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Ost-wärts: Band 1 der Trilogie "Operation Blaue Flamme"
Ost-wärts: Band 1 der Trilogie "Operation Blaue Flamme"
Ost-wärts: Band 1 der Trilogie "Operation Blaue Flamme"
eBook698 Seiten9 Stunden

Ost-wärts: Band 1 der Trilogie "Operation Blaue Flamme"

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Über dieses E-Book

Winter 1986
Im Wohnlager einer der DDR–Baustellen an der Erdgastrasse im Ural passiert Ungewöhnliches.
Ein junger Maschinist begeht eine Selbsttötung, ein Transportmeister verschwindet spurlos über Nacht.
Das geschieht auf einem Standort, wo knapp Eintausend zumeist jugendliche "Trassenerbauer" fernab der Heimat arbeiten und leben. Zwölf der dort Beschäftigten, mit völlig verschiedenen Arbeitsaufgaben und sozialer Herkunft, werden ungewollt in diese Vorkommnisse involviert.
Von nun an beginnt eine unkontrollierbar erscheinende Abfolge von Ereignissen, die geprägt sind von Missgunst, Korruption, politischer Verleumdung. Und vom Bestreben einzelner, die Existenzen anderer brutal zu vernichten.
Immer steht im Hintergrund ein geheimes Projekt, das von der Staatssicherheit an der gesamten Erdgastrasse vorangetrieben wird.
Erst mit der "Wende" scheint der Alptraum ein Ende zu finden. Aber es scheint nur so.
Ein Buch für die Vielzahl heute noch lebender, ehemaliger Trassniks, die sich an ihr damaliges, hartes Leben in Staub, Schlamm und zumeist sieben Monate Winter erinnern wollen.
Es ist auch ein Informationsquell für frühere DDR-Bürger, für heutige Bürger in den alten Bundesländern und vor allem auch für junge Leute. Für alle, die wissen wollen, was es mit dem Bau der Erdgasleitungen von Sibirien nach Westeuropa damals auf sich hatte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Mai 2016
ISBN9783738070453
Ost-wärts: Band 1 der Trilogie "Operation Blaue Flamme"

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    Buchvorschau

    Ost-wärts - Thomas Helm

    Vorwort zu »OST–WÄRTS«

    Anmerkungen des Autors

    Ein Großteil der Handlung dieses Romans und die meisten darin vorkommenden Personen wurden frei erfunden. Die Namen bestimmter Orte erfuhren ebenfalls eine Änderung. Einige der handelnden Charaktere verweisen auf reale Vorbilder, die zum Teil noch heute unter uns leben.

    Das Unternehmen »Blaue Flamme« ist ebenso, wie die »HA XVIII-BFC des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR«, in der viele Einrichtungen und Strukturen der Verständlichkeit halber zusammengefasst wurden, eine reine Fiktion.

    Der Roman reflektiert die politischen Ereignisse, die im Zusammenhang mit der absoluten Abhängigkeit der DDR von kontinuierlichen Erdgaslieferungen aus der UdSSR, ab den ’70er Jahren bestanden.

    Diese Gaslieferungen erkaufte sich die DDR-Führung durch enorme Aufwendungen an finanziellen Mitteln, Wirtschaftsgütern sowie Arbeitsleistungen von zehntausenden DDR-Bürgern in den Betrieben und am Erdgasleitungsbau in der Sowjetunion. Diese Abhängigkeit wurde noch verschärft als im Jahre 1982 das Politbüro des ZK der SED den Beschluss fasste, dass der Bau einer neuen Erdgasleitung auf sowjetischem Territorium unter maßgeblicher Beteiligung der DDR schon anno 1983 beginnen sollte.

    In der Ukraine, im Moskauer Raum sowie ein Jahr später im Permer Gebiet im Ural stampfte man daraufhin über zwanzig gewaltige Baustellen aus dem Boden. Millionen Tonnen an Material und Zehntausende Arbeitskräfte setzte die DDR für dieses Vorhaben ein.

    Die hiermit verbundenen finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen trieben die Verschuldung der DDR-Volkswirtschaft in ungeahnte Höhen.

    Am Ende betrug sie rund 12 Mrd. Mark der DDR. Trotz der vertraglich vereinbarten Liefergarantien für 20 Jahre stiegen die Risiken. Da die DDR-Wirtschaft aufgrund ihrer eng vernetzten Struktur auf die täglichen Erdgaslieferungen angewiesen war. Die geringste Störung konnte einen Großteil der Industrie zum Erliegen gebracht.

    In diesem Buch treten auch Kräfte in Erscheinung welche im ZK der SED und dem MfS ihren Wirkungkreis hatten. Die aber bereits Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts allmählich einen Sinneswandel durchlebten.

    Sie begannen an der Zukunft der politischen und wirtschaftlichen Systeme der DDR und des »Großen Bruders« UdSSR zu zweifeln. Zudem erahnten sie den sich abzeichnenden Zusammenbruch der »realen sozialistischen Gesellschaftsordnung.«

    Aufgrund ihrer Kenntnisse über die Mentalität der sowjetischen Apparatschiks (Partei- und Staatsbeamte sowie Verwaltungsbürokratie) sollten daher konkrete, vorbereitende Maßnahmen für den Eventualfall eingeleitet werden.

    Eingedenk der Tatsache, dass in der Zukunft der gesicherte Zugriff auf Energieressourcen die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft bestimmen würde, musste deren Verfügbarkeit ungefährdet bleiben.

    Man brachte daher beginnend ab 1983 und parallel zur Bautätigkeit an der »Erdgastrasse« ein geheimes Vorhaben auf den Weg. Dieses sollte in einer möglich erscheinenden wirtschaftlich und politisch veränderten Welt als Druckmittel oder auch als Waffe dienen.

    Der Name des Unternehmens lautete »Blaue Flamme«.

    Prolog

    Sein Schädel schien ihm platzen zu wollen. Ein tiefgehender, stechender Schmerz vom Hinterkopf her brachte ihn jedoch zur Besinnung. Nichts als schwarze Finsternis ringsum.

    Bin ich etwa blind, fragte er sich entsetzt.

    Er lag auf der Seite, verspürte eiskalte Nässe. Seine Finger ertasteten eine schmierige, klebrige Substanz auf einem harten, rissigen Untergrund.

    Langsam stellten seine Sinne ihre Funktion wieder her. Nur sehen konnte er nichts. Doch er hörte ein dumpfes, mahlendes Dröhnen und ein Rauschen wie von einem weit entfernten Wasserfall.

    Mit beiden Händen fühlte er über den Boden. Der stieg seitlich an und – vibrierte. Vorsichtig setzte er sich, schrie aber bei jeder Bewegung auf. Höllische Schmerzen durchrasten seinen Kopf und fast alle Knochen in seinem Körper. Indem er sich an der Wand entlangtastete, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er in einer Röhre lag. Oberhalb von seinem Kopf griff er unvermittelt ins Leere, jetzt spürte er auch einen kalten Luftzug.

    »Verdammt, wo bin ich?« Sein Schrei verhallte ungehört.

    Urplötzlich nahm das Rauschen an Lautstärke zu. Eiskaltes Wasser peitschte von allen Seiten auf ihn ein, riss ihn tosend und gurgelnd mit sich fort.

    Plötzlich wurde es um ihn herum schlagartig hell.

    Es erschien ihm, als fiele er in den rotierenden Wassermassen endlos lange abwärts, bis er heftig aufschlug.

    Aber ein tobender Strudel sog ihn sogleich weiter hinab in eine dunkle Tiefe. Als er atemlos bemerkte, dass er mit einem Male aufwärts gezerrt wurde, flammte eine heiße Hoffnung in ihm auf.

    Er ruderte und trat mit den schmerzenden Armen und Beinen heftig um sich. Schließlich prallte er mit dem Kopf gegen eine harte, hell schimmernde Fläche.

    Arno Schimmel begriff nur noch, dass er unter einer Decke aus Eis gefangen war.

    Dann schwanden ihm die Sinne und er ertrank.

    Buch 1 »OST-WÄRTS«

    Kapitel 1 – Maskenball –

    Westlicher Ural, Baustelle Prokowski, Samstag vor Fasching 1986

    Die Uhr zeigte kurz nach zehn an diesem Vormittag.

