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Retos Verdächtigung
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eBook297 Seiten3 Stunden

Retos Verdächtigung

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Über dieses E-Book

Reto, Schweizer Schriftsteller, pflegt in Venedig seine Schreibblockade. Eines Abends geschieht etwas, das sein Leben auf den Kopf stellt. Killer sind ihm auf den Fersen, und Reto nimmt den Kampf auf. Seine Recherchen führen ihn nach Afrika und in die Schweiz, wo er der großangelegten kriminellen Unternehmung eines Pharmakonzerns auf die Schliche kommt. Seine Gegenspieler tun alles, um ihn aufzuhalten. Reto steckt in der Klemme. Kann ein Einzelner der geballten Macht eines Konzerns etwas entgegenhalten?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Feb. 2015
ISBN9783765021190
Retos Verdächtigung

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    Buchvorschau

    Retos Verdächtigung - Dieter Fasel

    Manuela.

    Prolog

    Als sie das Paket in hohem Bogen auf den Holzstoß schleuderten, öffnete sich das Leinentuch und entblößte den rechten Unterschenkel und einen Teil der rechten Hand eines Menschen. Der Wurf landete hart, einige Scheite fielen herab. Das Tuch klaffte noch mehr auf und gab den Blick auf einen vielleicht fünfjährigen Jungen frei, der nur mit einer zu weiten Unterhose bekleidet war, sein Kopf erschien im Kontrast zum mageren Körper übergroß.

    Vom Rücksitz eines etwas entfernt geparkten, sandfarbenen ISUZU Trooper aus, dessen Fenster geschlossen waren, beobachtete ein Weißer die Szene. Sein feistes Gesicht war unbewegt. Die Klimaanlage des Geländewagens brummte.

    Auf einer Schirmakazie krächzte ein Nashornvogel, im Schatten des Baumes hechelte ein räudiger Hund und beobachtete gelangweilt zwei Ziegen, die am Dornengestrüpp vorbei matt auf die Rundhütten zu trotteten.

    Ein junger Mann hielt eine Fackel unter den Holzhaufen, er brannte sofort lichterloh. Als sich das Altöl und die Autoreifen entzündeten, schillerten die Flammen in allen Farben und rußten stark. Die Gerüche von brennendem Holz, Öl, Gummi und Fleisch vermischten sich zu einem infernalischen Gestank. Dürre Grashalme rund um den Feuerherd krümmten sich kurz in der Hitze und fielen verglüht in sich zusammen. Rasch vergrößerte sich der graue Kreis aus Asche um den Scheiterhaufen. Dichter, tiefschwarzer Rauch verbarg schließlich den Körper des Kindes und verdunkelte das gleißende Sonnenlicht.

    Das Feuer spiegelte sich in der Scheinwerferbatterie des bulligen Geländewagens. Der laufende Motor ließ den mit toten Insekten verkrusteten Kuhfänger vibrieren.

    Außer dem Mann und der schmalen Frau, die die Bestattung vollzogen, waren keine Trauergäste da. Reglos und dumpf starrten die beiden in das Feuer, als der Oberkörper des Kindes ruckartig aus dem Rauch auftauchte und sich aufrichtete. Die schwarze Haut am rechten Unterarm des Jungen platzte etwa zehn Zentimeter auf. Es trat kein Blut aus, Rauchwolken verbargen die Kinderleiche.

    Auf ein Kommando des fetten Weißen hin fuhr sein Fahrer langsam an. Das Paar, es mochten die Eltern des Kindes sein, blickten dem Trooper nach, müde hob der Mann die Hand zum Gruß.

    Giudecca bei Venedig, 29. November 2011, spätabends

    „Signore, Sie haben etwas verloren!"

