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Der Beethoven Bumerang: Ein Megan Crespi-Krimi
Der Beethoven Bumerang: Ein Megan Crespi-Krimi
Der Beethoven Bumerang: Ein Megan Crespi-Krimi
eBook559 Seiten6 Stunden

Der Beethoven Bumerang: Ein Megan Crespi-Krimi

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Über dieses E-Book

Mordende Dirigentinnen, durchgeknallte Museumsdirektoren, selbstvergessene Aktivisten – in Alessandra Cominis Krimis lässt sich so manche Parallele zur heutigen Kunst- und Kulturszene erahnen. Hier fällt ein Schuss, dort werden unliebsame Zeitgenossen im Rhein versenkt. Die Schauplätze und Tatorte sind weltweit verstreut: etwa wenn am Bonner Münsterplatz direkt beim Beethoven-Denkmal eine brisante Demo stattfindet, oder wenn die Orion, ein Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse, am Hafen der chinesischen Metropole Tsingtao anlegt. Und die Morde gehen weiter – aber warum? Dabei fängt alles so harmlos an: Das quicklebendige Alter Ego der Autorin, die amerikanische Kunstgeschichteprofessorin Megan Crespi aus Dallas, Texas, ist wieder einmal zu einem Symposium in Deutschland eingeladen.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum24. Sept. 2021
ISBN9783990128763
Der Beethoven Bumerang: Ein Megan Crespi-Krimi

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    Buchvorschau

    Der Beethoven Bumerang - Alessandra Comini

    Der Beethoven Bumerang

    Mordende Dirigentinnen, durchgeknallte Museumsdirektoren, selbstvergessene Aktivisten – in Alessandra Cominis Krimis lässt sich so manche Parallele zur heutigen Kunst- und Kulturszene erahnen. Hier fällt ein Schuss, dort werden unliebsame Zeitgenossen im Rhein versenkt. Die Schauplätze und Tatorte sind weltweit verstreut: etwa wenn am Bonner Münsterplatz direkt beim Beethoven-Denkmal eine brisante Demo stattfindet, oder wenn die Orion, ein Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse, am Hafen der chinesischen Metropole Tsingtao anlegt. Und die Morde gehen weiter – aber warum? Dabei fängt alles so harmlos an: Das quicklebendige Alter Ego der Autorin, die amerikanische Kunstgeschichteprofessorin Megan Crespi aus Dallas, Texas, ist wieder einmal zu einem Symposium in Deutschland eingeladen.

    Alessandra Comini

    DER BEETHOVEN BUMERANG

    Ein Megan Crespi-Krimi

    Aus dem amerikanischen Englisch von

    Pia Viktoria Pausch

    leerleer

    Alessandra Comini: Der Beethoven Bumerang

    Ein Megan Crespi-Krimi

    Aus dem amerikanischen Englisch von Pia Viktoria Pausch

    Hollitzer Verlag, Wien 2021

    Originalausgabe: Sunstone Press, Santa Fe, New Mexico 2020

    Coverabbildung: „Beethoven" © Kevin Gordon

    Abbildung*: © A. Comini, 2018

    Lektorat: Paula Tiedge

    Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

    Satz: Nikola Stevanović

    Hergestellt in der EU

    Alle Rechte vorbehalten

    © Hollitzer Verlag, Wien 2021

    www.hollitzer.at

    leerleer

    ISBN Druckausgabe 978-3-99012-875-6

    ISBN epub: 978-3-99012-876-3

    Dieses Buch ist ein fiktionales Werk. Namen, Orte, Personen und Handlungen sind entweder frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Ereignissen oder Schauplätzen sind rein zufällig.

    Gewidmet meinem bewährten Beethovenfreund, Dr. William Meredith, emeritierter Direktor des Ira F. Brilliant Center for Beethoven Studies in San José, Kalifornien, USA

    und

    zum Gedenken an den überragenden Beethoven-Interpreten

    Maestro Kurt Masur (1927-2015),

    mein geschätzter Begleiter an vielen gemeinsamen Tagen bei den Leipziger Gewandhaus-Symposien.

