besonderes zu sein – und mit besonders meinte er nützlich. Zu dieser Zeit hatte ihn dieses Gefühl erdrückt, immer wieder hatte er das Gefühl gehabt, dass der Gedanke, er sei nutzlos, ihm jedes bisschen Luft aus den Lungen saugte. Heute hatte er dieses Gefühl immer noch, aber er ging anders damit um. Er wollte etwas Nützliches tun, aber es musste nicht zwingend im Hier und Jetzt sein. Er war sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde.

    Kapitel 5 - Leyla

    Leyla rannte, bis die kalte Herbstluft in ihren Lungen brannte und scharf wie ein Pfefferminzbonbon ihren Rachen und ihre Luftröhre hinunterkroch. Keuchend blieb sie stehen und sah sich um. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass sie in dem kleinen Park ganz in der Nähe gelandet war. Langsam ließ sie den Blick schweifen und ärgerte sich darüber, dass ihr ein kleines Lächeln übers Gesicht huschte. Energisch wischte sie sich über den Mund, fast so, als wollte sie sich diesen kurzen Moment voller Emotion aus dem Gesicht reiben. Emotionen sind nichts Schlimmes, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Und natürlich waren sie das nicht, das wusste Leyla, nicht alle zumindest. Außer … außer es ging um ihren Vater – und dieser Park erinnerte sie an ihn, er war der Grund, warum ein Lächeln in ihrem Gesicht aufgetaucht war, ganz heimlich und überraschend.

    Für einen Moment verharrte sie, unsicher, was sie jetzt tun sollte, dann bewegten sich ihre Beine von ganz allein, sie rannte zwar nicht, aber es war doch relativ schnell. Sie wollte weg – mal wieder – aber wusste nicht, wohin. In diesem Moment zählte nicht das Ziel, sondern nur der Weg.

    Während sie durch den Park joggte, merkte sie, wie ihre Gedanken sich langsam verflüchtigten, sich langsam in Nebel auflösten, bis ihr Kopf nahezu leer war. Alles, was in diesem Augenblick von Bedeutung war, war das, was sie wahrnahm. Das Rauschen der trockenen Herbstblätter, die noch an den Bäumen hingen, sich an die Zweige klammerten, als hätten sie Angst davor, den Weg nach unten auf sich nehmen zu müssen. Die Herbstsonne, wärmend und doch irgendwie kalt, die sich in jede noch so kleine Lücke presste, in die sie hineinkriechen konnte. Der Kies, der unter ihren Füßen knirschte. Das Geräusch ihrer Schritte. Ihre Ausdauer, die sie selbst überraschte. Aus dem Augenwinkel nahm sie einen jungen Mann wahr, der auf einer der Parkbänke saß und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Sie vermutete, dass er schlief. Leyla musste ein Lachen unterdrücken – egal, wie müde sie war, in der Öffentlichkeit blieb sie wach. Um jeden Preis. Dafür blamierte sie sich zu ungern. Vielleicht war es ihm aber auch einfach nur egal, was die Leute von ihm dachten, vielleicht interessierten ihn seltsame Blicke ja gar nicht. Beim Gedanken daran, dass ein Mensch so unbekümmert sein konnte, zog sich ihr Magen zusammen und ein neidvolles Seufzen krabbelte ihre Kehle hoch, schwang sich ein wenig am Gaumen hin und her, bis Leyla ihn energisch wieder runterschluckte. Es musste nicht unbedingt positiv sein, eine unbekümmerte Einstellung zu haben, genauso, wie es nicht unbedingt schlecht war, sich eben doch zu kümmern. Wütend bemerkte sie, dass sie zwar immer noch durch den Park trabte, ihr Kopf aber wieder vollgestopft war. Vollgestopft mit Gedanken darüber, ob es positiv oder negativ war, sich Gedanken zu machen.

    Zuhause spielte ihre Mutter immer noch – oder wieder? – Klavier. Kaum drangen die sanften Töne an Leylas Ohren, sah sie vor sich blaue Kreise. Je höher die Töne, desto heller das Blau und Leyla erkannte das Klavierstück, kannte die Farbabfolge inzwischen nahezu auswendig. Es war das Lieblingsstück ihrer Mutter, das Stück, mit dem sie selbst groß geworden war. Plötzlich zuckte irgendein Muskel in ihr und wie ferngesteuert bewegte sie sich, Ballett tanzend, in Richtung Klavierzimmer. Sie vermisste das Ballett, das Tanzen, die Bewegung, die Konzentration. Sie vermisste es unglaublich, aber wie sollte man eine Rolle spielen, wenn immer Farben dazwischenfunkten, Farben, die teilweise nicht mal ansatzweise zur Rolle passten? Die Synästhesie war ein Grund, warum sie aufgehört hatte und auch der offizielle. Über die anderen Gründe wollte sie gar nicht nachdenken.