    Reto schreckte auf und fasste automatisch in die Tasche seines Arbeitskittels. Blinder Alarm, sie war leer, seine wenigen Utensilien, das Taschenmesser, die Streichhölzer, eine halb volle Packung Parisienne und das telefonino lagen vor ihm, er vermisste nichts. Sein Stammplatz in der Rokka-Bar lag so, dass er alles im Blick hatte. Von seinem Tischchen in der Ecke neben dem Eingang übersah er den Barraum vollständig und konnte jeden kontrollieren, der aus und ein ging. Es war schließlich sein Job als Krimiautor, seine Umgebung zu beobachten.

    Den Typen, der ihn jetzt ansprach, hatte er glatt übersehen.

    Wie jeden Abend saß er in der Rokka und sammelte Eindrücke für sein nächstes Projekt. Beim ersten Glas. Beim zweiten Glas überlegte er, wie schwer das täglich sich wiederholende Geschehen auf der ruhigen Insel in eine spannende Story zu verwandeln war. Ab dem dritten Rotwein zwirbelte er an seinem grauen Pferdeschwanz herum und studierte die Gazzetta dello Sport.

    Heute war er schon beim vierten angelangt. ‚Dein Burnout bringt mich noch um‘, maulte sein Verleger mindestens einmal die Woche am Telefon. Widerwillig musste Reto ihm Recht geben, er steckte in einer hoffnungslosen Sackgasse, ihm fehlten der Schwung und die Ideen für einen neuen Krimi.

    „Nein, das gehört mir nicht!"

    Der Fremde hielt ein blau-weiß gemustertes Päckchen in der Hand, etwas größer als eine Zigarettenpackung.

    „Doch, Signore, garantiert, ich hab genau gesehen, wie es Ihnen aus der Tasche fiel, das Ding ist bestimmt Ihres, hier nehmen Sie doch, es ist wichtig."

    Der Italiener, smarter Typ Latin Lover, im navyblauen Sommeranzug mit weißem, offenem Hemd, legte das Ding neben Retos Weinglas. Hat der Kerl mit seinem Aufzug die Jahreszeit verwechselt, man schrieb November, draußen war es Nacht, fragte sich Reto. Der Mann bewegte sich fahrig, er sah abwechselnd zum Hintereingang und zur vorderen Tür der Bar, sein Gesicht glänzte schweißbedeckt. Er sprach schnell und abgehackt. Seinem Dialekt nach stammte er nicht von hier, nicht aus Venedig, eher aus Mittelitalien, Umbrien oder so.

    Neugierig verfolgten die anderen Gäste die Szene. Es war still geworden im Raum, alle wollten das Gespräch mithören und sahen verstohlen zu. Der Fernseher, knapp unter der Decke an die Rückwand des Raumes montiert, flimmerte die bunten Bilder eines Films, ohne Ton. Sogar Mick, der Hund der Bedienung Angelica, blinzelte verschlafen herüber. Sie selbst trocknete hinter der Theke Gläser ab und tat so, als sehe und höre sie nichts.

    Was wollte der Latin Lover von ihm, überlegte Reto. Wie konnte der behaupten, dass das, was Reto angeblich verloren hatte, wichtig war? Kam er vom Fernsehen, etwa von ,Il commissario Montalbano‘, einem seit langem populären Format in Italien? Sein Kleidungsstil passte dazu. Wurde er verfolgt, gejagt, hatte er etwas ausgefressen? Oder wollte er ihn in etwas hineinziehen, in etwas Dubioses?

    Reto beschloss, dem Kerl von vorne herein seinen Standpunkt klar zu machen. Er richtete sich zu voller Größe auf, strich mit der Hand über seinen Schnurrbart und fixierte das Päckchen misstrauisch. Er schob seinen Hut etwas in den Nacken. Reto trug stets einen Hut, auch in der Bar. Kein Bauer kann ohne Kopfbedeckung sein und seit er hier in Venedig lebte, hatte er sein Appenzeller Käppi gegen einen breitrandigen, beigefarbenen Borsalino getauscht, der ihn noch wuchtiger erscheinen ließ, als er es mit seinen einsfünfundneunzig ohnehin war.