    Liste der Figuren

    Prof. Dr. Megan Crespi: amerikanische Universitätsprofessorin für Kunstgeschichte im Ruhestand; begeisterte Musikhistorikerin; Expertin für europäische Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts; gefragte Beraterin bei der Aufklärung von Verbrechen in der internationalen Kunst- und Klassikszene

    Dr. William Meridian: emeritierter Gründungsdirektor des American Beethoven Center in Berkeley Heights, New Jersey, USA

    Dr. Heike Musenberg: überfürsorgliche Direktorin des Beethoven-Hauses Bonn

    Clemens Karl von Masuren: der beliebte Chefdirigent des Beethoven Orchesters Bonn

    Bettina Brentano: ehrgeizige Chefdirigentin der Klassischen Philharmonie Bonn und Klaviervirtuosin

    Nikolaus Schlau: Ehemann von Bettina Brentano, vielseitig handwerklich begabt; Klavierstimmer der Klassischen Philharmonie Bonn

    Dr. Oskar Schnösel: umstrittener Musikwissenschaftler und Gründer des Wiener Beethoven und Du Museums

    Miro Hernandez: zwielichtiger Agent, international tätiger Spezialist für heikle Fälle

    Ernst Zimmermann: Erster Bratschist der Klassischen Philharmonie Bonn und Neffe von Theodor Zimmermann

    Theodor Zimmermann: Bauingenieur in Leipzig und Onkel von Ernst Zimmermann

    Reverend Balthasar Bridgetower: Engländer, vormals anglikanischer Priester im Bistum London, jetzt Aktivist; direkter Nachfahre von Beethovens schwarzem Freund, dem Geigenvirtuosen George Bridgetower (1778 – 1860)

    Dr. Li Shutong: Beethoven-Verehrer aus Qingdao, China, angesehener Otologe und verschwiegener Milliardär

    Takuto Nisemono: Dirigent und Komponist aus Tokio, einst der „Beethoven Japans", dann in Ungnade gefallen, nun auf dem Weg zu seinem Comeback

    Samuel Dunkel: Nachfahre eines amerikanischen GI, Musikstudent, Aktivist für die Anerkennung schwarzer Komponisten in der klassischen Musik

    Leo Weissknab: Wiener Student der Musikwissenschaft an der Universität Bonn; überzeugter Anhänger der Rassentheorie; halbherziger Neonazi

    Hannah Hahn: Ehefrau von Andrej Hahn und langjährige unentbehrliche Haushälterin des Dirigenten Clemens Karl von Masuren

    Andrej Hahn: Ehemann von Hannah Hahn und Aufseher am Auktionshaus Von Zwengen in Bonn

    Tobias Neidisch: aufdringlicher Nachtwächter der kürzlich eröffneten neuen Bonner Beethovenhalle

    Louis van Hoven: selbst ernannter direkter Nachfahre von Ludwig van Beethoven; aus New Haven, Connecticut, USA

    Hans Jäger: engagierter Kriminalbeamter, Bonner Hauptkommissar mit angenehmen Umgangsformen

    Elise Ansel: erste Bratschistin, Pultnachbarin von Ernst Zimmermann bei der Klassischen Philharmonie Bonn

    Dr. Annemarie Weil-Carr: Musikhistorikerin an der Universität Leipzig, bekannt für ihre Publikationen zu Beethovens Skizzenbüchern

    Dr. Michael Sims: Musikhistoriker aus England, Experte für Beethovens 139 überlieferte Konversationshefte

    Dr. Otto Hartnacken: Hamburger Kardiologe, überzeugt, dass Beethoven an einer bislang nicht diagnostizierten Krankheit starb

    Abb

    Das Beethoven-Monument vor der Skyline der chinesischen Hafenmetropole Qingdao ist das eigentliche Reiseziel unserer texanischen Kunstdetektivin Megan Crespi. Doch auf dem Weg dorthin geschehen ein paar Morde … in Bonn.*

    1

    „Na sowas! Eine Postsendung, die niemals den Adressaten erreicht hat. Dabei ist dieser Komponist schon seit fast zwei Jahrhunderten tot!"

