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Frau Morgenstern und die Verschwörung: Kriminalroman
Frau Morgenstern und die Verschwörung: Kriminalroman
Frau Morgenstern und die Verschwörung: Kriminalroman
eBook378 Seiten2 Stunden

Frau Morgenstern und die Verschwörung: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Auftragskillerin Violetta Morgenstern ist eine Frau mit Prinzipien. Davor ist auch der Vatikan nicht gefeit …

Violetta Morgenstern, Pensionärin mit Vorliebe für kreative Selbstjustiz, erhält einen heiklen Auftrag im Namen des Staates: Mit ihrem Kollegen, dem Ex-Söldner Miguel Schlunegger, soll sie einen Kardinal aus dem Vatikan eliminieren. Der Grund: topsecret. Doch ein Attentäter kommt den beiden zuvor. Wer außer ihnen hat sonst noch Interesse am Tod des ranghohen Geistlichen – und vor allem warum? Das mörderische Duo stöbert in den finsteren Ecken der heiligen Hallen und kommt einem jahrhundertealten Geheimnis auf die Spur, das so ungeheuerlich ist, dass die Weltgeschichte neu gedacht werden muss.
SpracheDeutsch
HerausgeberGrafit Verlag
Erscheinungsdatum28. Sept. 2021
ISBN9783894257859
Frau Morgenstern und die Verschwörung: Kriminalroman
Autor

Marcel Huwyler

Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand/Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt in der Zentralschweiz. www.marcelhuwyler.com

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    Buchvorschau

    Frau Morgenstern und die Verschwörung - Marcel Huwyler

    Marcel Huwyler

    Frau Morgenstern

    und die Verschwörung

    Kriminalroman

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

    Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

    Internet: http://www.grafit.de

    E-Mail: info@grafit.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Dieses Werk wurde vermittelt von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

    Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/sharpner (Männer), Clash_Gene (Frau)

    Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-89425-785-9

    Marcel Huwyler wurde 1968 in Merenschwand / Schweiz geboren. Als Journalist und Autor schreibt er Reportagen über seine Heimat und Geschichten aus der ganzen Welt. Er lebt an einem See in der Zentralschweiz.

    www.marcelhuwyler.com

    instagram.com/marcel_huwyler_schreibt

    facebook.com/marcelhuwyler.schreibt

    Für Frau Gygax, die doch gar nicht so heißt

    Prolog

    Anfang der 1990er-Jahre entwickelten die US-Streitkräfte ein neuartiges Narkosemedikament für ihre Kriegschirurgen in den Feldlazaretten an der Front. Die Substanz hieß »Proxoten-F« und versetzte verwundete Soldaten auf dem OP-Tisch schneller und tiefer in eine Bewusstlosigkeit als jedes andere Betäubungsmittel. Eine der Nebenwirkungen indes, höllische Halluzinationen im Aufwachstadium, war so massiv, dass Proxoten-F noch in der praktischen Testphase – während der Operation »Desert Storm« im Zweiten Golfkrieg – abgesetzt wurde.

    Doch wie so viele exklusive und schützenswerte Erfindungen gelangte die chemische Formel sehr schnell und sehr illegal nach China, wo die Substanz fortan in inoffiziellen Fabriken und vom Staat geduldeten Panscherbuden hektoliterweise produziert wurde. Auf dem Schwarzmarkt war die Arznei nämlich heiß begehrt. War Proxoten-F anfangs ein beliebtes, weil billiges und in geringer Dosis gut verträgliches Rauschmittel, trat das Zeug seinen weltweiten Siegeszug schließlich in einem ganz anderen Anwendungsbereich an – als K.-o.-Tropfen, bevorzugte Betäubungswaffe von Vergewaltigern und Dieben. Die Emulsion war geruch- wie geschmacklos und bereits nach kurzer Zeit im Körper nicht mehr nachweisbar. Und sie war weiß.

    Weiß wie Kuhmilch.