    „Signore, ich bitte Sie, kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Scheiß, ich habe nichts verloren", schnappte er unfreundlich.

    Er führte ein Selbstgespräch. Der Italiener rannte durch die vordere Eingangstür hinaus in die Nacht, Reto sah ihn nur noch von hinten, er trug weiße Socken.

    Ein Spinner, dachte Reto.

    Als er gerade das Päckchen inspizierten wollte, wurde die Tür des Hintereingangs auf der anderen Seite des Raums, Reto gegenüber, aufgerissen. Zwei Kerle, ein langer Dünner und ein kleiner Dicker stürzten herein. Was wollen die zwei Witzfiguren, überlegte Reto. Sie trugen Daunenwesten, Adidas Trainingshosen in unterschiedlich dunklen Farben und Sportschuhe, die gängige Uniform von Sportlern und Rentnern in Italien. Weder Sportler noch Rentner waren das, das sah Reto auf den ersten Blick, sie waren zwei Proleten, nein, eher zwei Gangster. Zwei Gangster im Miniformat. Die beiden verbreiteten sofort eine feindliche, spannungsgeladene Atmosphäre im Raum. Rücksichtslos drängten sie sich durch die Gäste, einem alten Mann, den der Dünne anrempelte, entglitt das Glas und zerschellte auf dem Boden. Eine kleine Lache Rotwein breitete sich auf dem mit Sägemehl bestreuten, roten Ziegelboden aus und floss unter die Theke.

    Mick war nun endgültig aufgewacht. Freundlich mit dem Schwanz wedelnd näherte er sich dem Dicken. Reto mochte den schwarzbraunen Mick mit seinen honiggelben Augen und seinem grauen Bart. Das Tier nahm sich immer die Zeit für eine freundliche Begrüßung, genauso gut hätte er sein Leben lethargisch in dem Körbchen hinter dem Tresen verschlafen können. Der Dicke holte aus und verpasste ihm einen Fußtritt, dass Mick, vor Schmerz aufjaulend, in hohem Bogen gegen die Front der Theke flog, dann reglos am Boden liegenblieb und seinen hellen Bauch zeigte. Angelica wollte losschreien, aber ein drohender Blick des Dünnen ließ sie verstummen.

    Die Eindringlinge musterten aufmerksam jeden einzelnen Gast der Reihe nach, sie suchten jemanden.

    „War einer in einem blauen Anzug hier?, fragten sie, „redet oder wir machen euch ein Problem.

    Alle Befragten verleugneten den Latin Lover, stellten sich ahnungslos. Reto schrieb das einem gesunden Empfinden für Gefahr zu. Oder Angst, das lief auf dasselbe hinaus. Dank seinem Stammplatz in der Ecke kam Reto als letzter an der Reihe. Als sie sich näherten, schwitzte er unter den Achseln und zündete sich eine Parisienne an, das Rauchverbotkam ihm nicht in den Sinn. Niemand außer den beiden Proleten redete ein Wort, nur das Rumpeln des Kühlschranks unterbrach zweimal die ungewöhnliche Stille in der Bar. Reto zog an seiner Zigarette und bedeckte das Päckchen des Fremden scheinbar gedankenlos mit seiner rosafarbenen Gazzetta dello Sport.