    Es war ein warmer Apriltag mitten in der geschäftigen Leipziger Innenstadt und Bauingenieur Theodor Zimmermann betrachtete das Paket, das ihm sein Mitarbeiter Horst gebracht hatte. Die zwei Männer standen in der Schillerstraße am Rand des Abrissgeländes eines baufälligen Hauses aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Absenderadresse lautete:

    Breitkopf & Härtel

    Schillerstraße 121, Leipzig

    Königreich Sachsen

    und adressiert war das Paket an:

    Ludwig van Beethoven,

    Schwarzspanierhaus, Wien

    Kaiserthum Österreich

    Diagonal darüber waren einige Worte in Großbuchstaben zu lesen, die aussahen, als seien sie mit einem antiquierten Handstempel gedruckt worden:

    UNZUSTELLBAR: ZURÜCK AN DEN ABSENDER

    „Das liegt wohl da unten in diesem Keller, seit es per Post von Wien nach Leipzig zurück ging, sagte Horst, „Wie ein Bumerang.

    „Ja, wie ein Bumerang für Beethoven, Zimmermann lächelte amüsiert über seine Alliteration. „Ein Beethoven-Bumerang.

    „Chef, wollen Sie das Paket jetzt gleich öffnen?"

    „Tja also … nein. Ich denke nicht. Jedenfalls nicht hier im Freien, bei dem Wind."

    „Dann mach’ ich mich mal wieder an die Arbeit." Horst drehte sich um und ging wieder zu seiner Aushubstelle zurück. Dieser Abbruchauftrag war dringend und seine Arbeitswoche hatte sich schon jetzt viel zu weit ins Wochenende gezogen.

    Zimmermann starrte weiter auf das Paket und wunderte sich immer mehr. Breitkopf & Härtel, das war doch eine legendäre Leipziger Firma. Sogar ihm war der Name ein Begriff. Vielleicht sollte er die einfach kontaktieren? Gab es den traditionsreichen Musikverlag aus dem achtzehnten Jahrhundert überhaupt noch? Oder wäre es klüger, das Paket gemeinsam mit seinem Neffen Ernst zu öffnen, der war immerhin Musiker, Bratschist bei der Klassischen Philharmonie Bonn. Vielleicht, je nach Inhalt, sollte man sogar das Bonner Beethoven-Haus kontaktieren? Oder ein Auktionshaus? Der Inhalt des Pakets könnte ein Vermögen wert sein!

    Ja, Theodor würde das Richtige tun und sich an Ernst wenden. Er wusste, dass sein musikbegabter Neffe am kommenden Abend ein wichtiges Konzert zu spielen hatte. Vielleicht sollte er ihn heute nach der Arbeit anrufen und ihm das Paket gleich morgen, am Sonntag, höchstpersönlich zur Begutachtung überbringen.

    2

    Bettina Brentano war eine Frau mit Ambitionen. Sie war groß, muskulös, hatte eiskalte blaue Augen und dichtes, rabenschwarzes Haar, das sie meist kunstvoll hochgesteckt in einem auffällig großen Knoten trug. Für ihre siebenundvierzig Jahre sah sie gut aus. Ihre neue, mühelos erlangte Position als Dirigentin der Klassischen Philharmonie Bonn mit rund sechzig Instrumentalisten unter sich und einem Repertoire quer durch die Wiener Klassik – Haydn, Mozart, Beethoven – war für sie noch keineswegs der letzte Schritt auf ihrer Karriereleiter. Bald würde sie ihr jahrelang verfolgtes höchstes Ziel erreichen: Sie wollte die Leitung des viel größeren und berühmteren Bonner Beethoven Orchesters übernehmen, mit seinen hundertsechs Instrumentalisten und weltweit gefeierten Konzertaufnahmen.

    Bettina hatte trotz ihrer frühen Heirat ihren Mädchennamen Brentano behalten, doch nie hatte sie diesen schillernden Familiennamen zum Anlass genommen, um sich wichtig zu machen. Aber geleugnet hatte sie ihre prominente Herkunft auch nicht. Und irgendwie schien jedem, der sie traf, mit ihr arbeitete oder auch nur mit ihr korrespondierte, ohnehin klar zu sein, dass ihre vielgerühmte Vorfahrin mütterlicherseits Bettina Brentano von Arnim war, die Freundin der großen Helden der deutschen Kultur, Goethe und Beethoven. Natürlich tat es ihrer Bekanntheit keinen Abbruch, dass das Porträt ihrer Ahnin bis zur Einführung des Euro auf jedem Fünfmarkschein abgedruckt gewesen war.