    Die Hände tief in den Taschen seiner »Ein-Strich-kein-Strich« Wattejacke vergraben stapfte Justus Faber durch das verschneite Wohnlager. Den Webpelzkragen der Jacke hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen.

    Solch ein Kleidungsstück wie dieses besaßen zumeist nur Leitungskader oder auch Kumpels, die über Beziehungen verfügten.

    Ursprünglich wurden damit Offiziere der NVA ausstaffiert. Doch auf unbestimmten Wegen, die keiner nachvollziehen wollte, gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl davon auch an die Trasse. Sie trugen sich bequemer und schauten vor allem besser aus als die Jacken der gewöhnlichen, allgemeinen Permbekleidung.

    Die Schapka hatte er bis auf die buschigen Augenbrauen hinab in die Stirn gezogen. So blinzelte der große, hagere Enddreißiger für einen kurzen Moment in die Sonne, die erst vor wenigen Minuten aufgegangen war. Sie stand noch dicht über dem bewaldeten Horizont am stahlblauen Himmel, an dem sich keine Wolke befand.

    Unter den Sohlen seiner Filzstiefel knirschten Eis, Schnee und dunkler Streukies. Sein Atem hatte den Schnauzbart bereits nach den wenigen Augenblicken im Freien völlig vereist. Zum wiederholten Male zog er die laufende Nase hoch.

    Beim raschen Gehen schaute sich Faber prüfend nach allen Seiten um. Der angewehte Schnee reichte an den Wohnbaracken fast bis zu den Dachkanten hinauf. Nur die freigewühlten Schneisen zu den Eingängen unterbrachen in regelmäßigen Abständen die aufgetürmte weiße Front.

    Mit festem Schritt bog Faber nach rechts auf den Weg ab, der direkt zum niedrigen, breit dahingestreckten Raumzellenbau des Versorgungsobjektes führte. An das sich wiederum die große Marienberger Halle unmittelbar anschloss.

    Davor befand sich das langgestreckte Areal des Freizeitzentrums. Hier feierten an warmen Sommerabenden hunderte Kumpels gern bis tief in die hellen Nächte hinein.

    Die vielen selbstgezimmerten Tische und Sitzbänke konnte man derzeitig unter der dicken Schneedecke jedoch nur erahnen.

    Begrenzt wurde die Fläche linker Hand von der ausladenden Lagerhalle der Versorgung. In deren Aluminiumfassade glänzte grell die aufgehende Sonne. Zudem hingen dort die Reste eines roten Spruchbanners herab. Dieses Transparent, auf dem man einst einen kämpferischen Spruch lesen konnte, hatte vermutlich der letzte Schneesturm erfolgreich zerfetzt.

    Faber schaute kurz hinüber zu dem Schandfleck, schüttelte den Kopf und schritt weiter auf den Eingang des Versorgungsobjektes zu.

    Auch an der langen Front dieses Zweckbaus türmte sich der Schnee bis hoch zu den Traufkanten. Aus den Dachentlüftungen des Küchentraktes stieg weißer Dampf in den blanken Himmel empor. Es roch nach gebratenem Fleisch.

    Der Windfang vor der Eingangstür war fast zur Hälfte unter den Schneemassen verborgen. Beiderseits davon wuchsen vor den Fenstern ebenso wie entlang der angrenzenden Marienberger Halle armdicke Eiszapfen vom Dach bis in den tiefen Schnee hinab.

    Faber wusste natürlich, das heute Abend in der »Marienberger« die Faschingsfeier der Baustelle stattfinden sollte. Einige der Vorbereitungen wollte er noch überprüfen.

    Auf dem Holzrost im Windfang trampelte er den Schnee von seinen Filzstiefeln ab. Dann riss er die Tür auf und stapfte am »Brett« vorbei, das um diese Zeit noch geschlossen war. Durch die zweite Tür betrat er den Speisesaal.

    Warme Luft vermischt mit Küchendunst schlug ihm ins gerötete Gesicht. Er befreite sich von den Handschuhen, zerrte die Schapka vom Kopf und wischte sich das tauende Eis aus dem Bart.

    In der hinteren Ecke des Saales, am Durchgang zur Marienberger Halle, entdeckte er einen Mitarbeiter von der Dienstleistung. Der beendete soeben die Bodenreinigung.

    Faber nickte ihm zu, ging dann zur offenen stehenden Tür der Essenausgabe hin.

    Schräg vor sich erblickte er die langgestreckte Ausgabereihe.

    Laut vor sich hin pfeifend stapelte dort ein vollbärtiger Koch soeben Tabletts mit gefüllten Kompottschälchen übereinander.

    Aus der Küche heraus schallte das Klappern von Töpfen und Pfannen. Ebenso laute Musik aus einem Kassettenrekorder.

    »Mahlzeit, ist der Theo im Hause?«, rief Faber zu dem Koch hin.

    Der blickte von seiner Arbeit auf und grinste ihn an. »Ich denke ja, Kollege Sicherheit!«, kam es zurück.

    Faber nickte zum Dank. Er ging durch die offene Tür neben der Spülküche in einen langen Gang hinein, der nach hinten zu den Büros führte.

    Unter seinen Stiefelschritten dröhnte hohl der Fußboden der miteinander verschraubten Raumzellen. Den hatte man hier mit dunkelgrünem Linoleum belegt.

    Auf seinem Weg kam er an mehreren Vorbereitungsräumen und Kühlzellen vorbei. Mit einem lauten »Mahlzeit allerseits!« grüßte er zwei junge Frauen, die gerade Konservendosen auspackten.

    Am Ende des Ganges verhielt er seinen Schritt vor der letzten Tür. »Leiter Versorgungsobjekt« stand auf einem Schildchen daneben geschrieben.

    Er klopfte an und ohne ein »Herein« abzuwarten, trat er ein.

    Der Chef der Versorgung, Theodor Kappner, hockte hinter einem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch. Der Enddreißiger zeigte ungeniert einen leichten Bauchansatz unter einem blauen Pullover. Er war jedoch groß und breitschultrig. Der Brillenträger mit kurz geschnittenem, brünetten Haar und sauber gestutzten Schnauzbart gab sich stets als bekennender Sachse. Im Augenblick allerdings schnaufte er nur vernehmlich.

    Kappner gab beileibe keinen Choleriker ab. Doch soeben als Faber sein Büro betrat schmiss er wütend den Hörer auf das orangefarbene Telefon, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. »Scheiße! Verdammt noch mal! Sind wir denn hier im afrikanischen Busch?«, rief er erbost aus. »Ich muss meine Betriebsleitung in Kungur anrufen. Mann! Da drehst du zuerst die vierzehn Vorwahlnummern und dann noch die Rufnummer. Eine Verbindung? Nö! Jetzt geht erst mal das Warten los. Dabei berieseln sie dich die ganze Zeit im Hörer mit dieser blöden russischen Radiomusik. Und dann bricht doch wieder alles zusammen. Mensch! Die haben ’ne Raumstation, fliegen mit Raketen. Aber ein Telefonat über schlappe sechshundert Kilometer? Fehlanzeige!« Kappner winkte resigniert ab. Schließlich schaute er fragend zu Faber auf, wobei ein breites Grinsen sein volles Gesicht überzog.

    Der Versorger kannte sein Gegenüber gut.

    Dessen Bürotür in einer der Baracken auf der anderen Seite des Freizeitzentrums zierte auch ein Papptäfelchen. Darauf prangte die Aufschrift »Abteilungsleiter für Sicherheit und Arbeitsschutz des Generallieferanten«.

    Doch er hörte auch auf die knappe Anrede »Genosse Faber oder Kollege Sicherheit«.

    Kappner und er hatten im ersten schlimmen Winter von Vierundachtzig erfahren, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. So etwas verbindet.