    ***

    Die Zielperson ließ sich im Wohnraum ihres Apartments auf das büffellederne Sofa plumpsen und trank, wie stets nach Feierabend, einen ganzen Liter eisschrankkühler Milch direkt aus der Kartonpackung. Nach fünf gierigen Schlucken hielt die Person inne, schnalzte mit der Zunge und tat einen halb unterdrückten Rülpser, ehe sie weitertrank. Unversehens rutschte ihr der Karton aus der Hand und pflatschte auf den Parkettboden, wo sich ein mehrarmiger Milchfjord ausbreitete. Die Zielperson glotzte an die gegenüberliegende Wohnzimmerwand, ihr Blick kuhäugig wie eine Mangafigur, der Kopf in unregelmäßigen kleinen Achten kreiselnd. Dann klappten ihr der Mund auf und die Augen zu. Und die ausgeknipste Zielperson kippte mit dem Oberkörper ruckartig wie ein Sekundenzeiger auf die Sitzfläche des Sofas.

    Kurze Zeit später klickerte erst und knackte dann das Sicherheitsschloss der Wohnungstür auf befremdliche Weise und drei Männer betraten das Apartment. Dank ihrer krokuslila Einwegnitrilhandschuhe und den weißen Schuh- und Haarüberzügen aus Polyurethan würden sie nach ihrem Auftritt spurlos verschwinden. Sie sprachen kein Wort, verständigten sich mit Gesten und bewegten sich so zielstrebig, wie nur Eindringlinge es tun, die sich minutiös auf ihr Einsatzobjekt vorbereitet haben.

    Mann Nummer eins sammelte drei drahtlose Funkvideokameras in Streichholzschachtelgröße ein, die er vier Tage zuvor in der Deckenlampe des Wohnzimmers, im Blumentopf eines Ficus-Gerippes im Schlafraum und zwischen den Lamellen der Badezimmerlüftung angebracht hatte.

    Mann Nummer zwei entsorgte in einer mitgebrachten Mülltüte die drei verbliebenen Milchpackungen aus dem Kühlschrank, in die er heute Morgen, nachdem die Zielperson zur Arbeit gefahren war, Proxoten-F injiziert hatte. Die kontaminierte Ware tauschte er jetzt gegen frische Milch selber Marke aus. Die Tatsache, dass er darauf geachtet hatte, dass die ausgewechselten Packungen das gleiche Mindesthaltbarkeitsdatum aufwiesen wie die Originale, machte deutlich, warum er und seine Teammitglieder ihre Spitzenhonorare wert waren.

    Die umgekippte Packung auf dem Parkettboden vor dem Sofa landete ebenfalls in der Mülltüte. Die Milchpfütze wischte Nummer zwei mit einem Mikrofasertuch auf und besprühte die Stelle anschließend mit einem Spray, den er aus der Beintasche seiner schwarzen Cargohose gezogen hatte. Zuletzt drapierte er eine neue, halb leere Milchpackung auf dem Beistelltisch neben dem Sofa. So würde sich der Zielperson beim Aufwachen eine völlig schlüssige Szenerie darbieten.

    Oh Mann, muss ich gestern kaputt gewesen sein. Bin hier eingepennt. Habe es nicht mal geschafft, die angebrochene Packung in den Kühlschrank zurückzustellen.

    Der dritte Mann schließlich hockte sich mit einer Gesäßbacke auf die Sofakante neben die bewusstlose Person. Einem Metallkästchen entnahm er eine Einwegspritze, ein Stück Mull und einen Desinfektionsspray. Damit machte er sich an der linken Armbeuge der Zielperson zu schaffen.

    Siebzehn Minuten nach ihrem Einbruch verließen die drei Besucher die Wohnung wieder. Der gesamte Einsatz hatte weniger Zeit beansprucht, als sie geplant hatten. Nicht dass sie sich hätten beeilen müssen. Das Proxoten-F hatte dem neuronalen Netzwerk im Gehirn der Zielperson so was von den Stecker gezogen.

    Miguel Schlunegger würde frühestens in drei Stunden erwachen.

    1

    Der Mann Gottes fuhr, als wäre der Teufel hinter ihm her.

    War der ja auch.

    Der Mann Gottes war morgens um halb vier, nach der dritten schlaflosen Nacht voller Endzeitgedanken und Panikattacken, aufgestanden, hatte zivile Kleidung angezogen, eine Reisetasche gepackt und sein Laptop sowie einen dicken Packen Papier in einen kleinen Rollkoffer gesteckt. Das Apartmentgebäude an der Casa Santa Rita Numero 66, in dem sich seine Dienstwohnung befand, verließ er durch einen Nebenausgang, vor dem um diese Zeit kein Gardist wachte. Während des kurzen Fußmarschs zum unterirdischen Parkhaus am Ende der Via San Bartolomeo klemmte er sein Rollköfferchen unter den linken Arm, damit die Räder auf dem Kopfsteinpflaster keinen Lärm verursachten. Als ranghoher Geistlicher in seiner Position stand ihm eine Limousine samt Chauffeur zur Verfügung, die er für seine Geschäftsfahrten täglich nutzte. In seiner Freizeit hingegen steuerte er gern auch einmal selbst eines der kleineren, schnittigeren Autos, die zum Fuhrpark gehörten.