    „Oh, hallo, Ley", rief ihre Mutter ihr fröhlich über die Musik hinweg zu. Leyla erwiderte die gute Laune ihrer Mutter mit einem Strahlen und hoffte, dass sie damit ihre eigentliche Gefühlslage verbergen konnte. Noch etwas, worüber sie auf keinen Fall nachdenken wollte. Also tanzte sie einfach weiter. Bewegung war gut. Bewegung vertrieb die Gedanken, vor allem die dunklen, erdrückenden.

    Sie vermisste das Ballett so sehr, eine Welle der Emotionen überrollte sie. Weitertanzen, weitertanzen, weitertanzen. Es würde alles in Ordnung kommen. Das musste es doch.

    Kapitel 6 - Milan

    Milan tastete nach der Klingel. Es dauerte länger als normalerweise, er war durcheinander.

    Als er noch im Park auf der Bank gesessen und die Sonne genossen hatte, war plötzlich jemand an ihm vorbeigelaufen. Noch nie war dort jemand vorbeigekommen, wenn er dort war. Und er war ständig da. Die Schritte waren schwer gewesen, daran musste er unaufhörlich denken.

    Endlich fand er die Klingel. Gerade, als die Tür geöffnet wurde, fing es an, zu regnen.

    „Perfektes Timing!, rief seine Mutter, „Komm rein, Schatz!

    Milan seufzte genervt, seine Mutter wusste, dass er es hasste, so genannt zu werden.

    „Jaja, ich weiß", lachte sie und wuschelte ihm durch die Haare. Im ersten Moment wollte er protestieren, entschied sich dann aber dagegen. Es war lange her, dass sie so gute Laune gehabt hatte, das wollte er ihr nicht verderben. Stattdessen lächelte er und unerklärlicherweise fielen ihm wieder die Schritte im Park ein. Jemand war da gewesen. Warum dachte er so intensiv darüber nach? Vielleicht joggte ja jemand diese Strecke regelmäßig, aber zu einer anderen Zeit, dann, wenn er selbst nicht dort war?

    Er tastete sich durch den Flur in die Küche und blieb dort wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

    „Ist Simon da?", fragte er angespannt, nachdem er den Geruch von Zigarettenrauch identifiziert hatte. Da war noch eine andere Note, die er nicht zuordnen konnte, aber der Nikotingeruch war ohnehin intensiver.

    „Er ist vor einer halben Stunde gegangen. Warum?", antwortete seine Mutter. Milan unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Das war also der Grund ihrer guten Laune. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen sollen. Wenn er ehrlich war, überraschte es ihn auch nicht. Das, was daran so überraschend war, war die Tatsache, dass es ihn verletzte. Es verletzte ihn, dass Simon immer noch nicht mit ihm reden wollte. Es verletzte ihn, dass sein Bruder einen so großen Einfluss auf die Laune seiner Mutter hatte – und dann auch noch im positiven Sinne. Milan hatte – vor allem früher – auch einen recht großen Einfluss auf ihre Laune gehabt, jedoch immer nur negativ. Er hasste das. Und er hasste es, dass seine Augen nicht funktionierten, nie funktioniert hatten und es auch nie würden. Mit einem Mal fühlte sich sein Herz genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war. Plötzlich fiel ihm auf, dass er noch nicht auf die Frage seiner Mutter geantwortet hatte, aber es war ohnehin schon zu viel Zeit verstrichen und Milan war sich sicher, dass es seiner Mutter sowieso egal war. Augenblicklich fühlte er sich schrecklich schuldig, Simons Worte waren noch immer, nach all den Jahren, in sein Gedächtnis eingebrannt. Das ist alles nur deine Schuld! Milan wurde schlecht bei dem Gedanken daran, wie wütend sein Bruder geklungen hatte, wie viel Verachtung und Wut er in seine Stimme gelegt hatte.

    Nachdenklich lag er im Bett, tief eingemummelt in seine Bettdecke, so, als könne der Stoff ihn vor allem Bösen in der Welt beschützen, seine Gedanken vertreiben. Er seufzte, wünschte sich, es wäre so. Aber so war es nicht. Es war nie so gewesen, jetzt war es nicht so und es würde auch in Zukunft nicht so sein. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, das verzweifelt versuchte, auszublenden, dass die Welt nicht nur schön war, sondern einem auch mal Steine in den Weg legte. Wieder drängte sich die Erinnerung an die joggende Person auf, daran, wie der Kies unter den Schuhen geknirscht hatte. Urplötzlich packte ihn der Wunsch, die Person kennenzulernen, und er wusste nicht einmal, warum. Vielleicht, weil er sich allgemein einfach nur einsam fühlte. Sein Herz fühlte sich genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war.