    Faber ließ sich nun, ohne zu fragen auf den einzigen noch freien Stuhl fallen. Er lockerte schnaufend den Knoten seines Schals, wobei er für einen Augenblick recht nachdenklich auf dessen dunkelblaues Wollgestrick starrte. »Mahlzeit Theo, bist du jetzt fertig mit deinem Weltschmerz?«, fragte er. Als Kappner verdrossen nickte und sich dabei eine Zigarette aus der Packung klopfen wollte, legte Faber rasch seine Hand darauf. »Lass’ das bitte mal. Ich brauche dich! Gleich! Hast du deinen Fotoapparat hier?«

    Kappner runzelte mit gespielter Entrüstung die Stirn und verdrehte für einen Moment die Augen. Dann griente er. »Blöde Frage! Natürlich hab’ ich meine »Exa« immer am Mann!« Er deutete mit dem Daumen auf Kamera und Zubehör, das hinter ihm in einem Regal lag.

    Faber wusste noch genau, dass sich Kappner bereits im Herbst Vierundachtzig, die »unbeschränkte Fotoerlaubnis« regelrecht erkämpft hatte. Das war wenige Wochen nach Beginn seiner Einsatzzeit im Ural gewesen.

    Faber selbst, damals schon der zuständige Verantwortliche des Generallieferanten hatte sie ihm ausgestellt. Er stimmte dem Antrag auch sofort zu. Denn letzten Endes brachte es Kappners Arbeit mit sich, dass er viel unterwegs war.

    Seine Versorger befanden sich immer allerorten im Einsatz. Auf allen Baustellen des Standortes und zudem auch draußen am Linearen Teil. Er fuhr fast täglich dorthin mit seinem »ARO-Diesel«. Regelmäßig auch mal hunderte Kilometer weit über Land auf andere Standorte. Und überall passierte etwas, das man mit der Kamera festhalten musste.

    »Was gibt’s denn so Wichtiges zu knipsen? Hoffentlich keine nackten Mädels?«, fragte Kappner, wobei er sich hinter seinem Schreibtisch emporschraubte. »Da bekomme ich nämlich Ärger mit meiner Frau!«

    Faber räusperte sich, senkte Blick und Stimme. »Wir haben einen Toten! Er hat sich auf den ersten Blick besehen

    – erhängt.«

    Wenige Minuten später stapfte Kappner an Fabers Seite durch das Wohnlager. Die Füße in gefütterten Lederstiefeln, den Webpelzkragen der Wattejacke bis zu den Ohren geschlossen. Gleich, als sie hinaus ins Freie traten, hatte er die Ohrenklappen seiner Schapka herunter gezerrt. »Mann! Ist das heute wieder eine Dürre!«, maulte er und drängte aus dem langen Schatten eines der Gebäude heraus.

    »Na ja, in der Sonne kann man es aushalten. Es sind ja bloß fünfundzwanzig Nasse«, entgegnete Faber lapidar. Dabei deutete er auf den abgehenden Seitenweg. »Da links! Die vordere WUD in der ersten Reihe. Dort müssen wir hin!«

    »Zur Unterkunft von Knallgas?«, keuchte Kappner überrascht. Er wirkte einen Tick außer Puste vom raschen Gehen. Und obwohl er soeben etwas schnodderig übers Wetter sprach, kreisten seine Gedanken um Fabers Ankündigung. Die in ihm sogleich ein mulmiges Gefühl ausgelöst hatte.

    »Korrekt! Dort wohnen die Jungs von RIV«, bestätigte Faber seine Anfrage. Er grinste, da sich Kappners Atem bereits als zottiges Eis in dessen Schnauzer festgesetzt hatte.

    Also die RIV-Truppe«, dachte der Versorger, als sie auf den Eingang der Wohnunterkunft zu schlitterten. »Reinigen- Isolieren-Versenken« – eben RIV! Und von denen soll sich einer erhängt haben?

    Nun, einige von den Burschen kannte er vom Ansehen. Seit dem letzten Herbst hatte er draußen am Rohr bei seinen Kontrollfahrten zu den Stolowajas vom RIV mehrfach recht ordentliche Fotos gemacht. Zudem sah er diese eingeschworene Meute auch fast jeden Abend im Speisesaal. Er traf sie in der Kneipe und ebenso am »Brett«.

    Diese Sorte der »Schwarzen« gab sich recht umgänglich. Denn die hauten nicht so auf die Kacke, wie andere von »Knallgas«. Insbesondere wie jene, die ständig als die – wahren Trassenhelden aufführten. So, wie es auch in der »Jungen Welt« gern propagiert wurde.

    Den kleinen, dicken Brigadier mit dem zotteligen Vollbart, der ihn an Rübezahl erinnerte, kannte er noch von der »alten Trasse« her. Von einer Baustelle bei Spola in der Ukraine. Bisher war er mit dem Burschen immer zurechtgekommen.

    Sie hatten den Barackeneingang, wo sich beiderseits mannshoch der Schnee türmte schnell erreicht.

    Auf dem Lattenrost vor der Tür traten sie ihre Stiefel ab, um danach durch den halbdunklen Vorraum der Wohnunterkunft zu poltern.

    Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dreckigen Stiefeln und Arbeitsschuhen hindurch die vor den Schuhregalen am Boden herumlagen.

    Die Dienstleister reinigten alle Baracken regelmäßig nach einem abgestimmten Plan. Doch das Stiefelputzen war dabei natürlich nicht mit drin!

    Der chaotische Anblick von verdrecktem Schuhwerk bot sich daher mehr oder minder ausgeprägt auch in fast allen anderen Wohnunterkünften vom Typ Dölbau.

    Dabei war es völlig egal, welches Gewerk dort gerade wohnte. Schlamm und Moder begleiteten alle gleichermaßen übers Jahr. Und wer putzt schon gerne jeden Tag seine versifften Stiefel?

    Ihre Sohlen lärmten auf dem blanken Kunststoffbelag der Raumzellen. Faber ging zielstrebig den Flur zum linken hinteren Zimmer voran. Als der Mann für die Sicherheit holte den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Versorgungschef schloss er die Tür auf.

    Zögerlich betrat Kappner nach ihm den Raum.

    Der gewohnte Dunst einer überheizten Unterkunft schlug ihnen entgegen. Diese edle Mischung aus ungewaschenen Socken, kaltem Zigarettenqualm, verschütteten Bier, Deo Spray und – Furz.

    Faber schob hastig die Vorhänge vor den beiden Fenstern beiseite. »Ich lass’ mal kurz frische Luft rein«, presste er zwischen den Zähnen heraus.

    Kappner machte einen weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Er blieb jedoch wie gebannt stehen. »Es riecht nicht nach Tod!«, beruhigte er sich leise flüsternd. »Es ist nur der übliche Gestank eines voll belegten Quartiers!« Doch etwas Unfassbares schien in diesem Raum zu sein. Das ihm ein spürbares Unbehagen bereitete. Sein Blick wanderte langsam umher. Er registrierte jedes Detail, das sich seinen Augen anbot.

    Ebenso, wie in anderen Wohnunterkünften auch hatte man hier die Wände mit verschiedenen Postern bepflastert. Silly, Queen, Rennautos – ja sogar nackte Weiber aus alten Westzeitschriften boten sich dem Betrachter dar.

    Auf einem kleinen Wandregal wie auch auf dem Kasten von einem Klappbett stand das gewohnte Interieur. Krimskrams den man in fast allen Unterkünften antraf. Ein kitschiger Samowar, eine Pornolampe, ein Kassettenrekorder von »Sternradio« nebst bunten Kassettenboxen. Aber auch eine kleine sowjetische Kaffeemaschine mit angeschmortem Gehäuse.

    Die drei Betten waren am Morgen natürlich nicht gemacht worden!

    Auf dem Tisch mitten im Raum sah er neben zwei leeren Bierflaschen einen überquellenden Aschebecher auf der gemusterten Wachstuchdecke. Dazu eine halb geleerte Flasche mit edlem »Wilthener Weinbrand«. Einige bereits an den Rändern angetrocknete Bierlachen sowie jede Menge Zigarettenasche vollendeten das Stillleben.

    Doch nicht das fesselte letztlich seinen Blick.

    Bei dem hinteren der drei Schränke, die nebeneinander entlang der Wand standen, sperrte die rechte Tür weit auf.

    Einer der üblichen, blauen Wollschals hing, zu einer Schlaufe geschlungen, über der oberen Kante der geöffneten Schranktür.