    Vor dem Besuch des Latin Lover hatte er die irischen Pferdewetten studiert. Sein Favorit auf dem race course in Sligo war gestürzt, der Einsatz war weg. Nicht weiter tragisch, dachte er, ich setze ja immer nur kleine Beträge. Und auf Außenseiter. Zwar war die Chance, dass ein Außenseiter siegte, geringer, dafür war die Quote höher, wenn es einmal klappte. Dass sein Buchmacher in Dublin ihn vermutlich belächelte, machte ihm nichts aus. Er legte die Zündhölzer, seine Zigaretten und das telefonino auf die Zeitung. Jetzt standen die beiden vor ihm. Der Dicke blies ihm seinen nach Knoblauch stinkenden Atem ins Gesicht und sah ihn einen Moment voll an. Einen Augenblick nur, dann wandte er sich ab, Reto ordnete ihn zu den Menschen, deren Verschlagenheit ihnen nicht erlaubte, anderen in die Augen zu sehen. Sein Blick war grau und leer. Er hatte das, was Reto unter einer schüüs Goschä¹ verstand, einer riesigen schüüs Goschä zum pausenlosen Reinhauen. Reto juckte es in den Fäusten sofort zuzuschlagen, nur das unter der Zeitung flüchtig versteckte Päckchen hielt ihn davon ab.

    Reto war klar, dass sie entweder den Latin Lover oder das Päckchen unter seiner Gazzetta oder beides suchten.

    Der Dünne hielt sich beobachtend im Hintergrund, beide Hände steckten in den Taschen seiner Weste.

    „Und?" fragte ihn der Dicke frech.

    Reto antwortete nicht, er zuckte nur mit den Schultern und legte seine Hand auf die Zeitung.

    Die beiden gaben die Suche auf. Großspurig wie sie gekommen waren, hasteten sie durch die vordere Eingangstür, die kurz zuvor der Fremde benutzt hatte, hinaus auf das Fondamento. Scheppernd fiel die Tür aus grünem, mit Draht verstärktem, undurchsichtigem Panzerglas zu. Die Spannung der Gäste wich Diskussionen über die gerade erlebte Bedrohung. Planlos redeten alle durcheinander. Angelica kniete neben ihrem Hund auf dem Boden und weinte.

    Reto witterte Ärger. Ärger wie damals, im März vor ein paar Jahren, als sich der schwere LKW seinem Hof näherte. Wie ihn die Kerle in die Schlafkammer einsperrten, in den Stall eindrangen und ihm sein Vieh stahlen. Damals fühlte er sich wehrlos und gedemütigt, heute nicht. Heute griff er an.

    Er sprang auf, drückte den Hut in die Stirn, steckte schnell das Päckchen in die Tasche seiner Cordhose, packte eine Weinflasche von der Theke am Hals, mit ihr konnte er gut zuschlagen, und war mit einem Satz bei der Tür. Draußen herrschte dichter Nebel, es war stockdunkel, Nieselregen schlug ihm ins Gesicht, er sah die beiden nicht. Sie hatten einen kleinen Vorsprung. Er versuchte, ihre Schritte zu hören, aber das schmatzende Geräusch der Wellen an der Kaimauer übertönte jedes andere. Aufs Geratewohl rannte er in Richtung Redentore. Nichts. Aus einem geöffneten Fenster erklang laute Musik. Strawinsky, Le Sacre du Printemps, das Frühlingsopfer. Da verwechselt wohl einer die Jahreszeiten, schoss es ihm durch den Kopf. Nach fünfzig Metern kehrte er um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Nichts. Reto drückte sich in die Nische des Eingangs zur Elektrohandlung Montin, er hoffte auf den Zufall, vielleicht kamen die Proleten zurück.

    Vergeblich.

    Die beiden waren vom berüchtigten venezianischen Nebel verschluckt. Er hoffte, sich die Typen womöglich morgen zu schnappen, ein Reto Caminada duldet derart unverschämte Bedrohungen nicht, sagte er sich. Sie suchten etwas und hatten es in der Rokka-Bar nicht gefunden. Vielleicht tauchten sie ja morgen wieder auf und suchten weiter. Schließlich war die Insel Giudecca klein und überschaubar. Das geheimnisvolle Päckchen, dessentwegen er nicht sofort zugeschlagen hatte, steckte jedenfalls sicher in seiner Hosentasche.

