Lehre.Lernen.Digital: Jahrgang 2, 2021 Ausgabe 1
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Über dieses E-Book
Die Digitalisierung hat längst Einzug in die Seminarräume sowie Lehr- und Hörsäle der Bildungseinrichtungen gehalten. Zugegeben fehlt es vielerorts nicht nur an den technischen Voraussetzungen, sondern nach wie vor sind Fragen zu Lehrdeputaten, mediendidaktischen Beratungsangeboten und strategischen Verankerungen nicht oder nur unzureichend beantwortet.
Die größten Hemmnisse für die Etablierung lehr-und lernbegünstigender digitaler Settings tragen jedoch noch die Lehrenden selbst in sich. Sie müssen sich in ihrem Berufsleben täglich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen, ganz unabhängig davon, in welchem Bildungszweig sie tätig sind und welche Unterstützung sie dabei erfahren.
Insbesondere die Heraus- und Weiterbildung für das gesamte Leben so wichtiger digitaler Kompetenzen und insbesondere für die Lehre relevanter Medienkompetenzen braucht das integrative Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis und einen Raum bzw. ein Medium, in dem ein Austausch und Diskurs möglich sind.
»Lehre. Lernen. Digital!« ist eine unabhängige und interdisziplinäre Zeitschrift insbesondere für digitale Mediendidaktik.
Sie erscheint halbjährlich in gedruckter, aber auch digitaler Form. In ihr kommen Autorinnen und Autoren aus der Wissenschaft und Praxis fachlich übergreifend zu Wort.
Die Fachbeiträge in der Zeitschrift sollen Neugierde wecken, zum Nachdenken, Nachahmen und zu fachlichen Diskursen anregen.
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Buchvorschau
Lehre.Lernen.Digital - Verlag für Polizeiwissenschaft
Der Lernprozess aus psychologischer Sicht: Was Lehrende über das Lernen von - auch älteren - Erwachsenen wissen sollten
Prof. Dr. Birgitta Sticher¹, HWR Berlin
Als Einstieg zu den theoretischen Ausführungen zunächst drei Beispiele aus dem Lehralltag der Autorin:
Ein Fortbildungsseminar an der Berliner Polizeiakademie zum Thema „Vernehmung mit schwierigen Persönlichkeiten". Vor mir sitzen 15 Polizeibeamt*innen, vier von ihnen haben erst vor drei Jahren ihr Studium beendet. Vier Teilnehmende hingegen blicken auf über 30 Dienstjahre und folglich umfangreiche Berufserfahrung zurück.
Masterstudiengang für den höheren Polizeivollzugsdienst im Fachbereich 5 an der HWR Berlin: Zu dem Kurs gehören zwanzig Studierende zwischen 30 und 40 Jahren. Einige von ihnen kenne ich bereits aus dem Studiengang des gehobenen Polizeivollzugsdienstes. Diese Begegnung liegt allerdings schon 10 Jahre zurück. Was hat sich inzwischen bei diesen Personen verändert und was bedeutet das für die Lehre?
Masterstudiengang Sicherheitsmanagement im Fachbereich 5 an der HWR Berlin: Der Kurs startet mit einer Präsenzphase in einem überwiegend online stattfindenden Studiengang. Anwesend sind über 40 Studierende, deren altersmäßige Zusammensetzung sehr heterogen ist. Die Studierenden sind zwischen 23 und 58 Jahre alt.
1. Problemaufriss
Ob die Lehre in klassischer Form analog oder ob sie digital stattfindet, immer sollte „das Lernen im Vordergrund stehen (Kleinschmidt, 2020, 13). Deshalb ist es wichtig, sich intensiver mit dem Lernen bzw. den Lernenden zu beschäftigen. Dies ist notwendig, da die Zusammensetzung der Lernenden in Ausbildung, Studium und vor allem in der Fort- und Weiterbildung oft sehr heterogen ist. Da lebenslang Neues gelernt werden muss, bilden Menschen verschiedenen Alters Lerngruppen. Erworben werden soll sowohl Wissen über neue (Fach-)Inhalte, das deklarative Wissen, als auch das Wissen dazu, wie etwas zu handhaben ist, das prozedurale Wissen. Beides zusammen bildet das Handlungswissen (Moskaliuk et al, 2016, 148). Die Heterogenität der Lernenden, nicht nur bezogen auf ihr chronologisches Alter, konfrontiert Lehrende mit besonderen Herausforderungen. Aus diesem Grund beschäftigen sich die folgenden Ausführungen mit dem Lernen Erwachsener, vor allem der älteren Erwachsenen ab 40 oder 50, den „jungen Al ten
. Die zentrale Frage lautet: Was muss beachtet werden, damit Erwachsene, auch „ältere" Erwachsene, erfolgreich Neues lernen?