    Solch ein Gestrick erhielt hier im Permer Bauabschnitt jeder gleich nach der Ersteinreise. Er gehörte zur »Permkleidung« für den Wintereinsatz.

    Der straff gespannte, dunkelblaue Schal führte schräg abwärts, wo er mit dem unteren Ende um den Hals eines jungen Mannes geknotet war.

    Der saß leicht nach vorn gebeugt vor dem offenen Schrank auf dem schmutzigen Fußboden. Seine Arme hingen schlaff herab. Die geöffneten Hände lagen mit den Handrücken auf dem Boden auf. Der Kopf neigte sich über der Schlinge etwas zur Seite.

    Der Tote trug einen modischen, weinroten Samtpullover zu den neu aussehenden Jeans.

    So, wie das ausschaut, hat er das alles aus dem Exquisitladen schoss es Kappner durch den Kopf.

    Die Füße des Toten steckten in halbhohen, teuren Wildlederstiefeletten mit Reißverschlüssen. Was die Vermutung des Versorgers noch bestärkte.

    Er schaltete den Blitz ein und schob das summende Gerät auf die Kamera. Hastig schoss er die ersten Fotos. Leise murmelnd kommentierte er dabei alles, was er sah.

    Faber reagierte darauf nicht, schaute nur stumm zu.

    »Seltsam! Er ist genauso angezogen, als ob er gleich in die Stadt ausgehen wollte«, sagte Kappner betont laut an den Sicherheitschef gewandt.

    Als er noch näher an den Toten herantrat, machte ihm unvermittelt sein Magen zu schaffen. Er schluckte heftig. Überdies bemerkte er, dass seine Hände die den Apparat umklammerten, leicht zitterten.

    Mit einiger Überwindung bückte er sich zu dem Toten herab. Aufmerksam blickte er in das bleiche jedoch entspannt wirkende Gesicht.

    Bei dem aber, was er dabei sah, verspürte er sofort ein unangenehmes Kribbeln im gesamten Körper.

    Denn die offenen Augen, die Spuren getrockneten Blutes unter der Nase und die aufeinander gepressten Lippen nahm er fast überdeutlich wahr.

    Plötzlich erschrak er.

    Sicherlich wegen der Wärme im Zimmer bedingt begannen die seit Stunden geöffneten Augen des Toten, bereits einzutrocknen.

    Solches war für Kappner bisher unbekannt. In der Brust spürte er den harten Schlag seines Herzens. Er atmete tief durch, versuchte das Zittern der Hände zu unterdrücken.

    Entschlossen machte er noch mehrere Nahaufnahmen vom Kopf des Toten. Insbesondere auch vom Schal um dessen Hals. Dann richtete er sich wieder auf. Fragend schaute er zu Faber hin.

    Der lehnte in unveränderter Haltung am Fenster. Wobei er nervös am Rollkragen seines Pullovers zupfte. »Die ganze Brigade ist seit fünf Uhr zur Schicht draußen am Trakt. Warum er nicht mit raus gefahren ist, dass müssen wir noch klären«, sagte der Sicherheitschef plötzlich halblaut mit belegter Stimme. Er war jetzt etwas fahl im Gesicht. Rasch wendete er den Blick von der Leiche ab und starrte stattdessen zu Kappner hin. »Die Mieze von der Dienstleistung hat ihn vorhin gefunden, weil sie hier drin saubermachen wollte. Diese WUD ist heute laut Plan dran. Sie ist gleich zu ihrem Chef gerannt, dort heult und kotzt sie immer noch. Der Joschi hat mich sofort angerufen. Dann brachte er den Schlüssel für dieses Zimmer zu mir. Ich glaube aber, der dachte, dass ich ihm die Leiche zeige!«, erklärte Faber etwas umständlich.

    Kappner vermeinte, ein leichtes Zittern in dessen Stimme zu hören.

    Der Sicherheitschef hingegen schloss rasch das Fenster, da es inzwischen im Raum eisig kalt geworden war. Mit der Hand wischte er sich fahrig übers Gesicht. Einen Augenblick noch starrte er vor sich hin, um sich dann sichtlich zu straffen. »So. Du machst jetzt bitte ein paar Bilder von der gesamten Räumlichkeit, bevor die Sowjets kommen. Ich meine die Miliz und den Staatsanwalt«, sagte er, nunmehr betont beherrscht. »Ich hab’ vorhin den Zernick angerufen! Gehe du mal davon aus, dass der den KGB verständigt hat. Wird wohl bald voll werden hier drin meine ich!«

    »Den Zernick? Der von der Stasi?«, fragte Kappner erstaunt.

    »Ja. Das ist für solche Fälle so vorgesehen«, entgegnete Faber. Daraufhin ging er auf den Flur hinaus, um Kappner ein freies Sichtfeld zum Fotografieren zu bieten.

    In diesem Moment traf der Baustellenarzt ein.

    Doktor Martin Langner steckte den Kopf durch die Tür und warf einen flüchtigen Blick auf den Toten. »Theo! Warte mal mit deinen Fotos, bis ich mit der Totenschau durch bin!«, sagte er. Ungerührt kaute er seinen Kaugummi weiter.

    Kappner trat daher auf den Flur hinaus, wo ihm Faber eine Zigarette anbot.

    Sie rauchten schweigend während Doc. Langner wie er allgemein genannt wurde, eine oberflächliche Leichenschau durchführte.

    Der Versorgungschef warf aus reiner Neugier einen raschen Blick in den Raum. Dabei sah er, dass der Arzt dem Toten soeben die Augen zudrückte, wobei er immer noch ungerührt seinen Gummi kaute.

    Den lässt das wohl arschkalt, dachte er und schüttelte den Kopf.

    Faber und Kappner warfen ihre Kippen in einen Blecheimer neben der Tür. Den hatte anscheinend die Mieze auf ihrer Flucht zurückgelassen.

    Da kam der Doc aus dem Zimmer. »So. Fürs Erste bin ich hier fertig«, sagte er zu Faber. »Sieht ganz nach Selbstmord durch Erhängen aus. Das schreib’ ich auch auf den Totenschein! Kann höchstens drei Stunden her sein, der Junge ist ja noch warm. Aber er hatte vorher richtig einen genommen! Der stinkt wie ’ne Destille!« Der Doktor kicherte kopfschüttelnd vor sich hin und verstaute rasch sein Zeugs in der Arzttasche. Schwungvoll stülpte er die Schapka über die raspelkurzen, roten Haare auf seinem Aristokratenhaupt. Daraufhin legte er die Hand besänftigend auf Fabers Schulter. »Ich schreibe den Totenschein drüben im Medpunkt aus. Kannst ihn nach dem Mittagessen abholen lassen. Bringt also bitte den Jungen zu mir rüber. Ich mache auch die Einsargung. Alles andere organisiert ihr ja wohl? Sarg und Transport meine ich.«

    Faber nickte zustimmend und Doc. Langner verschwand so rasch, wie er gekommen war.

    Kappner fotografierte noch, was sich seinem Auge anbot. Da trampelte bereits schon die sowjetische Exekutive herein.

    Mit von der Kälte geröteten Gesichtern erschienen zwei Milizionäre in ihren kniehohen Filzstiefeln. Dann ein dicker, asthmatischer Zivilist, der sich als der Staatsanwalt zu erkennen gab.

    Ein kleiner, dürrer Fotograf packte beflissen seine Ausrüstung aus.

    Minuten später kamen noch zwei unauffällige Männer in langen Mänteln. Die waren wohl vom KGB.

    Wie nicht anders zu erwarten war, verbreitete sich sofort eine Duftwolke aus Knoblauch und Machorka im Raum.

    Faber sprach kurz mit den Ankömmlingen. Daraufhin wandte er sich leise an Kappner. »Die machen selber ihre Bilder. Du sollst aber von deinen Fotos für sie jeweils einen Abzug anfertigen. Die holen sie morgen bei mir ab. Also gut, wenn du fertig bist, rausch’ ab in dein Labor. Aber bitte bring’ mir anschließend auch die Negative mit!«

    Kappner warf einen überraschten Blick zu Faber hin. Er packte wortlos seinen Kram zusammen, verließ die WUD.