    Eine ganze Reihe von Beethoven-Experten hielt die Bettina des 19. Jahrhunderts sogar für die „unsterbliche Geliebte Beethovens, jene nie eindeutig identifizierte Frau, die der Komponist in einem posthum berühmt gewordenen Brief mit dem zärtlichen „Du bedacht hatte, doch ohne ihren Namen zu nennen. All das hatte der jetzigen Bettina Vorschusslorbeeren eingebracht, ihre Ernennung zur Chefdirigentin von Bonns zweitgrößtem Orchester war damit vorgezeichnet gewesen.

    Gewiss war die Bettina von heute mit vielen Talenten gesegnet. Als Wunderkind am Klavier hatte sie schon früh Beethovens viertes Klavierkonzert mit großem Orchester gespielt und später vom Flügel aus dirigiert. Sie fügte dabei Clara Schumanns Kadenz ein und brachte das Publikum zum Jubeln, vor allem das klassische Stammpublikum aus der Region Köln-Bonn, schließlich waren beide, Robert und Clara Schumann, am Bonner Friedhof begraben. Von ihrem Erfolg als Virtuosin ermutigt, brillierte die junge Brentano bei ihrer nächsten Konzertreihe an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit den Kadenzen, von Johannes Brahms und Camille Saint-Saëns. Dann entwickelte sie ein Programm für fünf Abende, bei dem sie das vierte Klavierkonzert jeweils mit einer anderen Kadenz präsentierte: zwei hatte Beethoven selbst in Noten gesetzt, dazu kamen die von Clara Schumann, Johannes Brahms, und Camille Saint-Saëns. Das Resultat waren bis zum letzten Platz gefüllte Konzertsäle, wo immer sie dieses Konzertprogramm aufführte, im Publikum viele Enthusiasten, die an jedem der fünf Abende wieder kamen. Der Zenit war erreicht, als Bettina auch die von ihr selbst komponierte, sehr modern klingende Brentano-Kadenz zur Aufführung brachte.

    Bis zu diesem Geniestreich der dirigierenden Virtuosin hatte es nichts Vergleichbares gegeben und das Publikum war begeistert. Als dann der vormalige Dirigent der Klassischen Philharmonie Bonn wegen eines nie geklärten Unfalls mit Fahrerflucht arbeitsunfähig zurückblieb, und die Bonner Stadtväter dringend eine Nachfolge für ihn suchten, entschieden sie sich für frisches Blut: Bettina Brentanos hoher Bekanntheitsgrad sollte den sinkenden Publikumszahlen zu neuen Höhen verhelfen.

    Damit hatte Bonn zwei renommierte Chefdirigenten: Bettina Brentano für die Klassische Philharmonie Bonn und Clemens Karl von Masuren, den regierenden, ja, angebeteten Leiter des Beethoven Orchesters Bonn.

    Beide dirigierten ihre Bonner Aufführungen jeweils in der neuen Beethovenhalle, einer erst kürzlich fertiggestellten, großzügig dimensionierten Konzerthalle am Rhein, deren mächtiger, abgeflachter Kuppelbau über einen majestätischen Konzertsaal mit einer brillanten Akustik verfügte. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte es so ausgesehen, als würde das ambitionierte Bauprojekt nie vollendet werden. Mehrmals wurde die Fertigstellung wegen fehlender Mittel unterbrochen, schließlich musste der zögerliche Baubetrieb sogar ganz eingestellt werden. Aber dann war völlig unerwartet ein geheimnisvoller Geldgeber aus China eingesprungen, ein Milliardär, der anonym bleiben wollte, und die neue Beethovenhalle konnte gerade noch rechtzeitig zum Beethoven-Jubiläumsjahr anlässlich seines 250-jährigen Geburtstages in aller Pracht eröffnet werden.

    Wenn sie ihre Karten richtig ausspielte, würde Bettina Brentano bald die Musikdirektorin über beide Orchester sein und die Stadt Bonn, Beethovens Geburtsstadt, wäre ihr auf ewig dankbar.