    Reto ging zur Bar zurück und holte Nachschub an der Theke. Angelica bettete ihren schwarz-braunen Liebling auf sein schmutziges Kissen neben das Spülbecken, sie weinte immer noch. Der Hund leckte seine Pfote und machte runde Augen, Reto sah ihm an, dass er die Mitleiderheischungsmasche perfekt beherrschte.

    Er pflegte gute Beziehungen zu allen Hunden, er unterhielt sich mit ihnen, immer auf schweizerisch. Hier, auf Giudecca, verstanden sie diese Sprache ebenso wie italienisch und verfolgten seine Reden aufmerksam. Hunde verstehen jede Sprache, das wusste er schon als Kind, der Ton macht die Musik.

    „Macht zwölfneunzig, alles zusammen."

    „Aufs conto, wie immer."

    Im Flaschenregal hinter Angelica stand ein mit rotem Filzstift handgeschriebenes Schildchen: Kein Kredit.

    Mit ihren verheulten Augen sah sie recht attraktiv aus, warum ist eigentlich nichts gelaufen mit ihr, schoss ihm durch den Kopf. Sie war drall, trug immer verlockend kurze Röcke, sie konnte sich das leisten, wirklich, und hatte eine Stimme, herb wie der Rauch von Kastanienholz. Er hatte sich nicht um sie bemüht, hatte anderen den Vortritt gelassen. Unmengen Rotwein in sich hinein zu schütten und den einsamen Wolf zu spielen war bequemer, erinnerte er sich.

    „Nimm‘s nicht so schwer, Angelica, der Kleine wird schon wieder", versuchte er, sie zu trösten. Sie lächelte ihn dankbar an und sagte mit ihrer aufreizenden Kastanienholzstimme:

    „Si, er muss unbedingt wieder werden, er ist doch mein Schatz. Danke, Reto."

    Sie sah mit dunklen Augen zu ihm auf.

    Er setzte sich mit dem neuen Glas Rotwein wieder an seinen Tisch, nahm das Päckchen aus der Tasche und betrachtete es von allen Seiten. Das typische weiß-blaue Design zeigte an, dass es sich um das Präparat eines bekannten schweizer Pharmaunternehmens handelte, die Beschriftung war italienisch. In großen Buchstaben stand „Sustranob drauf und darunter, kleiner, „BatlinPharma Italia s.r.l, Modena. Weshalb drängt mir ein Unbekannter ein Medikament auf, fragte er sich. Ein Unbekannter, der verfolgt wird?

    Die Rokka-Bar lag unmittelbar am breiten Canal de la Giudecca, der den Inselhaufen der Stadt Venedig von der südlich vorgelagerten Insel Giudecca trennte. Das Leben verlief beschaulich auf der kleinen Insel. Wie in Venedig verkehrte auf der kilometerlangen und im Durchschnitt nur hundert Meter schmalen Insel kein Auto, man wickelte den Verkehr zu Fuß oder per Schiff ab, schwere Güter transportierte man mit zweirädrigen Handkarren.

    Die Rokka war eine einfache Bar für einfache Leute. Jeden Abend fand sich die Stammbesatzung zum Aperitif ein, Reto gehörte dazu, ebenso Bernardo, ein ungehobelter Trunkenbold und Taugenichts, den niemand mochte und der jeden um Wein und Zigaretten anschnorrte.

    Genau dieser Bernardo tauchte jetzt mit großer Verspätung auf, es war schon bald Mitternacht, setzte sich an Retos Tisch und linste in die Gazzetta, obwohl er nicht lesen konnte.

    „Ciao Bernardo, wie geht’s?"

    „Ciao Sch‘guet" begrüßte ihn Bernardo. Sch‘guet war sein Spitzname auf der Insel, weil er oft die von seinem Dialekt gefärbte Kurzform von ›es ist gut‹ gebrauchte, wenn andere Leute ›ok‹, ›voll krass‹ oder ›geil‹ sagen würden. Sch’guet passte zu der Geruhsamkeit, die Reto ausstrahlte. Seit gut einem halben Jahr verbanden die Menschen auf Giudecca die auffallende Erscheinung des großen Ausländers mit dem Borsalino, dem grauen Pferdeschwanz und den dunklen Augen mit Sch‘guet.

