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Els: Eine Erzählung
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eBook148 Seiten2 Stunden

Els: Eine Erzählung

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Über dieses E-Book

Spät im Jahr hält der Frühling Einzug auf Hukejaure in den Fjälls von Schwedisch Lappland. Auch Els, eine eigenwillige alte Frau, steigt nach Hukejaure auf, um wie jedes Jahr als Hüttenwartin die spärlichen Gäste zu beherbergen. Aber dieses Mal ist nichts wie sonst: Die Rentiere bleiben aus, stattdessen melden sich körperliche Schmerzen, Verwirrung und eine unbestimmte Furcht. Anne, eine junge Trekkerin, taucht auf und sorgt für weitere Verunsicherung. Später sieht sich die Hüttenwartin - inzwischen krank geworden - von einem heimlichen Mitbewohner in ihrer Existenz bedroht. Doch was als vermeintlicher Überlebenskampf beginnt, entwickelt sich für Els immer mehr zu einer Annäherung an Jona, den Fremden. Nicht nur in der harschen arktischen Landschaft meldet sich der Mittsommer mit Macht, auch in Els brechen sich neue Lebenskräfte Bahn.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Sept. 2012
ISBN9783858826497
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    Buchvorschau

    Els - Christine Fischer

    Trinkwasser

    Els zieht sich die Kapuze über die feuchten Haare. Der Wind hat in der Nacht auf Nordost gedreht und am Himmel mit Aufräumen begonnen. General Nordost. Er schafft Ordnung und bringt Kälte, doch mit der Kälte bringt er auch Kraft in die zaghaften Farben des Frühlings. Schwarzweissgestreift wie die Kruppen von Zebras ragen die Berge in den Morgenhimmel. Noch so viel Schnee. Er liegt nicht nur an den Hängen und auf den Gipfeln der norwegischen Seite. Auch das schwedische Hukejaure gibt er nur zögerlich frei, und fjellwärts liegt er noch einen halben Meter hoch. Mindestens. Der Junischnee Lapplands, grobkörnig wie Meersalz.

    Fauler Schnee, denkt Els. Schwer und nass. Als Kind hatte sie erfahren, dass er den Spass am Schlitteln verdirbt. Fauler Schnee. Das Ende der Winterherrlichkeit. Auch dieser Schnee ist faul, und trotzdem hat er Els beim Aufstieg ganz schön zugesetzt. Doch sie hat ihm die Zähne gezeigt. Kein Lächeln, aber Biss. Els, die Schneebeisserin. Sie schmunzelt. Sie sieht sich selber als monströses Insekt, das seine Mandibeln in die Schneekruste schlägt und grosse Stücke davon abbeisst, sich unbeirrbar eine Schneise fräst. Ja, sie ist die Stärkere gewesen. Stärker als wer eigentlich?, denkt Els. Stärker als was? Stärker als sie selbst vielleicht? Stärker als die Natur? Was wäre dann sie, Els, wenn nicht mehr Natur? Gäbe es anderes? Über sich selbst Hinauswachsen hiesse, etwas von sich selbst missachten. Etwas Wichtiges vielleicht. Eine Grenze.

    Sie hat beim Marsch hierher gekämpft, aber nicht gesiegt, so viel steht fest. Siegen. Els hat für das Wort nicht viel übrig. Sie hat ihre Pflicht erfüllt, das ist alles. Zwölf schwere, nasse, lange Stunden hat sie gebraucht für den Weg über die Weiten der Tundra und durch die Blockhalden. Bei schneefreien Verhältnissen wäre er in sieben Stunden zu schaffen gewesen. Im unteren Teil ist sie noch zügig vorangekommen. Sie hat ihn streckenweise auf den bereits aperen Holzplanken zurücklegen können. Doch schon bald haben breite Zungen aufgeweichten Schnees ihren Marsch behindert. Früher hätte Els diese Schneefelder einfach durchquert. Nicht leichtsinnig, aber im Vertrauen auf die Kräfte ihres Körpers. Und wenn sie eingesunken wäre, hätte sie sich mit der kurzen Schaufel, die sie mitführte, im Nu wieder ausgegraben. Doch mit dreiundsiebzig Jahren geht manches nicht mehr so spielend. Von Spiel kann eigentlich keine Rede mehr sein. Wo die Kraft fehlt, muss der Wille einspringen. Der Eigensinn, wie Klement sagen würde. Oder das Glück, denkt Els.