    Wieder draußen vor der Tür angelangt und weg vom Angesicht des Todes atmete er mehrmals tief ein und aus. Sein Atem verwehte, wie eine flatternde, weiße Fahne. Mit großer Erleichterung vermeinte er zu spüren, wie das unerwartet in ihm aufgestiegene Grauen von ihm wich. Für einen Augenblick blinzelte er in die immer noch tief stehende Sonne, um schließlich durch die Kälte zurück ins Versorgungsobjekt zu marschieren.

    Im VO war das Mittagessen bereits im Gange. Die Tische im vorderen Speiseraum zeigten sich schon zur Hälfte besetzt. Doch zur Essenausgabe hin stand noch eine Reihe von hungrigen Werktätigen.

    Elisabeth Kappner, die Küchenchefin, schwebte in korrekte Kochkleidung gewandet hinter dem Tresen hin und her. Aufmerksam überwachte sie den täglich gleichen Vorgang.

    Das trockene Scheppern der Kunststoffteller, das Klappern des Aluminiumbestecks, das Stimmengewirr der Essenteilnehmer und das dumpfe Rauschen der Geschirrspülmaschine erfüllten die Räume. Alles zusammen bildete die übliche akustische Kulisse während der Mahlzeiten.

    Kappner ging durch den Speiseraum zur Ausgabereihe hin, die sich vor der warmen Küche erstreckte. An einigen der besetzten Tische, an denen er vorbeikam, wünschte er einen »Guten Appetit«. Oder nickte nur einen Gruß.

    An der Ausgabereihe angelangt beugte er sich hinüber zu seiner Frau. Ihren fragenden Blick beantwortete er mit einem Lächeln, wobei er ihr die Hand sanft auf den Unterarm legte. »Schatz, ich muss mich noch für ’n Stündchen ausklinken. Bei euch läuft alles? Auch für heute Abend?«

    Die resolute Elisabeth Kappner, sieben Jahre jünger als ihr Mann aber ebenso vollschlank, nickte mit einem strahlenden Lächeln. Sie drückte die Hand ihres Chefs an ihren fülligen Busen. »Keine Panik, Boss! Alles läuft, wie ’n Länderspiel. Ich denke jedoch, dass du unseren Techniker noch mal abfragen solltest!« Lisa legte den Kopf etwas schräg und fixierte ihren Mann. »Aber sag mal, was war denn los? Die Mädels aus der Ökonomie haben gemeint, dass du vor ’ner Stunde mit dem Sicherheitschef und deiner Kamera abgerauscht bist?«

    Kappner strich seiner Frau besänftigend über die Wange. »Das erzähle ich dir später, mein Schatz. Wie weit seid ihr denn mit der Vorbereitung vom Faschingsbuffet?«

    Elisabeth winkte beschwichtigend ab, schaute jedoch prüfend zur Ausgabereihe hinüber. Dort gab es mit einem Wachmann soeben eine kleine Diskussion wegen einer Nachschlagportion.

    Dabei stupste sie mit einem Finger ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Mit einer energischen Bewegung rückte sie zudem das weiße Schiffchen auf ihrem kurz geschnittenen, dunkelblonden Haaren zurecht.

    Kappner wurde es warm ums Herz. Die ihm lieb gewordene Geste seiner Frau brachte ihn besonders nach dem soeben erlebten Entsetzlichen endgültig ins gewohnte Umfeld zurück. Es waren genau diese unverwechselbaren Eigenheiten, die seine Liebe zu Elisabeth stets aufs Neue entfachten.

    »Das Buffet ist fast fertig. Den Rest lasse ich von der Spätschicht machen«, holte Lisa ihren Mann aus seiner Gedankenwelt zurück. »Wir bauen um halb fünf alles auf, bevor die Ersten zum Abendbrot kommen!« Solcherart brachte sie als Küchenleiterin ihren Chef auf den aktuellen Stand.

    Kappner hob daraufhin grüßend die Hand und verließ den Speisesaal. Nach einem kurzen Kontrollblick in die Geschirrspüle marschierte er durch den langen Gang in Richtung der Büros. Dabei überraschte er den technischen Abteilungsleiter und den bulligen, vollbärtigen Haushandwerker im Werkstattraum.

    Beide ließen sofort die offenen Bierflaschen vom Tisch verschwinden, als sie ihres Chefs ansichtig wurden.

    Kappner reagierte abgesehen von einem missbilligenden Kopfschütteln im Moment nicht auf diesen Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin. Das konnte er später nachholen.

    »Bloß ein Bierchen zum Mittagessen!« Kretzschinski, der Techniker, versuchte sich in einer etwas hilflos wirkenden Erklärung.

    »Noch so ’n Ding und es rappelt im Karton!«, entgegnete Kappner mit grimmiger Miene. Dann jedoch fragte er die beiden noch rasch über den Fortgang ihrer Vorbereitungen ab. Den Technikern oblagen die Anbringung der Faschingsdekoration im Speisesaal und der Aufbau einiger anderer Dinge. Schließlich wollte der HAN-Versorgung auch heute bei der Faschingsfeier der Baustelle, mit dem Fest-Büfett glänzen. Und nicht durch irgendwelche Pannen negativ auffallen!

    Letztlich informierte er die Schluckspechte darüber, dass er sicherlich noch einige Zeit im Labor zu tun haben würde.

    Der Buschfunk hatte bereits gearbeitet. Die beiden wollten daher unbedingt etwas über den Todesfall in Erfahrung bringen. Über den schon heftig gemunkelt wurde.

    Der Versorgungschef winkte aber nur ab. Mit seiner Kamera in der Hand lief er festen Schrittes in Richtung Fotolabor. Das befand sich in einem toten Verbindungsteil zwischen den beiden Speiseräumen.

    Es war kurz nach dem Aufbau der Raumzellenküche entstanden. Auch durch Kappners Initiative, seiner Hände Arbeit und nach Feierabend. Deshalb konnte er das Labor jederzeit für seine privaten Fotoarbeiten nutzen.

    Doch momentan stand er vor verschlossener Tür. In der Dunkelkammer werkelte irgendjemand herum.

    Ungeduldig hämmerte Kappner mit der Faust gegen die Hartfaserplatten. Wenig später hörte er von drinnen die empörte Stimme des Kulturniks.

    Offiziell bezeichneten sich »Beethoven« und seine Leute als »Mitarbeiter des Hauptauftragnehmers für Kultur«. Doch auf allen Baustellen rief man diese Jungs und Mädels nur kurz – »die Kulturniks«. Und das schon seit der Drushba-Trasse!

    Nach langen Minuten steckte der Kulturschaffende den brünetten, wirren Wuschelkopf, dem er seinen Spitznamen verdankte, aus der Tür heraus. Etwas irritiert blinzelte er ins helle Licht.

    Kappner erklärte ihm kurz die dringliche Sachlage. Aber Beethoven war sowieso mit seiner Arbeit fertig.

    Der Versorgungschef übernahm das Fotolabor. Er entwickelte den Film und trocknete ihn anschließend über dem elektrischen Heizstrahler. Von allen Bildern, die ihm gelungen waren, machte er Abzüge. Dabei bemerkte er einige Merkwürdigkeiten. Woraufhin er zusätzlich noch mehrere Ausschnitte vergrößerte.

    Während die Trockenpresse ihre Arbeit tat, sichtete er. Auf einem der großformatigen Fotos entdeckte er im Nacken des Toten einen schmalen, dunklen Streifen. Den die Schlinge des Schals aber weitestgehend verdeckte. Kappner, wahrlich kein Fachmann auf diesem Gebiet, vermutete dort einen Bluterguss. Als wahrscheinlich anzunehmende Folge eines Schlages. Auch der fest zusammengepresste Mund des Toten und das Blut an seiner Nase gaben ihm zu denken.

    Sollte der Bursche bei einer Strangulation seine Zunge nicht wenigstens ein Stück weit herausstrecken, wie man es von Erhängten gemeinhin kannte? Plötzlich ergriff Kappner die vage Ahnung, dass es bei diesem Selbstmord einige Unstimmigkeiten zu geben schien. Aber was verstand er von solchen Dingen und war das alles sein Problem?