    „Mit ’nem Schlückchen geht’s mir besser, ich verstecke nichts."

    Hatte der Idiot etwas von dem Päckchen mitbekommen, oder war das nur sein übliches Gebrabbel?

    „Hast du schon gehört, die Gabriella soll schwanger sein. Niemand weiß von wem. Ich glaube, die vögelt ihren Chef." Bernardo verbreitete bösartige Gerüchte bevor sie entstanden, meistens erfand er sie selbst. Gabriella? Gabriella trank jeden Morgen einen Espresso in der Rokka, während sie auf das Vaporetto nach Venedig wartete und abends, wenn sie von der Arbeit zurückkehrte, einen kleinen Roten. Eine stille, unscheinbare Frau mittleren Alters ohne Kontakte, die stets Röcke trug, die ihr gut über das Knie reichten. Das Auffälligste an ihr war, dass sie ihr Haar zu einem altmodischen Dutt geschlungen hatte. Schwer vorstellbar, dass sie einen Freund hatte, aber man weiß ja nie, dachte Reto.

    „Angelica, einen Omero, bitte!"

    Bernardo entblößte sein schlechtes Gebiss und grinste glücklich. Reto schnippte sich eine Parisienne aus der Packung.

    „Ich auch? Du weißt, wie Scheiße ich drauf bin", nuschelte der Schnorrer.

    „Sch‘guet, aber draußen!", antwortete Reto unwirsch.

    Reto, der nie verstanden hatte, warum sich ausgerechnet die fanatischen italienischen Raucher mit dem Rauchverbot in den Bars ihre Ehre und Lebenslust rauben ließen, klopfte für Bernardo eine Parisienne aus der Packung, nahm sein Glas und ging nach draußen.

    Dort schenkte er Bernardo die restlichen Zigaretten, drückte ihm sein halb volles Glas in die Hand und ließ ihn stehen, er wollte nach Hause. Er brannte darauf, das Päckchen zu untersuchen.

    „Ciao, Bernardo."

    „Ciao, Sch‘guet."

    Ein ungemütlicher, später Novemberabend, bestimmt schon zwölf, Reto besaß keine Uhr, er lebte zeitlos. Das hatte den Vorteil, dass es ihm nie pressierte. Er war überzeugt davon, dass sein Leben auch ohne Hetze seinen Gang ging, wie die Jahreszeiten. Einmal, vor zwei Jahren auf seinen Lesereisen, hatte er sich von seinem Verleger in die Hektik einspannen lassen und prompt die Quittung dafür erhalten. Jeanette hatte ihn verlassen.

    Er war allein auf dem mit Marmor gepflasterten, breiten Fondamento zwischen dem Canal und der bunten Häuserreihe, bei solchem Sauwetter blieben die Menschen auf Giudecca in ihren Häusern. Fröstelnd steckte er Hände in die Taschen seines Sennaschlott. Dieser Bauernkittel aus kräftigem, blauem Leinen war sein Markenzeichen. Er trug ihn bei allen Lesungen aus seinem ersten Krimi, man verband ihn mit Reto Caminada wie sein anderes Standardkleidungsstück, die dunkelbraunen Manchesterhosen. Die PR-Berater seines Verlegers, sie saßen im eleganten, weltstädtischen Genf, hatten ihm dringend geraten, die Arbeitskleidung aus der Landwirtschaft zu seiner corporate identity zu stilisieren. Das war gelungen. Der fast zwei Meter große Riese mit Pferdeschwanz im Sennaschlott und Cordhosen verkörperte den Kriminalromane schreibenden Bauern aus Appenzell schlechthin.