    Dieses Jahr war es vom ersten Kilometer an anders gewesen. Ein neues Gefühl. Das Stechen in den Knien, das Brennen in der rechten Hüfte und unter den Schulterblättern: Diese Schmerzen kannte Els schon länger, sie waren bloss stärker geworden mit jedem Jahr. Etwas anderes hatte sich zu den alten Beschwerden gesellt, etwas Unvertrautes, Aufstörendes. Es hatte sie ins Schwanken gebracht, wenn sie auf einem Stein balancierte, es hatte sie zaudern lassen vor dem Sprung auf den nächsten Stein. Wie Geröll hatte es auf ihrer Brust gelastet, als sie nach einer Furt suchte, um den ersten der mit Schmelzwasser hochgehenden Bäche zu überqueren. Lange hatte sie am Ufer gestanden und ins schäumende Wasser gestarrt, bevor sie ihren Rucksack geschultert und die zusammengebundenen Schuhe an den Schnürsenkeln gepackt hatte. War es Angst gewesen? Hatte sie Angst? Die Kälte hatte ihr Füsse und Waden zerschnitten.

    Klement musste etwas gespürt haben. Er hatte sie nur ungern ziehen lassen. Hast du dir das gut überlegt?, hatte er gefragt. Els hatte zur Antwort bloss gefaucht. Klement sollte ihr jetzt nicht mit Vernunft kommen. Sie war die Hüttenwartin von Hukejaure. Mehr gab es nicht zu sagen. Ohne sie verschwände dieser Ort von der Landkarte. Nicht äusserlich als geographischer Ort, sondern als ihre Wirklichkeit. Heimat. Niemand gibt seine Heimat leichthin auf. Ich fühle mich so frisch wie bei meinem ersten Aufstieg, hatte Els gelogen. Du übernimmst dich, hatte Klement erwidert, mancher Körper ist älter als der Geist, der ihn bewohnt. Alter Schamane, hatte Els gesagt, und Klement hatte geschmeichelt aufgelacht. Sie hatte den Rucksack gebuckelt. Man kann nur am Leben sterben, Klement, hatte sie gesagt und ihm die Hand zum Abschied gereicht. Auf Leben und Tod also, in deinem Alter?, hatte er gefragt. Auf das Leben, solange es hinreicht, hatte Els erwidert und die Lippen geschürzt.

    Kurz nach Sitasjaure hatte sie die letzten Bäume hinter sich gelassen, die letzte Kiefer, die letzten Birken, die mit jedem zurückgelegten Höhenmeter immer kleiner, immer knorriger geworden und bald nur noch als niedriges Gebüsch über die Heide gekrochen waren. Tapfere Krieger am Rande der Vegetationszone, die das Feld wenig später endgültig dem gleichförmigen Heer der Heidestauden und Steppengräser, der Moose und Flechten überlassen mussten.

    Mit jedem Schritt war es Els leichter geworden ums Herz, als fielen die eisernen Bänder, die ihre Brust unten im Tiefland eingeschnürt hatten, eins ums andere von ihr ab. Jetzt betrat sie das «höhere Land», wie die Samen die benachbarte Gegend nannten. Sie tat es mit einer Art Ehrfurcht, die in all den Jahren nicht kleiner geworden war, nur vertrauter. Kilometerweite Einöden öffneten sich vor ihr, weiteten den Blick, machten sie klein, setzten neue Massstäbe, liessen Verhältnisse einstürzen. Els behielt die ockerfarbenen, von Schneeresten durchsetzten Hänge in der Ferne fest im Auge. Nur an deren Veränderung konnte sie ablesen, dass sie tatsächlich vorwärtskam und nicht nur träumte, sie ginge.

    Heute ist kein Tag für Mücken. Oder vielleicht ist es noch zu früh im Jahr. Man kann stehenbleiben, wo und wie lange man will, und den Gedanken nachhängen. Zeit vertrödeln. Els bückt sich und nimmt die beiden Eimer auf. Im scharfen Wind geben sie ein leises, metallisches Jaulen von sich. Els will jetzt nicht an Arco denken. Hier könnte sie ihn nicht durchfüttern. Und er sie nicht beschützen, halbblind und triefnasig, wie er geworden war. Sie schliddert mit den Eimern das abschüssige Ufer zum Hukesee hinunter. Sie hätte zum Wasserholen ihre festen Schuhe anziehen sollen, nicht Klements alte Gummistiefel, die ihr gut und gerne vier Nummern zu gross sind. Während der Saison wird das Trinkwasser üblicherweise anderswo geschöpft, aus einem namenlosen Seelein, welches westlich der Hütte in einer Senke liegt. Doch im Vorsommer, wenn Els hier der erste Mensch auf Erden ist, braucht sie das Wasser nicht in sauber und verschmutzt zu trennen. Wasser ist dann einfach nur Wasser, aus seiner Winterstarre erwachend, rein und klar. Dünne Eisplatten treiben auf dem See. An den Rändern lächelt er schwarz. Das Lächeln wird breiter mit jedem Tag. Und wärmer. Nicht fühlbar, aber messbar, wenn Els messen wollte. Sie will nicht messen. Keine Wassertemperatur und keinen Sonnenstand. Keine Lebenszeit. Und doch.