    Ohne sich weitere Gedanken zu machen, übergab er am frühen Nachmittag wunschgemäß die normalen Abzüge im Postkartenformat an Faber.

    In einem extra Umschlag steckten die Bilder für die Sowjets. Auch die Filmbüchse mit dem Negativfilm stellte er vor ihm auf den Schreibtisch. Mehrere spezielle Vergrößerungen hatte er zudem in ein größeres Kuvert gepackt.

    Diesen Umschlag drückte er dem Sicherheitschef mit dem bedeutungsvollen Hinweis auf »einig erkennbare Merkwürdigkeiten« persönlich in die Hand.

    Justus Faber schaute überrascht zu Kappner auf und bedankte sich kurz. Sein Blick blieb jedoch fragend auf den Versorger gerichtet.

    Doch der tat so, als ob er es nicht bemerkte, und verließ rasch das Büro.

    Austausch von Neuigkeiten

    Den gesamten Nachmittag über brannte im Büro vom Leiter für Sicherheit die Luft. Wie man so sagt.

    Fast der Verzweiflung nahe, kämpfte Justus Faber mit den Tücken der sowjetischen Fernmeldetechnik. Ebenso mit den betrieblichen Vorschriften des Generallieferanten.

    Dazu kam, dass der Baustellenleiter und der Parteisekretär vom FGLB unangemeldet bei ihm aufschlugen.

    Sie verlangten einen Bericht über das Vorkommnis und den aktuellen Sachstand der Abarbeitung.

    Endlich, nach drei Zigarettenlängen und ebenso vielen Tassen Kaffee, verschwanden sie.

    Das alles passierte bereits, bevor Kappner die Fotos bei ihm ablieferte.

    Wenig später polterte rotgesichtig und durchfroren der Verantwortliche des MfS für den Bauabschnitt herein. Der Genosse Zernick.

    Vom Standort Karamorka kommend, wo Faber ihn am frühen Vormittag telefonisch erreicht hatte, war er mit seinem weißen NIVA augenscheinlich soeben erst im Wohnlager eingetroffen.

    Während er die Tür hinter sich schloss, rief er witziger weise seinen Gruß auf Russisch aus. »Priwjet!«

    Faber indes blieb ihm vorerst eine Erwiderung schuldig. Er Verdrehte nur genervt die Augen und atmete tief durch.

    Zernick, der perfekt und akzentfrei die russische Sprache beherrschte, warf seine rotbraune Fuchs-Schapka oben auf den Kleiderständer. Danach schälte er sich aus der gesteppten Jacke. Er deutete auf seinen dunkelgrünen Pullover, den quer über die Brust ein Norwegermuster zierte. »Von meiner Lydia eigenhändig gestrickt! Hättest du das für möglich gehalten?«

    Faber schaute von seinem Schreibtisch aus zu Zernick hoch und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Nee, das sicherlich nicht!« Er kannte den Major bereits seit Vierundachtzig. Damals hatten sie zusammen mit knapp hundert Bauarbeitern im Sporthotel unten in der Stadt Prokowski vorübergehend Quartier genommen.

    Zu dieser Zeit gab es das Wohnlager im Walde noch nicht. Aber Zernick war längst hier vor Ort gewesen. Als einer der Ersten kam er bereits Dreiundachtzig auf diesen Bauabschnitt. Mit Lydia war er zu dieser Zeit schon verheiratet. Eine Russin aus Perm. Ein junges, hübsches Ding, Mitte der Zwanzig.

    Der Major hingegen hatte die Vierzig überschritten und eine Scheidung hinter sich gebracht.

    Im Gegensatz zu Faber zeigte der Major nicht einmal einen kleinen Bauchansatz. Der Berliner war zudem überzeugter Nichtraucher. Mit über einsachtzig Körperhöhe wirkte er kräftig und sportlich. Er trug kurzes, brünettes Kopfhaar, das an den Schläfen bereits etwas grau schimmerte.

    Zernick putzte gelassen seine schmalrandige Brille, die von der feuchten Wärme im Raum rasch beschlagen wurde.

    Schließlich ließ er sich auf den Stuhl vor Fabers Schreibtisch fallen. Er starrte den Sicherheitschef aus hellblauen Augen bohrend an und hob fragend die dichten Brauen. »Na, dann schieß mal los, Justus! Was ist hier passiert?« Auf etwas knurrige Art eröffnete der Major die Befragung.

    Gelassen zündete sich Faber eine Zigarette an. Obwohl er Zernicks Abneigung gegen das Rauchen kannte. Die vor ihm liegenden Notizen dienten ihm als Basis für seinen Bericht. Als er am Ende die zusätzlichen Vergrößerungen erwähnte, die ihm Kappner gesondert mit den anderen Fotos übergeben hatte, legte Zernick die Stirn in Falten. Rasch schob ihm Faber die Abzüge über den Schreibtisch hin.

    Der für den Bauabschnitt verantwortliche Mitarbeiter der Staatssicherheit zeigte sich überrascht von dem, was er zu sehen bekam. »Sag mal, Genosse Faber«, fragte er, nachdem er alle Bilder eingehend gemustert hatte. »Den jungen Mann hier, der mit dem Schal um den Hals auf dem Fußboden herumsitzt, den kenne ich doch? Kann es sein, dass ich den öfters mit eurem DSF-Vorsitzenden zusammen gesehen habe? Meistens am »Brett« oder in der Gaststätte? Liege ich damit richtig?«

    Faber stellte seine Kaffeetasse ab. Er lächelte spöttisch, neigte den Kopf leicht zur Seite und seine Mundwinkel zuckten. »Wie meinst du das, Ralf? Hörst du etwa auch schon bestimmte – Glocken läuten?«, entgegnete er betont scheinheilig und wegen der dünnen Wände auch mit gesenkter Lautstärke.

    Daraufhin erschien auf Zernicks Gesicht ebenfalls ein feines aber süffisantes Grinsen. »Nun ja. Mir flüsterten da mehrere Leute zu, dass der liebe Urs Knäbelein über eine warme Ader verfügen soll. Und das, als der erste Vertreter der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« hier am Standort!«

    Faber schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ja, ja, Ralf! Das mag wohl so sein!«, sagte er. »Doch er ist sicherlich nicht nur mit dem einen Burschen gesehen worden, der jetzt tot ist. Sondern auch mit einigen anderen. Aber der Knäbelein ist ja leider mit dieser – Vorliebe – nicht der Einzige. Er hängt immer mit dem Rehnhack, der ist Brigadier beim Industriebau, recht innig zusammen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kerl in derselben Spur läuft!« Zu Zernicks Erleichterung drückte er die Zigarette aus, bevor er weitersprach. »Aber wir könnend anscheinend davon ausgehen, dass es hier auf der Baustelle im Augenblick noch kein Nest mit diesen Typen gibt. Obwohl mir noch einige andere nicht so koscher erscheinen!« Faber winkte unvermittelt ab, um dieses Thema abzuschließen. Da es ihm offensichtlich unangenehm zu sein schien.

    »Na gut, belassen wir’s dabei!«, räumte der Major ein. »Wo kein Kläger, da kein Richter. Momentan können wir’s ja nicht beweisen, dass der dicke Urs irgendetwas mit dem Tod des Jungen zu schaffen hat. Aber wir sollten das alles im Auge behalten. Nicht, dass die warmen Brüder sich hier zu sehr breitmachen!«, schloss er seine Überlegungen ab.

    Sehr zu Fabers Überraschung schien Zernick in Eile zu sein. Denn er sprang plötzlich auf und zog seine gesteppten Klamotten an. Kumpelhaft klopfte er dem erstaunten Leiter für Sicherheit auf die Schulter und verschwand aus dem Büro.

    Erst als der Major bereits draußen war, bemerkte es Faber. Zu seiner Verblüffung lagen die Fotos mit den Vergrößerungen nicht mehr auf seinem Schreibtisch!

    Kopfschüttelnd wendete er sich seinen noch ausstehenden Verpflichtungen zu.

    Für ihn selbst überraschend gelang es ihm wenig später eine telefonische Verbindung nach Mittenwalde zu erhalten. Und das schon nach drei Versuchen. Unter Knacken und Rauschen in der Leitung vermochte er es, die verantwortlichen Kollegen beim Generallieferanten über den Vorfall zu informieren.