    Mit der Schlüsselkarte öffnete er die Lifttür zum Parkhaus und fuhr vier Stockwerke in die Tiefe, wo er sich an einem Bildschirmterminal per Code einen Fiat Abarth buchte. Eine italienische gelbe Rennkugel mit wenig Platz, angenehmen Extras und zu vielen PS. Das Navigationsgerät ließ er ausgeschaltet, den Weg kannte er auswendig. Zweimal im Jahr reiste er von Rom ins Klosterdorf St. Michael in den Schweizer Bergen, im Januar für einen zehntägigen Skiurlaub und dann für drei Wochen Ende Juli, wenn ihn die Hitze in Rom schier umbrachte. Und ans Fegefeuer erinnerte.

    Normalerweise benötigte er für die Strecke achteinhalb Stunden. Jetzt, bei Nacht, wenig Verkehr und zunehmendem Verfolgungswahn, würde er es in sieben schaffen. Oder in noch kürzerer Zeit, denn er fuhr schnell, viel zu schnell, als trieben ihn seine rasenden Gedanken vor sich her. Er musste rasch handeln, musste binnen weniger Tage erschaffen, was er sich ausgedacht hatte. Sein Plan war so genial wie verzweifelt. Aber nur so konnte er sie aufhalten – und seinen eigenen Tod abwenden.

    Kurz vor Parma hielt er an einer Raststätte, tankte Benzin und zwei doppelte Espresso und kaufte eine Sechserpackung Energydrinks, die ihn auf dem letzten Streckenabschnitt vor dem Sekundenschlaf bewahren sollten. Die drei schlaflosen Nächte in Folge machten sich bemerkbar. Ein nadelnder Schmerz im Hinterkopf, grollende Eingeweide und juckende Augen, als würden Sandkörner zwischen Pupillen und Lidern zerrieben. Und er sah alles giftgelb. Ja, die Welt hatte eine giftgelbe Tönung.

    Wahnsinn war giftgelb.

    Einen Moment lang war er versucht, auf der Raststätte ein Nickerchen zu halten, ganz kurz nur, doch Angst und Auftrag trieben ihn weiter. Sein Verschwinden musste bald bemerkt werden. Tauchte er um acht nicht im Büro auf, würde sein Erster Sekretär Ignazio ihn auf dem Festnetz anrufen, feststellen, dass er nicht in der Wohnung war, in keiner Konferenz, in keiner Audienz und auch nicht an sein privates Handy ging. Also würde Ignazio, wie es das Notfallprotokoll verlangte, den internen Servizi Segreti verständigen und der wiederum ein paar wichtige Akteure in hohen Positionen. Und von dort würde die Information bald auch seine Organisation erreichen. Meine eigenen Leute, dachte er und musste gegen seinen Willen grinsen. Dann ginge es schnell. Sie würden die Log-ins seiner Schlüsselkarte auswerten, die Buchung des Fiat entdecken, seine Biografie checken und mit dem Bewegungsmuster seines Normjahrs abgleichen, eins und eins zusammenzählen – und unverzüglich ein Team losschicken. Richtung Schweiz.

    Im Schritttempo passierte er die Grenze bei Chiasso. Der italienische Zöllner stutzte, salutierte und winkte ihn mit feierlicher Geste durch. Dessen Schweizer Kollege auf der anderen Seite des Schlagbaums erstarrte ebenso und betrachtete ehrfürchtig das Nummernschild, das mit den Buchstaben SCV begann. Ein päpstliches Dienstfahrzeug außerhalb von Vatikanstadt sah man nicht alle Tage.

    Kurz vor Mittag erreichte er den Ort St. Michael und das Benediktinerkloster. Es war ein hellblauer Tag. Er inhalierte tief, genoss Würze, Frische, Reinheit. Warum, fragte er sich, riecht Bergluft immer unschuldig?