2. Lernen: eine erste Begriffsklärung
Beginnen wir zunächst mit der Frage, was mit „Lernen gemeint ist. Der bekannte Lernforscher Manfred Spitzer (2011) führt hierzu Folgendes aus: Es werden Inhalte von draußen nach drinnen verlegt. Gerne stellt man sich dies so vor, als würde ein Trichter am Kopf aufgesetzt, in den man das, was gelernt werden soll, hineingießt. Aber dieses Bild ist irreführend, denn es geht vom Lernen als passivem Vorgang aus. „Lernen erfolgt nicht passiv, sondern ist ein aktiver Vorgang, in dessen Verlauf sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden abspielen
(Spitzer, 2011, 4). Die lernende Person nimmt Neues auf und verarbeitet es, indem Verbindungen zwischen den Nervenzellen geschaffen werden. Diese sind darauf spezialisiert, Informationen zu speichern und zu verarbeiten. Die Fähigkeit, die Welt überhaupt zu meistern, hängt von den Verbindungen ab, die zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn entstehen. Dadurch vollzieht sich Veränderung: „Wer lernt, ändert sich" (Spitzer, 2011, 11). Je besser etwas gelernt wird, desto stärker sind die Verbindungen zwischen den Neuronen.
Damit wird zugleich aber auch deutlich, dass Lernen immer an den bestehenden kognitiven Strukturen der Lernenden ansetzt. Diese prägen entscheidend die Art und Weise, wie Wissen und Können erworben werden, wie dies mental repräsentiert sowie abgerufen und genutzt wird. Lernen erfolgt als ein Prozess von Assimilation und Akkommodation (Piaget, 1970). Informationen werden von außen aufgenommen und mit Hilfe des bisherigen Wissens interpretiert (Assimilation). Wenn diese Interpretation aber mit dem bisherigen Wissenstand aufgrund von Widersprüchen etc. nicht gelingt, muss bestehendes Wissen verändert bzw. neues Wissen hinzugefügt werden, d. h. Akkommodation geschieht. Folglich kann Lernen als ein fortwährender Prozess verstanden werden, der sich noch genauer in vier Phasen unterteilen lässt (Kolb, 1984). Ausgangspunkt bildet die konkrete Erfahrung, die im Umgang mit der Umwelt bzw. den Gegenständen und Gegebenheiten gemacht werden. Je mehr Sinnesmodalitäten hierbei genutzt werden, umso stärker wird das Gehirn dabei aktiviert. Diese Erfahrungen werden in einem nächsten Schritt verarbeitet und in eine „wenn – dann" Beziehung gebracht (reflektiertes Beobachten). Aus diesen Beobachtungen entsteht dann ein abstraktes Konzept. Dies bildet die Grundlage für ein aktives Experimentieren und somit wird der Kreislauf erneut in Gang gesetzt.
Abb. 1.: Der Lernkreislauf (nach Kolb, 1984) - eigene Darstellung
3. Der Beitrag der Psychologie zum Thema Lernen
„Lernen" ist eines der wichtigsten Forschungsthemen der Psychologie. Diese bietet vielfältige Perspektiven an (3.1), aus denen heraus eine Beschäftigung mit dem Thema stattfindet. Des Weiteren lassen sich (3.2) konkrete Fragestellungen herausarbeiten, die von Expert*innen, die psychologischen Fachrichtungen zuzuordnen sind, beantwortet werden.