    Nach der telefonischen Nachricht schickte er zusätzlich ein Fernschreiben in die Zentrale. Auf diesem Wege sagte er auch den Heimtransport der Leiche mit dem nächstfolgenden Urlauberheimflug zu. Der Termin wäre allerdings noch offen.

    Aus Mittenwalde kam am frühen Abend die Bestätigung ebenfalls per Fernschreiben.

    Man würde die Abholung des Sarges von Schönefeld veranlassen, wenn der nächste Urlauberflieger dort ankommt.

    Auf dieses Stichwort hin rief Faber nochmals Joschi, den Chef der Dienstleister an, der auch gleich den Hörer abnahm.

    »Immer diese Hektik! Also gut, Genosse Sicherheit! Erst vorhin sagte man mir, dass ein Klempner von TGA soeben die Zinkauskleidung in den Sarg löten würde. Die Kiste kommt also heute Abend noch rüber in den Medpunkt. Damit der Doc die Leiche einsargen kann!« Joschi klang ein bisschen genervt. »Zum Glück ist es ja überall ausreichend kalt. Da hält sich der Junge bestimmt noch eine Weile frisch«, ergänzte er seine Mitteilung noch auf eine etwas zynische Art.

    Faber vermeinte zudem, ein unterdrücktes Lachen zu hören. Er ignorierte jedoch diese Entgleisung und legte ohne eine Entgegnung auf.

    Der diensthabende Dispatcher vom Transport rief an. Er bestätigte ihm die angeforderte Bereitstellung eines B1000 mit Kofferaufbau. Der schien ihm für die Überführung des Sarges zum Bahnhof von Ustinov geeignet. »Mit dem Transportbüro in Moskau konnte ich auch schon alles absprechen. Ich meine, damit der Sarg vom Kasaner Bahnhof abgeholt und zum Flughafen Tscheremetjewo gebracht wird«, ergänzte der Dispatcher eifrig.

    Woraufhin Faber auflegte. Später fiel ihm jedoch etwas auf, dass er übersehen hatte. Die Urlauber von Prokowski waren bereits am Morgen dieses Tages mit dem Bus nach Ustinov planmäßig abgefahren. Somit bestand für seine weiteren Aktionen plötzlich kein Zeitdruck mehr.

    Denn erst in vier Tagen würden die nächsten Urlauber von zwei Nachbarstandorten abreisen. Dann erst konnten sie den Sarg in den Zug nach Moskau bei dessen Halt in Ustinov zuladen.

    Letzten Endes musste Faber nur noch den Untersuchungsbericht schreiben. Was da drin stehen sollte, hatte er mit Zernick, dem Baustellenleiter und dem Parteisekretär ohnehin genauestens abgestimmt. Denn schließlich ging das Dokument mit nach Mittenwalde. Dieses Papierchen würden sich dort sicherlich noch einige, besonders wichtige Herrschaften zur Brust nehmen.

    Daher formulierte Faber alles entsprechend den dafür vorgesehenen, betrieblichen Anweisungen:

    »Vorgang: Selbsttötung eines Baustellenangehörigen mittels Erhängen.

    Gemeinsam durchgeführten Untersuchungen durch: den Leiter Sicherheit und Arbeitsschutz, Betrieb Untergrundspeicher–Mittenwalde Standort Prokowski, dem Baustellenarzt, der Miliz und dem sowjetischen Staatsanwalt, lassen folgende Schlussfolgerungen zu:

    »Der Geschädigte ist Marco Bauerfeind, geb. am 12.09.1965, beschäftigt als Maschinist beim FGLB-Engelsdorf, HAN-LT, Bereich RIV. Die letzte Einreise fand am 11.01.86 statt.

    Benannter Mitarbeiter beging am Sonnabend, dem 08.02.1986 zwischen 08.00 und 09.00 Uhr, aus offensichtlich privaten Beweggründen (ev. Heimweh) und unter Alkohol stehend in seiner Wohnunterkunft eine Selbsttötung durch Erhängen.

    Dazu benutzte er einen zu seiner beruflichen Winterkleidung gehörenden Schal. Er befand sich zu dieser Zeit allein in der WUD. Ein Fremdverschulden kann somit weitestgehend ausgeschlossen werden. Bauerfeind hatte sich am frühen Morgen bei seinem Brigadier krankgemeldet. Seine Brigade fuhr gegen 5.00 Uhr ohne ihn zur Schicht an den linearen Teil.

    Stempel, Datum und Unterschrift.«

    Als endlich alles abgearbeitet schien, holte Faber tief Luft und ein Fläschchen Weinbrand aus seinem Schreibtisch. Er nahm ein paar kräftige Schlucke gleich aus der Flasche und klopfte sich im Geiste anerkennend auf die Schulter. Diese äußerst unangenehme Aufgabe war geschafft! Aber warum auch nicht, dachte er. Leider verfügen wir ja bereits über gewisse Erfahrung, um einen unserer verunfallten Trassenerbauer auf diese Art und Weise nach Hause zu verbringen.

    Nach einem prüfenden Blick ins nicht mehr besetzte Sekretariat gähnte er laut und ungeniert. Er reckte und streckte sich. Dann schaute er auf die Uhr.

    Daraufhin beschloss er, für heute Feierabend zu machen.

    Draußen war es schon längst wieder stockdunkel geworden.

    Faber schloss das Büro ab, um noch seinen Kontrollgang durch das Wohnlager zu starten. Das tat er jeden Abend. Auch, wenn er im Speisesaal immer als einer der Letzten beim Abendessen galt. Doch heute konnte dies sicherlich kein Problem darstellen.

    Denn zum einen hatte die Küche sowieso zusätzlich geöffnet. Weil die zurückkehrenden Urlauber erst nach der Abendbrotzeit ankommen würden. Zum anderen ließ man das Büfett noch länger stehen, da abends die Faschingsfeier der Baustelle stattfand.

    Je mehr Alkohol die Jungs in sich hinein schütteten, umso üppiger zeigte sich später ihr Appetit! So lehrte zumindest seine persönliche Erfahrung.

    Er trat hinaus vor die Bürobaracke und verschloss die Tür.

    Eisige Kälte umfing ihn. Gewohnheitsmäßig warf er einen Blick zum schwarzen, von Sternen übersäten Himmel. Auch heute Nacht würde es nicht schneien.

    Doch da hörte er von der Marienberger Halle her das rhythmische Wummern der Diskothek. Die Faschingsfete schien bereits begonnen zu haben.

    Daher fasste er den Entschluss, gleich zum Abendessen zu gehen. Seinen Kontrollgang würde er erst im Anschluss daran durchführen.

    Ein Neuankömmling im Fasching

    Theo und Lisa Kappner saßen nach dem Abendessen gemeinsam mit anderen Mitarbeitern der Versorgungsleitung im vorderen der beiden Speiseräume beisammen. Sie benutzten einen Tisch in der hinteren Ecke, weil sich ihnen von da aus der ungehinderte Blick auf den Übergang zur Marienberger Halle bot. Von dort her dröhnten schon laute Discoklänge.

    Entgegen dem allgemeinen Verbot, das während der Essenszeiten galt, erlaubten sie sich in der Nische zu rauchen. Zudem konnten sie sich dort unterhalten, ohne schreien zu müssen.

    Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen »Braustolz Pils« und zwei mit »CioCioSan«.

    Diesen fiesen Wermut verabscheuten die Kappners zutiefst.

    Völlig im Gegensatz zu den beiden Mädels aus der Ökonomie und dem pickligen Wareneinkäufer. Die fanden das süße Gesöff rundum toll, weil es vortreffliche Laune versprach. Ein Grund mehr, wofür sie gern ihre Rubelchen verplemperten.

    Aber lange würden die jungen Leute sicherlich nicht hier am Tisch hocken bleiben. Dessen war sich Theo Kappner bewusst.

    Inzwischen war es nach zwanzig Uhr geworden und der laute, hämmernde Rhythmus aus der Halle lockte das jüngere Volk eindringlich zum Tanz.