    Hier war er als Junge elf Jahre zur Schule gegangen und hatte im Internat gewohnt. Seither war er mit Haus und Ordensleuten freundschaftlich verbunden und betrachtete St. Michael als seine zweite Heimat.

    Pater Magnus versah an diesem Tag den Pfortendienst. Als er den unangemeldeten Besucher erblickte, schoss er vom Bürostuhl auf. »Eure Eminenz, niemand hat uns Ihr Kommen angekündigt, sonst hätten wir Vorbereitungen getroffen.«

    »Ein spontaner Besuch, lieber Magnus. Mir war plötzlich danach.« Er versuchte ein Lächeln und hoffte, dass ihm sein Gegenüber nicht anmerkte, wie es in ihm drin aussah. Dass sein Verstand kurz vor der Kernschmelze stand. Und der Teufel hinter ihm her war. Die Teufel.

    Er war ja auch einer von ihnen.

    ***

    »Hallo, Mama, ich bin’s, Violetta.«

    Sie kauerte sich vor den Ohrensessel mit dem roten Samtbezug und umfasste Mutters Hände, die einst zierlich waren und jetzt verdorrt und gefaltet in deren Schoß lagen, als würde sie beten.

    »Was hattest du denn zum Frühstück?«, fragte Violetta Morgenstern, wohl wissend, dass man der Einundneunzigjährigen, die mittlerweile gar vergessen hatte, wie man schluckte, eine Nährlösung zugeführt hatte. »Weißt du noch, wie du mir und Papa früher an Sonntagen deine fluffigen Pancakes gebacken hast? Und wir so viel Ahornsirup darüber gossen, bis du schimpftest, wir würden das Zeug ja ertränken?« Sie strich ihr langes silbernes Haar zurück und lachte auf jene überbordende Art, wie Menschen es tun, denen nicht zum Lachen zumute ist.

    Elisabeth Morgenstern saß da wie eine brüchig gewordene Wachsfigur und schaute mit zugefrorenen Augen weltvergessen ins Nirgendwo.

    »Es ist schön, Mama, dass du da bist.«

    Nichts ist so schwer zu ertragen wie ein geliebter Mensch mit verloschener Persönlichkeit und leer geräumtem Gedächtnis.

    Vierunddreißig Jahre lang hatte Violetta Morgenstern ihre Eltern für tot gehalten, verunglückt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt bei einem Autounfall. Dann – das war erst ein Dreivierteljahr her – hatte sie erfahren, dass ihre Mama und ihr Papa seinerzeit Teil einer Geheimoperation des Schweizer Nachrichtendienstes waren, aus Sicherheitsgründen »sterben« mussten, darum untertauchten und mit neuer Identität versehen weiterlebten. Ohne dass ihre Tochter davon wusste, es hätte sie in Todesgefahr gebracht. Während Josef Morgenstern ein paar Jahre später bei einem Bergunfall tatsächlich ums Leben kam, lebte seine Frau all die Jahre weiter. Ende letzten Sommers traf Violetta ihre Mama zum ersten Mal wieder. Ein pensionierter Bundesagent, damals für die Operation verantwortlich, hatte Mutter und Tochter zusammengeführt. Hier, im Haus Flurpark, einem Pflegeheim für Menschen mit schwerer Demenz.

    Vierunddreißig Jahre … Violetta hatte ihrer Mama so viel zu erzählen, hatte so viele Fragen. Es würde keine Antworten mehr geben. Was zählte, war nur noch der Moment, das unmittelbare Hier und Jetzt, und Violetta war klar, dass es auch sehr bald kein Morgen mehr geben würde.

    Sie sah ihre Mama jeden zweiten Tag, meist schaute sie in der Frühe vorbei, auf ihrem Weg zur Arbeit. Die Besuche stimmten sie traurig und glücklich zugleich. Sie war nun wenigstens nicht mehr die einzige Morgenstern auf dieser einsamen Welt.

    »Guten Morgen, Violetta. Der Frühling kommt. Schönes Kleid heute, gefällt mir. Wie fandest du den ›Tatort‹ gestern im Fernsehen? Deine Mutter hatte eine ruhige Nacht.« Violetta kannte niemanden, der Sätze und Themen so naht- und atemlos aneinanderreihen konnte wie Erika Pfrunder. Sie war die für Mutter Morgenstern hauptverantwortliche Schwester. Streng genommen stand »Pflegefachfrau« in ihrem Arbeitsvertrag, im Haus Flurpark war jedoch der gute alte Titel »Schwester« noch immer beliebt. Womöglich weil das familiärer klang.