3.1 Die fünf Perspektiven der Psychologie
Es lassen sich fünf Perspektiven unterscheiden, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern eher als einander ergänzend zu verstehen sind. Die Aufmerksamkeit der Forschenden richtet sich in Abhängigkeit von der gewählten Perspektive auf bestimmte Aspekte (Merriam, 2014):
• Behaviorismus: Lernen ist durch äußere Reize gesteuerte Verhaltensveränderung.
Der Behaviorismus betont die hohe Bedeutung der Reize in der äußeren Umwelt für das Verhalten. Die extrinsische Motivation steht im Zentrum der Betrachtung. So wird die Person zum Lernen angetrieben, weil sie nach einem erfolgreich absolvierten Lernfortschritt belohnt wird. Das Lernen wird folglich durch die Art der Konsequenzen gesteuert. Hierbei sind positive Konsequenzen (Verstärkung) besonders wirksam. Beispiele für eine kurzfristige Verstärkung sind z. B. „Punkte" oder positive verbale Rückmeldung. Ein Zertifikat (Bagde) bei erfolgreich abgeschlossenem Lernprozess zu erhalten, stellt ebenfalls eine Belohnung bzw. Verstärkung dar.
• Humanismus: Lernen ist Veränderung der Person. Menschen verändern sich, weil sie etwas erreichen wollen, das sie für sinnvoll halten.
Die Wichtigkeit von Verstärkung und kontinuierlichem Feedback wird zwar nicht bestritten, aber durch die Erkenntnis erweitert, dass „Verstärkung" überhaupt nur Wirkung erzielen kann, wenn diese wichtige Bedürfnisse und Wünsche (Motive) des Individuums befriedigt. Die humanistische Psychologie betont die hohe Bedeutung des Wunsches nach Selbstentwicklung. Menschen streben Ziele an. Als Erfolg wird das erlebt, was zur Zielerreichung beiträgt.
• Kognitivismus: Lernen ist ein mentaler Prozess, es werden mentale Strukturen (Schemata) aufgebaut.
Die Art und Weise, wie das Lernmaterial zu gestalten ist, um vom Lernenden aufgenommen und verarbeitet zu werden (z. B. Einfachheit, Widerspruchsfreiheit, logische Anordnung etc.) sowie der Verarbeitungsprozess selbst werden von den Vertreter*innen dieser Perspektive untersucht.
• Sozial-kognitive Theorie: Lernen ist in ein soziales Geschehen und in einen Kontext eingebunden.
Lernen findet immer in einem konkreten sozialen Umfeld statt. Somit ist die Wechselwirkung von Person und Umfeld konstitutiv für den Lernprozess.
• Konstruktivismus: Lernen heißt, aus Erfahrungen Bedeutung zu schaffen.
Auch wenn Lernen durch äußere Reize beeinflusst werden kann, so ist es letztendlich doch immer die lernende Person selbst, die ihre neuen Erfahrungen vor dem Hintergrund bereits verarbeiteter biographischer Erfahrungen deutet und somit den Lernprozess durch ihre Konstruktion aktiv gestaltet. „Wissenserwerb ist (…) als Konstruktionsleistung zu verstehen und erfordert deshalb aktive Aneignungsprozesse des Lernenden, die meist ein Anwenden von Wissen auf relevante Aufgaben schon in der Trainingsphase beinhalten" (Moskaliuk et al., 2016, 151).
Die Perspektive des Konstruktivismus ist für das Lernen der Erwachsenen sehr wichtig. Die bestehenden neuronalen Netzwerke bzw. die vorhandenen biographischen Relevanzsysteme stehen einem schnellen Lernen im Sinne der Aufnahme von neuem „im Wege. Nachhaltiges Lernen setzt bei Erwachsenen noch stärker als bei jüngeren Menschen die Bereitschaft zur Aufnahme voraus und erfordert die mehrmalige Anwendung des Gelernten. Wissen, das nicht sinnvoll erscheint, bleibt „träge
, wird nicht in Denk-Fühl-Verhaltensprogramme aufgenommen und wird somit vergessen.
3.2 Fragen zum Thema Lernen
Bei der Beschäftigung mit „Lernen" stellen sich viele Fragen. Diese werden von Expert*innen der verschiedenen psychologischen Fachrichtungen (z. B. der