    Kapitel 7 - Milan

    Bewegen, bewegen, bewegen. Sie musste sich bewegen und weiterlaufen, so lange, bis ihr Kopf leer war. Sie joggte die gleiche Strecke entlang wie gestern, prüfte bei jeder Bank, ob der junge Mann vom letzten Mal dort saß. Aus irgendeinem Grund wollte sie ihn wiedersehen. Nur sehen. Nicht mit ihm reden. Sie wollte sichergehen, dass er wirklich existierte. Denn inzwischen zweifelte sie daran, ob sie ihn überhaupt wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte sie sich das alles ja auch nur eingebildet. Sie war sich plötzlich mit allem so unsicher. Selbst mit ihrer … Besonderheit. Was, wenn sie sich die ebenfalls jahrelang eingeredet hatte?

    Leyla lief weiter und dann – da war er. Er saß dort, hatte einen grauschwarzen Mantel und dunkle Jeans an. Als wollte er möglichst unauffällig sein. Mit einem Mal kam sie sich blöd vor in ihren neonpinken Shorts, die sie aus der hintersten Ecke ihres Schrankes hervorgekramt hatte, und dem weißen T-Shirt, auf das groß und fett Dramaqueen gedruckt war. Leyla hasste das Shirt, was wohl ein Grund war, warum sie es nur zum Joggen angezogen hatte. Woher hätte sie denn wissen können, dass es ihr plötzlich so dermaßen wichtig war, was andere, eigentlich nur eine Person – eine fremde noch dazu –, von ihr denken könnte. Das war nur irgendein Typ, der auf einer Bank saß. Und doch war da irgendwas, was ihr zuzuflüstern schien, dass es nicht nur irgendein Typ war. Das machte sie wütend, also lief sie weiter, bis er – aus ihrer Sicht – vorbeigezogen, aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Und selbst dann wollte sie noch weiterrennen, bis ihre Beine versagten, aber Leyla entschied sich dagegen, sie hatte keinen Grund. Also wurde sie immer langsamer und ging irgendwann in einen gemütlichen Spaziergang über. Ein Fehler, wie sie feststellte, denn jetzt dachte sie nur umso mehr nach. Fragte sich, ob der Junge – der Mann? Sie war sich unsicher – sie gesehen und innerlich ausgelacht hatte. Sich über ihre plumpe Art zu laufen und die grässlichen Klamotten lustig gemacht hatte. Es war lange her, dass sie sich so sehr geschämt hatte. Warum hatte sie sich überhaupt dieses Shirt rausgesucht, wenn sie doch gehofft hatte, dass sie den Fremden wiedersehen würde? Wie dumm war sie eigentlich?

    Das letzte Mal, als sie diese erdrückende Scham heimgesucht hatte, war bei ihrer letzten Ballettaufführung gewesen. Unwillkürlich drängten sich Bilder davon vor ihr inneres Auge und sie hätte am liebsten wütend geschrien, als sie sich wieder in diesen Moment zurückversetzt fühlte.

    Klacken auf der dunklen Bühne, regelmäßig, Schritt für Schritt. Klack, klack, klack. Druck auf den großen Zehen. Stoff, der an der Haut rieb, sanft gegen die Oberschenkel schlug, so leicht, dass es fast nicht bemerkbar war. Alles, was man hörte, war das Klacken der Spitzenschuhe, das Rascheln des Tülls. Unweigerlich fragte sie sich, ob die Zuschauer diese Geräusche auch wahrnahmen oder ob nur Leyla sie hören konnte. In den Lautsprechern knackte es, ganz leise, aber es reichte trotzdem aus, um ihr Herz zum Rasen, ihre Hände zum Schwitzen und ihre Knie zum Zittern zu bringen. Jeden Augenblick würde die Musik einsetzen. Jeden Augenblick würde sie gegen sich selbst ankämpfen müssen. Sie hatte Angst, atmete tief durch und gerade, als sie nochmal den Rücken durchstrecken wollte, ging das Licht an. Jeder konnte sie nun sehen und ihre Angst wuchs, der Gedanke, dass man ihr den inneren Kampf ansehen könnte, machte sie wahnsinnig. Erneutes Knacken in den Lautsprechern, jede Faser ihres Körpers spannte sich an. Augen schließen. Konzentrieren. Augen öffnen. Konzentrie– Wumm! Das Klavier drang laut und plötzlich aus den Lautsprechern, bedrohlich. Ohne nachzudenken blendete Leyla alles um sich herum aus, soweit es möglich war, und fing

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