    Schwester Erika tunkte einen kleinen Frotteelappen in eine Tasse und betupfte damit die Lippen der Patientin. »Eisenkrauttee. Ich habe herausgefunden, dass deine Mama den besonders mag.«

    »Herausgefunden? Wie denn? Ich meine, sie zeigt doch überhaupt keine Reaktion.«

    »Aber hallo, so was spürt man.« Schwester Erika hatte oft diesen halb belustigten, halb gespielt entrüsteten Blick drauf. Ihre Art, mit der bitteren Situation der Patienten umzugehen.

    Violetta war keine, die vorschnell Bekanntschaft schloss, Freundschaft schon gar nicht. Mit Schwester Erika hatte sie sich dagegen von Anfang an gut verstanden, was primär daran lag, dass niemand ihrer Mama näherstand als die eigentlich wildfremde Frau.

    Erika Pfrunder war Anfang dreißig, nicht besonders groß, füllige Figur, blasser Hautton, das karamellblonde Haar keck kurz geschnitten. Und sie hatte das teigige Gesicht eines verwunderten Kindes. Mit ihrem Aussehen und der pludrig geschnittenen Dienstkleidung in Pastellpistazie erinnerte sie Violetta ein wenig an eines dieser »Pac Man«-Geistchen aus dem Videospiel der 1980er-Jahre.

    »Na, Erika, wie ist das Wetter heute im Staate Illinois?«

    »Bewölkt bei fünfzehn Grad.«

    »Missouri?«

    »Sonnige einundzwanzig Grad.«

    »Und wo ist es am schönsten?«

    »In Arizona, ganz klar. Herrliche dreißig Grad.«

    »Du schaust dir tatsächlich jeden Morgen Route und Wetter im Internet an?«

    »Hab neuerdings eine amerikanische Meteo-App auf meinem Handy. Träumen darf man ja.«

    Erika und ihr Mann besaßen ein schweres Motorrad und sparten seit Jahren darauf, einmal mit einer Harley-Davidson die Route 66 von der US-Ostküste bis zur Westküste zu fahren. Das Wetterspielchen zwischen Violetta und ihr war mittlerweile ein Running Gag.

    »Wie viel fehlt noch?« Violetta rieb ihren Daumen an Zeige- und Mittelfingerspitzen.

    Erika verdrehte die Augen. »Frag nicht. Ist ein schweineteures Abenteuer. Wenn es denn überhaupt mal so weit ist, werden unsere flatternden Haare im Fahrtwind bereits sehr, sehr grau sein. Apropos …« Sie zückte einen Kamm aus ihrer Blusentasche und frisierte Elisabeths Haar. »Oder möchtest du das übernehmen?«

    »Würde ich gern, Erika, aber ich muss zur Arbeit. Viel zu tun heute.«

    »Ja, ihr Versicherungsleute habt es auch nicht leicht. Immer noch in derselben Abteilung? Lebensversicherungen, oder?«

    »Hm, so ähnlich. Also, ich sollte dann mal.«

    »Kein Problem, geh nur. Wir beide schaffen das auch allein, ist doch so, Frau Morgenstern?«

    Die alte Frau tat nach wie vor keinen Mucks, ja sie zwinkerte nicht einmal. Erika fuhr mit dem Kamm behutsam durch deren dünnes, langes Haar, lupfte es an den Schläfen und ließ es dann fallen, als wär’s ein Fallschirm aus Tüll. Dabei rutschte der rechte Ärmel ihrer Arbeitsbluse zurück und Violetta sah für einen Moment Erikas entblößten Unterarm. Ihre sonst so blasse Haut war über und über mit faustgroßen Flecken bedeckt. Hämatome. In den schönsten Regenbogenfarben.

    ***

    Violetta fluchte. Deftig, aber lautlos. Sie kam nicht rein.

    Bislang hatte man eine Schlüsselkarte und einen siebenstelligen Zugangscode benötigt, um in das Hauptquartier von Tell zu gelangen. Neuerdings verlangte das Schließsystem am Eingang zusätzlich, dass sich die Mitarbeiter via App auf ihren Handys identifizierten. Dauerte alles doppelt so lange und war zehnmal so kompliziert.