    Els füllt die Eimer nur zur Hälfte. Schwerer kann sie nicht tragen. Nicht mehr. Sie beugt sich über das Wasser. Nun, da sie es eingefangen hat, ist es nicht länger schwarz, sondern durchsichtig, es blitzt und funkelt. Winzige Sandkörner wirbeln über den Chromstahl auf dem Grund des Eimers. Man kann sich kaum zurückhalten, man möchte seine Hände, sein Gesicht mit weit geöffneten Augen hineintauchen in dieses Flirren, man möchte Teil dieser sprühenden Welt werden, versprühen. Els tut es nicht. Es ist Trinkwasser. Dies soll nun Trinkwasser sein, bestimmt sie. Sie will es nicht verschmutzen. In diesen Dingen war sie immer genau gewesen, auch mit sich selber. Bis auf heute nacht.

    Darf ich noch länger bleiben, Mama?

    Länger bleiben, Kind, wozu?

    Weil es schön ist. Bleiben ist schön.

    Darf ich noch bleiben?

    Nein, du brauchst deinen Schlaf. Komm, alles

    Schöne hat einmal ein Ende.

    Els nimmt einen Stein und schleudert ihn auf den See hinaus. Er landet auf einer Eisscholle, die vom Wind ans südliche Ufer getrieben wird, bleibt an der Oberfläche, im Licht. Kurzer Aufschub. Spätestens in einer Woche wird die Scholle geschmolzen und der Stein verschwunden sein, für immer. Keinem menschlichen Auge jemals mehr sichtbar, keiner Hand mehr greifbar. Plötzlich tut es weh, den Stein gekannt zu haben. Eine Seeschwalbe fliegt auf und verschwindet in der weissen Sonne. Gute Reise, murmelt Els und kneift die Augen zusammen. Sie will nicht wissen, wem genau ihr Wunsch gilt. Sie steht da, während anderes weggeht. Während alles weggeht.

    Prüfend lässt Els ihren Blick über die Grate gleiten, um ihn dann im Schwebeflug zurückzuführen, bis er auf den Kieseln vor ihren Füssen landet. Sie atmet auf. Zumindest ihren Augen kann sie noch trauen! In die Weite sieht sie scharf wie eh und je, nur fürs Lesen ist sie auf die Brille angewiesen. Lesen. Viel lieber als Gedrucktes liest Els in den Geschichtsbüchern der Landschaft, des Gesteins, der Vegetation. Und soviel sie auch in diesen voluminösen Werken liest, sich in die Texte versenkt, noch nie hat sie eine Stelle daraus auswendig aufsagen können. Als veränderte sich der Text laufend mit dem Lesen. Sie hatte mit Klement darüber gesprochen. Das ist das Wesen guter Bücher, hatte Klement gemeint. Er muss es wissen, verbringt er doch das Winterhalbjahr mit Lesen. Am liebsten sind ihm Geschichten, die in fremden Kulturen spielen, in Armenien, im Kongo, bei den Maori, und Magazine, welche die Natur zum Thema haben. Während Klement liest, ist Els eine, die schaut. Wie lange noch wird sie im Bilderbuch Lapplands blättern können? Was ihr so lange Jahre selbstverständlich schien, droht jetzt zu zerfleddern.

    Erst ein paar Tage ist es her, dass sie den Gewaltmarsch von Sitasjaure herauf zurückgelegt hat, und bereits läuft er in ihrem Hirn ab wie ein Film. Bilder reihen sich aneinander, Blenden wechseln sich ab. Was keine Darstellung erfährt, ist die Monotonie des Gehens, der Überdruss, der sich wie Bremsklötze in den Gelenken festsetzt. Das Gewicht des Rucksacks, der sich mit Steinen aufzufüllen scheint. Was musst du all diese Salbentöpfe und Giftfläschchen mit dir hochschleppen, hatte Klement geschimpft, willst du ein Lazarett einrichten auf Hukejaure? Die Landschaft hatte allmählich ihren Charakter gewechselt, war wild geworden, statt öde zu sein. Noch rang der Winter mit dem Frühling. Immer zögerlicher gaben die Schneefelder die Vegetation der Tundra preis, matte Töne von Grün, Grau, Ocker und Braun. Felsblöcke ragten aus dem Schnee, als wären es Helme gefallener Riesen.

    Irgendwann war es geschafft gewesen. Das nach Norwegen führende Hochtal mit seiner Ansammlung von Seen und Tümpeln tat sich auf. Die Hütte von Hukejaure lag auf der Anhöhe zwischen Felstrümmern. Die erste Behausung nach der Erschaffung der Erde in einer Landschaft, in der sich Wasser und Land noch nicht gänzlich geschieden hatten. Eine vorsprachliche, eine stammelnde Welt. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken überzogen. Aus den Lücken und Rissen fiel ein giftgelbes Licht auf die Szenerie und liess die Moorwasser aufblitzen wie Augen von Raubkatzen. Els blieb stehen. Sie glaubte,

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