    3

    Kein Mensch hätte geglaubt, dass die Amerikanerin, die ihrem Begleiter so flott über den Bonner Münsterplatz voraus sprang, schon Mitte Achtzig war. Seit ihrer Pensionierung war die emeritierte Universitätsprofessorin Megan Crespi mit neuen Herausforderungen beschäftigt. Als Kunsthistorikerin mit vielfältiger Expertise unterstützte sie die Polizei immer wieder bei der Aufklärung kniffliger Verbrechen in der internationalen Kunst- und Musikszene. Meistens führte sie diese Aufgabe weit weg von ihrer Heimatstadt Dallas und ihrem geliebten Malteserhündchen Button – Knöpfchen – und fast immer landete sie dann in Europa. Die ewige Brünette mit ihren funkelnden, kastanienbraunen Augen hielt sich mit einer strikten täglichen Gymnastikroutine fit und schlank, wenn auch nicht so schlank, wie sie es gerne hätte.

    Ihr Reisebegleiter war diesmal ein hochgeschätzter Freund und Kollege aus gelehrten Kreisen, der um zwanzig Jahre jüngere und seit kurzem pensionierte Will Meridian, seines Zeichens Mitgründer und langjähriger Direktor des American Beethoven Center in Berkeley Heights, New Jersey. Er hatte eine umgängliche Persönlichkeit, freundliche blaue Augen und weißes Haar. Aufgrund seines sympathischen, doch stets Respekt gebietenden Auftretens, seines enormen Fachwissens und bester Kontakte war es ihm im Lauf der Jahre gelungen, eine Vielzahl von Sponsoren und Experten für das führende amerikanische Beethoven Center zu gewinnen. Nun war er mit Megan nach Bonn gereist, um mit fünf weiteren Beethoven-Forschern unterschiedlicher Expertisen an einem Symposium teilzunehmen.

    Megan würde bei der geplanten Podiumsdiskussion über den Mythos Beethoven referieren, darüber, wie es zu dem sich stets wandelnden Bild Beethovens im Lauf der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten gekommen war. Als Autorin eines reich bebilderten kunstgeschichtlichen Standardwerkes zur Geburt, wie sie es nannte, des Beethoven-Mythos, zählte sie zu den international nachgefragten Experten auf diesem Gebiet. In dem wissenschaftlichen Prachtband war sie dem Prozess der Mythenbildung rund um den Komponisten auf den Grund gegangen, hatte Beethoven-Porträts, Gemälde, Büsten und Denkmäler analysiert und so anhand der Ikonografie, aber auch anhand der musikalischen Beethoven-Rezeption neue Perspektiven eröffnet. Die Verknüpfung von Bild und Klang, von Gemäldekunst und musikalischem Werk war ihr immer ein Anliegen gewesen.

    Die Diskussion versprach, lebhaft zu werden, denn Megan würde auch die neuesten Kunstwerke von bildenden Künstlern der Gegenwart einbeziehen, doch bekanntermaßen stellte sich eine Mehrheit der Teilnehmer entsetzt gegen alle neuartigen gemalten, gegossenen oder gemeißelten Darstellungen Beethovens, wie sie sich bisher im 21. Jahrhundert präsentierten. Im Großen und Ganzen war Megan selbst auch wenig begeistert davon, doch sie fand, dass es doch einige wenige künstlerisch gelungene oder zumindest clever gestaltete Ausnahmen gab. Wenig begeistert hatte sie zur Kenntnis genommen, dass die heutigen Künstler sich kaum darum scherten, ob ihr Werk noch irgendeine historische Ähnlichkeit mit Beethoven aufwies. Aber sie hatte vor, in ihrem Vortrag ein paar unschlagbare Argumente vorzubringen.

    Wills Vortrag würde sich auf zwei ganz andere Themen konzentrieren, von denen eines bereits angekündigt, das andere hingegen ein sorgsam gehütetes Geheimnis war. Sein offizielles Thema war die neueste Untersuchung einer angeblich von Beethoven stammenden Haarlocke, die vor nicht allzu langer Zeit in den vorübergehenden Besitz des American Beethoven Center gelangt war. Seit er vor vielen, vielen Jahren die Leitung der renommierten Institution übernommen hatte, waren immer wieder angebliche Haarlocken Beethovens zur Analyse eingelangt, doch die neueste, wenn auch nur leihweise zur Verfügung gestellte Haarlocke, hatte eine Besonderheit: Die Haarwurzeln waren noch intakt. Genau das könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen. Der mysteriöse Leihgeber, ein gewisser „Louis van Hoven" aus New Haven, Connecticut, behauptete – wie so viele vor ihm –, er sei ein direkter Nachkomme des Junggesellen Beethoven. Würden die noch ausstehenden DNA-Ergebnisse ihm zum erhofften Nachweis seiner Abstammung verhelfen?