    Nach dem vierten Anlauf und ebenso vielen Fluchtiraden öffnete sich die Tür endlich. Violetta murrte und trat ein.

    In dem Bürogebäude mit sechsunddreißig Stockwerken belegte Tell die gesamte zweiundzwanzigste Etage. Über vierzig Firmen und Dienstleister hatten im Hochhaus ihre Büros. Vorwiegend Anwälte, Zahnärzte und Finanzmenschen, aber auch der Hauptsitz einer Sterbebegleitungsorganisation war im selben Gebäude und im Erdgeschoss gab es eine Kindertagesstätte. Tell trat nach außen hin offiziell als Tell Versicherungsgesellschaft auf. In Wirklichkeit handelte es sich hierbei um das geheime Schweizer Killerministerium. Staatlich verordnete Tötung, behördlich autorisierte Termination von Schädlingen – das war Tells Geschäft.

    Seit gut drei Jahren war Violetta Morgenstern im Ministerium als Vollstreckerin angestellt. Erst halbtags, dann Vollzeit. Sie mochte ihre Arbeit, nein, sie liebte sie. Schon vor Jahren, damals noch als frühpensionierte Lehrerin und blutiger Laie, hatte sie ihren Hang zur Selbstjustiz ausgelebt und üble Subjekte nach ihrem Gutdünken und Gerechtigkeitssinn gerichtet. Mehrere hatte sie gar um die Ecke gebracht. Von Tell dann mit neunundfünfzig Jahren als Auftragsmörderin angeheuert und professionell ausgebildet, hatte sie in kurzer Zeit großes Talent gezeigt und viel Fleiß bewiesen. Ihre Eliminierungsquote lag über dem Durchschnitt und sie hatte im Betrieb den Ruf, blitzschnell improvisieren zu können und besonders kreative Killereien auszuhecken.

    Violetta durchquerte das Großraumbüro und nickte da und dort Kollegen zu. Seit Kurzem teilten sich jeweils zwei oder vier Tell-Leute, je nach Rang und Titel, eine Arbeitsbox mit Glastrennwänden. »Maximale Transparenz fördert die interne Kommunikation« war die neue Maxime bei Tell. Musste sich auch innenarchitektonisch manifestieren. Vision der Geschäftsleitung. Cheffurzidee, nannte es Violetta.

    »Frau Morgenstern und die Verspätung. Wo warst du so lange? Wir haben hier zu tun.«

    Miguel Schlunegger und sie teilten sich ein Zweierbüro, Tisch an Tisch. Violetta ließ die Glastür los, die sich von selbst zuzog, ein Geräusch, als söge jemand geräuschvoll Luft ein. Miguel warf ihr einen tadelnden Blick zu, goss eine Tasse Kaffee ein und schob sie ihr über den Bürotisch zu. Heiß, schwarz, stark. Wie sie ihn beide am liebsten tranken. Literweise. Nervenberuhigend. Herzschlagfördernd. Hirnanregend.

    »Entschuldige, Miguel. Meine Mutter …«

    »Meine Güte, seit du über Nacht unversehens etwas Familie bekommen hast, vernachlässigst du deine Arbeit.«

    »Stimmt doch gar nicht.« Sie blies in den Kaffee und setzte die Oberlippe vorsichtig an den Tassenrand.

    »Von der Voll- zur Halbwaisen. Familienzuwachs rückwirkend, über Nacht wieder Tochter geworden. Gibt’s auch nicht alle Tage.«

    »Höre ich da den Neid eines Findelkinds heraus?«

    »Hey, ich habe Eltern.«

    »Adoptiveltern.«

    »Aber die sind gültig, vollständig da, zwei Stück. Und am Leben. Während bei dir …«

    »Miguel, jetzt wird’s blöd. Und verletzend. Lass uns aufhören.«

    »So empfindlich heute?«

    Sie starrte ihn an und überlegte, ob sie angreifen oder aufgeben sollte. Schließlich huschte ein Lächeln der unartigen Art über ihr Gesicht. »Sag mal, gibt es Neuigkeiten von Felicitas Saminada?«

    Miguel schaute, als hätte sie ihn gewürgt.

    Es entstand eine bleischwere Pause, in der sich jeder über die Maßen für seine halb leere Tasse interessierte und dem Kaffee beim Kaltwerden zuschaute.