    Der dichte Nebel verschluckte Venedig, man konnte die Stadt jenseits des ein paar hundert Meter breiten Canal nur durch den vom Widerschein der Lichter erhellten Himmel erahnen. Die zig Meter breite Krone der Kaimauer von Giudecca, das Fondamento Eufemia, bildete die Hauptstraße und die Uferpromenade der Insel in einem. Das Fondamento grenzte ohne Geländer unmittelbar an den Canal, mächtige dreiarmige Kandelaber säumten es, die gleichen, die die Kaimauern drüben in Venedig erleuchteten. Sie warfen ihr weiches, violett getöntes Licht auf die Nebelwand.

    Neben dem hässlichen Wetter beherrschte auch noch aqua alta die Lagune, das Hochwasser, das Venedig regelmäßig heimsuchte, die mit Gummistiefeln ausgerüsteten Einheimischen gleichmütig ließ und die Touristen nötigte, auf wenigen schmalen Stegen durch die Stadt zu balancieren. Wenn sie sich begegneten, konnte man ihre nationalen Eigenarten beobachten. Die Deutschen bestanden penetrant auf ihrem vermeintlichen Recht sich vorzudrängen, die Amerikaner und Russen waren laut, die Japaner höflich, die Italiener und Chinesen lachten unentwegt. Die Schweizer waren unauffällig und kaum identifizierbar.

    Auf Giudecca, das einige Zentimeter höher als Venedig lag, reichte das Hochwasser nur bis an den Rand des Fondamento, hin und wieder schwappten Wellen über die Kaimauer. Reto wich ihnen aus und vermied so nasse Füße. Das Wasser kabbelte unruhig, unter einem Kandelaber sah er, wie sich der schwarze Algenteppich an der senkrechten Mauer schmatzend hob und senkte.

    Er umklammerte das Päckchen in seiner Tasche.

    Sein kurzer Heimweg führte ihn nur wenige Minuten am Canal entlang und über eine kleine Brücke. In unterschiedlichen Abständen unterbrachen von Marmorplatten umrahmte, ins Wasser abfallende Steintreppen die Kaimauer. Sie dienten als Bootsstege, über die Treppen konnte man bei allen Wasserständen bequem die Boote besteigen und verlassen. Die Stufen waren glitschig und von Algen bewachsen.

    Es roch nach Meer. Auf der exakt gegenüber seinem Palazzo gelegenen Bootstreppe, die jetzt vor Reto aus dem Nebel auftauchte, lachte eine Seemöwe, meckernd wie eine Ziege. Die Größe dieser Vögel erstaunte ihn immer wieder. Eine andere schwamm im Canal und krächzte laut, das Nieseln störte sie offenbar nicht. Eine dritte saß auf einem schwimmenden Baumstamm, den Reto nur schemenhaft im schwarzen Wasser ausmachen konnte, und hackte mit ihrem langen Schnabel wild auf einen hellen Gegenstand am Ende des Stammes ein, der wie ein Ballon aussah. Am anderen Ende des Stammes schwammen zwei weiße Punkte, die sich harmonisch mit den Wellen auf und ab bewegten.

    Als sich der Stamm dem Lichtschein eines Kandelabers näherte, sagte sich Reto, das ist kein Baum, die weißen Punkte unten bewegen sich zu stark für Äste. Das konnten eher Kugeln aus weißem Styropor sein, wie sie die Fischer an ihren Netzen verwendeten.

    Ungewöhnlich, ein Baumstamm im Canal. Wenn er genau überlegte, hatte er im Canal de la Giudecca noch nie einen Baumstamm schwimmen sehen. Möwen bei Nacht auch nicht.

    Er starrte in das dunkle Wasser. Bei der nächsten Aufwärtsbewegung des Schwemmgutes erinnerten ihn die beiden Styroporkugeln an die weißen Socken des Latin Lover. Dort, wo die Möwe aufgeregt pickte, konnte der Kopf sein. Reto ging auf der obersten Stufe der Bootstreppe in die Hocke, er war jetzt ganz nah

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