    Bis jetzt hielten es die drei Mitarbeiter vermutlich nur aus Neugier bei den Kappners aus. Anscheinend hofften sie, von ihrem Chef ein paar Details über den Selbstmord zu erfahren. Der schreckliche Vorgang geisterte zwar durch aller Munde, aber keiner wusste etwas Genaues.

    Bevor sich Kappner zu seinen Leuten an den Tisch gesetzt hatte, war er noch eine Runde durch die Marienberger Halle gegangen. Diese schien sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt zu haben.

    Interessiert ließ er den Blick über die Besucher der Faschingsfeier wandern. Am Ende des Rundgangs wollte er zudem seine Mitarbeiter im Ausschank kontrollieren. Denn solches tat er stets auch bei ähnlichen Anlässen.

    Den Saal hatten die beiden Kulturniks im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten bereits am Vorabend geschmückt. Alles wirkte faschingsgemäß und ziemlich farbenfroh.

    Kappner wusste, dass die bunten Scheinwerfer, mit denen der Saal ausgeleuchtet wurde, aus dem Theater der Stadt Prokowski stammten. Das für die Ausleihe notwendige »Sternburg Pilsener«, zwei Eberswalder Salami und eine mächtige Seite geräucherten Speck spendierte er aus den Warenbeständen der Versorgung.

    Ein nicht unerheblicher Teil der Faschingsgäste zeigte sich, zum allgemeinen Amüsement, auf die eine oder andere Weise phantasievoll kostümiert.

    Der Einmarsch des Elferrats ging wohl soeben, heftig beklatscht, dem Ende entgegen. Zahlreiche Narren hielten das heutige Ereignis mit ihren Fotoapparaten fest.

    Der Kulturnik zerrte die Regler hoch und fuhr sofort und mit voller Pulle einen aktuellen Stimmungshit vom Diskopult ab. Die wuchtigen Boxen auf dem hölzernen Podium dröhnten, die Bässe ließen sogar den Betonboden erbeben.

    Augenblicklich schleppten die Kumpels fast alle in der Halle anwesenden weiblichen Faschingsgäste auf die Tanzfläche.

    Dort fanden sich wie bei jeder Lagerdisko auch viele der Jungs spontan zum Männertanz ein. Verklärten Blickes schwebten oder stampften sie solo im Rhythmus der Musik mit Zigarette und Bierflasche in den Händen über den grau gestrichenen Betonfußboden.

    Die Tanzfläche hatte sich zwar rasch gefüllt, die Anzahl der weiblichen Tanzpartner reichte jedoch bei Weitem nicht aus.

    Kappner machte plötzlich eine erstaunliche Feststellung.

    Anscheinend hatte sich heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Kumpels gewagt, ihre in der Stadt erworbenen russischen Freundinnen ins Wohnlager mitzubringen.

    Denn solch eine Vielzahl an Mädels aus dem »Territorium« auf der Tanzfläche gab es hier noch nie!

    Gut so dachte Kappner schmunzelnd. Langsam wird’s ja! Wenn es hilft, den dramatischen Männerüberschuss bei den Lagerdiskotheken wenigstens etwas auszugleichen? Dann ist das doch in Ordnung.

    Er hob den Blick, während er sich eine Zigarette anbrannte.

    Obwohl die meisten der Anwesenden rauchten, schwebte unter der Hallendecke aus Wellasbest nur eine dünne Wolke von Tabakqualm. Dank der improvisierten Saalentlüftung, an der auch er maßgeblich Anteil hatte, war das möglich.

    Der Versorger schlängelte sich zwischen den Narren hindurch, bis nach vorn zum »Morschen Brett«.

    Der Ausschank befand sich gleich neben dem Diskopodium. Wo man rückseitig durch drei kleine Luken in der Wand die Linsen der beiden Kinomaschinen sehen konnte.

    Der Getränkeverkauf erfolgte aus einem etwas breiteren Fenster heraus, das sich in der Wand daneben befand.

    Kappner musterte die lange Reihe der Kumpels, die geduldig am Ausschank anstanden. Die beiden Mädels hinter der Theke waren vollauf beschäftigt, um den Bedarf an Bier, Wein und auch Hochprozentigem zu befriedigen.

    Von der Seite her beugte sich der Versorgungschef ins Verkaufsfenster hinein. »Soll ich euch jemanden zum Gläserspülen herschicken?«, fragte er Lilly. Eine dralle Rostockerin im blauen Berufskittel.

    »Nee, nee. Lass das Mal, Chef!«, entgegnete sie und drehte ihm für einen Moment das hübsche aber hektisch gerötete Gesicht zu. »Wir kommen hier schon alleine klar!«

    Kappner zuckte mit den Schultern und schaute nochmals auf die Schlange der Wartenden. Kurz vorm Verkaufsfenster entdeckte er plötzlich Rolf Kretzschinski, seinen Techniker. Der stand mit den anderen Durstigen geduldig in der Reihe.

    Wegen der dröhnenden Musik diskutierte der Leipziger lautstark mit einem auch bereits angetrunkenen Kumpel. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Kretzschinski selbst »vorgeglüht« hatte bot seine rote Gesichtsfarbe. Ebenso, wie die Angewohnheit sich ständig mit den gespreizten Fingern durch das ohnehin zerzauste Haar zu fahren.

    Kappner ging nochmals die Reihen der voll besetzten Tische ab. In der hintersten Ecke des Saales entdeckte er schließlich die Truppe von RIV. Die Jungs schienen gleich nach der Schicht hierhergekommen zu sein. Seitdem hockten sie immer noch in ihren verdreckten Lederklamotten eng beisammen. Und statt Faschingsstimmung sah man bei ihnen nur trübsinnige Gesichter.

    Dort lachte keiner! Still in sich gekehrt vernichteten sie den Inhalt der Flaschen, die sich auf ihrem Tisch drängten.

    Was für ein Scheiß-Drama, dachte Kappner bei ihrem Anblick. Das ist doch bestimmt ein unglaublich harter Schlag. Wenn einer aus der eigenen Truppe quasi von heute auf morgen einfach so wegstirbt.

    Gnade uns Marx oder Gott, dass solches bei uns nie passiert!

    Am Ende seines Kontrollgangs kehrte er in den vorderen Speiseraum zurück und setzte sich zu seinen Leuten.

    Auch Ralf Kretzschinski tauchte bald dort auf. Mit einem breiten Grinsen stellte er vorsichtig ein kleines Tablett mit gefüllten Schnapsgläsern auf den Tisch. Er hatte es tatsächlich geschafft, das ovale Alublech vom Ausschank in der Halle bis hierher verlustfrei zu balancieren. Tief aufatmend ließ er sich auf einen freien Stuhl fallen. Er brannte sich eine Zigarette an und fixierte Kappner mit seinen schwarzen Knopfaugen. Die wirkten durch die dicken, grün getönten Gläser seiner Brille unnatürlich vergrößert.

    Kretzschinski, ein untersetzter stets etwas schmuddelig wirkender und immer unrasierter Mittdreißiger hatte einen leichten Silberblick. Dazu eine narbige Gesichtshaut und tief-schwarzes, strubbeliges Haupthaar.

    Sein oft unmäßiger Alkoholkonsum manifestierte sich in den Gesichtszügen. Und auch im morgendlich schwachen Zittern seiner Hände.

    Kappners Meinung zu seinem »Fachgebietsleiter für Technik« fiel zumeist recht zwiespältig aus. Dessen progressive Sprüche und ständige Sauferei waren das eine gute Arbeit jedoch das andere Profil des Leipzigers. Doch auch, nachdem man Kretzschinski im vergangenen Herbst zum Sekretär der »Abteilungs-Parteiorganisation« der Versorger gewählt hatte, blieb er beim Alkoholkonsum konstant.

    Kappner blieb skeptisch. »Denkst du, dass es ein guter Vorschlag war, den Kretzschinski zum Gruppensekretär zu wählen?« Der Parteisekretär der Baustelle, Wollny, reagierte auf seine Frage vorerst nur mit einem Schulterzucken. »Wolltest du die Funktion selber übernehmen? Oder hat sich noch ein anderer dafür beworben?«, entgegnete er daraufhin recht lapidar. Womit für ihn

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