    »Ja, ähm, nun …« Violetta fischte aus der Handtasche ihre Lesebrille, ein edles, handgefertigtes Teil aus Pflaumenholz, und setzte sie auf.

    »Tja, also dann …« Miguel trank den letzten Schluck Kaffee, schüttelte sich und zog ein Hühnergesicht, ehe er mit einem Daumenschlag auf die Tastatur seinen Computer aus dem Ruhemodus aufweckte.

    Sie steckten mitten in einem Auftrag. Und heute war Finale.

    Diego-Hugo Zimek sollte trotz seiner erst neunundzwanzig Jahre bereits wieder von dieser Welt abtreten. Gewaltsam auf natürliche Weise. Tod ohne nachweisbare Fremdeinwirkung war die Spezialität von Tell. Team Morgenstern und Schlunegger hatten während ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit schon einige ungewöhnliche Dossiers gewälzt, doch das hier war besonders delikat.

    Diego-Hugo Zimek, in der Schweiz geboren, die Mutter Spanierin, der Vater Österreicher – was die sperrige Vornamenkombination ihres Sohns erklärte, aber nicht verzieh –, war, was man ein Wunderkind nannte. Bereits mit dreizehn Jahren besuchte er an der ETH Zürich Vorlesungen in Mathematik, mit sechzehn erhielt Zimek ein Stipendium am MIT in Massachusetts, wo er nur anderthalb Jahre später seinen Doktor machte mit der Dissertation über »Transneutronisch kalibrierte Prozesse in der Authentifizierungstopologie eines Beyond-Edge2-Zielsystems«. Nicht einmal seine Professoren verstanden so ganz genau, was ihr Student da eigentlich trieb und schrieb. Nach Praktika in drei Weltmetropolen und einem elfmonatigen Abstecher nach Sankt Petersburg, wo er mal einfach eben so das Konzertdiplom als Pianist erlangte – »weil ich es kann und weil ich Lust dazu hatte«, wie er der Kulturjournalistin von »Russian Week« diktierte –, kam Zimek zurück in die Schweiz und heuerte bei einem bislang unbekannten Fintech-Start-up an, das eine Kryptolizenz besaß und den schnoddrigen Firmennamen »So what!«. Anderthalb Jahre später ging die Firma an die Börse, ihr Kurs durch die Decke und bescherte dem jungen Genius einen unanständig zweistelligen Millionenbonus.

    Doch wie so viele Menschen, denen im Leben alles mühelos gelingt, hatte Diego-Hugo Zimek nie Demut erfahren und war unfähig und auch nicht willens, anderen Hilfe anzubieten. Er wusste, dass er ein Genie war, und benahm sich darum wie ein Gott. In seiner Firma galt er als narzisstischer Autist. Er hatte keine Kollegen, keine Freunde und keinerlei hetero-, homo- oder bisexuelle Interessen, geschweige denn Kontakte. Er genügte sich selbst vollkommen. Diego-Hugo Zimek war ein sagenhaft kluger Kopf, ein arroganter Schöngeist und ein asozialer Mistkerl.

    Und von Geburt an blind.

    ***

    Nach Zuteilung des Killauftrags vor zwei Wochen und einer ersten Durchsicht des Dossiers hatte sich Miguel unerwartet kritisch gezeigt. »Unsere Zielperson ist ja blind.«

    »Ja und? Er wird dem Tod trotzdem ins Auge blicken.«

    »Nein, jetzt mal ohne dumme Sprüche, Morgenstern. Der Mann ist behindert.«

    »Und darf deswegen nicht eliminiert werden, oder was?«

    »Behinderte sind besonders verletzlich, können sich nicht wehren und genießen unseren speziellen Schutz.«

    Violetta war irritiert, dass ihr sonst so abgebrühter Partner emotional vibrierte. Das war nicht mehr der Ex-Irak-Söldner von einst. Seit der Herzenssache mit Felicitas Saminada letztes Jahr reagierte Miguel bei manchen Themen dünnhäutiger.

    »Meine Güte, du salbaderst daher wie meine Kollegen früher im Lehrerzimmer. Miguel! Hallo! Auch Behinderte sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft und haben ein Anrecht darauf, böse zu sein und von uns umgebracht zu werden.«

    »Ich finde es trotzdem seltsam.«

    »Was du da machst, ist positiver Rassismus.«

    »Positiver was?«

    »Rassismus. Indem du einem Blinden das Recht aberkennst, genauso umgebracht zu werden wie ein Sehender, grenzt du ihn aus. Das ist Diskriminierung. Find ich jetzt nicht besonders schön von dir.« Violetta legte bewusst etwas zu viel Sarkasmus in ihre Stimme.

    Miguel schaute sie sehr lange sehr seltsam an und schwieg danach noch länger.

    Wie meistens bei Tell-Auftragsmorden kannten die Ausführenden den Grund der Tötung nicht. Irgendwo sehr weit oben in Regierungskreisen war man zu dem Schluss gekommen, dass Diego-Hugo Zimek für das Land so gefährlich oder ein derart großes Sicherheitsrisiko war, dass man ihn wegspedieren musste.

    Für einen erst Neunundzwanzigjährigen eine reife Leistung.

    Observierungsspezialisten von Tell hatten Zimek zwei Wochen lang rund um die Uhr beschattet. Dabei war schnell klar geworden, dass der Mann nicht so leicht umzubringen sein würde. Violetta und Miguel waren anfangs noch davon ausgegangen, dass Zimek aufgrund seiner Blindheit ein einfaches Ziel abgeben würde.

    »Er wird blind ins Verderben rennen«, frotzelte Violetta.

    »Wobei heutzutage auch die Sehenden nicht mehr vorausschauen«, fügte Miguel an. »Tell-Team vier hat vor zwei Monaten einen Manager auf denkbar einfachste Art eliminiert. Der Kerl starrte nonstop auf sein Handy und nahm seine Umgebung gar nicht mehr wahr. Unser Team hat ihm dann per Hack im Wartungssystem seines Firmengebäudes bloß die Lifttür geöffnet – obwohl die Kabine noch gar nicht da war. In diesem Fall nutzte dem Manager auch sein vertraglich zugesicherter goldener Fallschirm nichts mehr.«

    Bei Diego-Hugo Zimek war die Sache verzwickter. Das Problem war, dass man nicht an ihn herankam. Seine Firma war besser gesichert als die Nationalbank, der Arbeitsplatz als Tatort schied daher aus. Aber auch privat schien Zimek unantastbar. Aufgrund der Behinderung und seines Gottheitsstatus in der Firma stellte man ihm eine Limousine mit Chauffeur zur Verfügung. Keine Möglichkeit also, ihn per Verkehrsunfall auszuschalten, ganz abgesehen davon, dass es gegen Tells Berufsethos verstieß, jedwede Kollateralschäden, wie etwa den Tod von Zimeks Chauffeur, in Kauf zu nehmen.

    Blieb also nur sein Privatleben. Das dem eines freiwilligen Häftlings glich. Feierabende und Wochenenden verbrachte Zimek zu Hause, das er nie auch nur für eine Minute verließ. Er ging niemals spazieren oder einkaufen, machte keine Besuche und verabscheute Sport. Er blieb in seinem Bunker, wie Violetta Zimeks Eigenheim nannte. Dank seines Reichtums hatte er sich ein modernes Terrassenhaus kaufen können, in Hanglage mit Sicht auf Alpen und See. Alles mit Beton, Stahl und Vierfachsicherheitsglas gebaut und von Securityanlagen der neuesten Generation gesichert. Null Chance, an Zimek heranzukommen.

    »Nicht einmal einen Blindenhund besitzt der Kerl«, jammerte Miguel. »Sonst könnten wir dem Köter einen Blaspfeil mit Hyänenagressiva in den Hintern jagen, damit er sein Herrchen zerfleischt.«

    Tatsächlich verzichtete Zimek auf sämtliche blindentypischen Krücken. Kein Hund, kein weißer Stock, er hatte auch nie Brailleschrift gelernt. Seinen Alltag bewältigte er mithilfe eines speziell von ihm modifizierten Smartphones mit ebenfalls von ihm programmierter Software. Das Wunderhandy leitete ihn durchs Leben, war ihm Sekretär, Navigator, Coach und Butler. Die Erfindung wäre auch für alle anderen Blinden dieser Welt ein Segen gewesen, doch einer wie Diego-Hugo Zimek interessierte sich nicht für andere.

    Wie konnte man den Kerl eliminieren?

    Die einzige Chance, darin waren sich Violetta und Miguel einig, bot sich in Zimeks

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