    Bestimmt hatte er die Haarlocke mitsamt Wurzeln bereits in Wien oder anderswo in Europa testen lassen, vermutete Will. Womöglich war er mit den Ergebnissen nicht glücklich. Und so hatte er dem American Beethoven Center nicht nur leihweise die Haarlocke zur Überprüfung überlassen, sondern seine eigene Familiengeschichte und die Namen einiger der bekanntesten Wiener Prostituierten aus der Zeit des Komponisten gleich mitgesandt. Diese letzteren offenbar unentgeltlichen Auskünfte bekräftigte er mit einem Hinweis auf Beethovens langjährigen Freund Nikolaus Zmeskall und die überlieferte Korrespondenz der beiden Musiker. Alles deutete darauf hin, dass nicht nur der Freund, sondern auch der liebestolle Komponist selbst gelegentlich das eine oder andere Wiener Freudenmädchen aufgesucht hatte.

    „All diese Behauptungen sind natürlich haarsträubend absurd, ein irrwitziges Narrativ, vor allem, was die Abstammung von Beethoven betrifft. Aber wir führen die DNA-Analyse trotzdem durch, sagte Will über den Leihgeber der Haarlocke, als er Megan etwas außer Atem einholte. Ihr Sprint über den Bonner Münsterplatz hin zur Außenterrasse des gut besuchten Café Midi hatte ihnen einen exklusiven Ecktisch unter einem blauen Sonnenschirm beschert, quasi „erste Reihe fußfrei mit freiem Blick auf das imposante Denkmal mitten auf dem Münsterplatz und die ihn unaufhörlich umkreisenden Touristen und Bewunderer. Da stand er, der voranschreitende Beethoven mit einem Stift in der Hand, einstmals errichtet von Ernst Julius Hähnel, einem jungen Bildhauer des neunzehnten Jahrhunderts, seither die Attraktion Nummer Eins in der Bonner City.

    Nur dank der finanziellen Großzügigkeit des Komponisten und Beethoven-Verehrers Franz Liszt war es damals gelungen, die lebensgroße Bronzestatue auf ihren reliefgeschmückten Bronzesockel zu stellen und dazu noch die allererste Bonner Beethovenhalle zu erbauen und rechtzeitig zu den dreitägigen Festlichkeiten zur Enthüllung des Monuments zu eröffnen. Es war das erste öffentliche Denkmal zu Ehren Beethovens in seiner Geburtsstadt Bonn und wurde an einem Dienstag im August des Jahres 1845 feierlich eingeweiht.

    Die Stadt Wien hingegen, wo Beethoven den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, hinkte zögerlich hinterher und schaffte es erst 1880 ihren weltberühmten Ehrenbürger mit einem entsprechenden Denkmal zu würdigen, obwohl doch Beethoven so viele Lebensjahre in der österreichischen Hauptstadt verbrachte und dort 1827 im Alter von sechsundfünfzig Jahren zu Grabe getragen werden musste.

    „Und rate mal, was die größte Überraschung bei der Enthüllungszeremonie des Bonner Beethoven-Denkmals war", wandte sich Megan mit einem herausfordernden Blick an Will, während beide an ihren Cappuccinos nippten und die Touristen bei ihrem beständigen Kommen und Gehen rund um die Statue beobachteten.

    Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, denn ihr Hang zu den kleinsten, oft von allen anderen übersehenen, doch stets auch sehr witzigen und interessanten historischen Details war ihm bestens bekannt.

    „Hm. Ich will jetzt nicht herumrätseln. Sag’s mir einfach."

    „Na schön. Du weißt ja, dass die junge Queen Victoria mit ihrem geliebten Gemahl Prinz Albert eigens aus London nach Deutschland angereist kam, um an der Zeremonie teilzunehmen, nicht wahr?"

    „Wenn du das sagst. Warte mal, ja. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie traf hier in Bonn ihren Cousin Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und Erzherzog Friedrich von Österreich, stimmt’s?"

    „Stimmt. Und jetzt schau ein kleines Stück weiter nach rechts. Was siehst du dort, hinter der Statue?"

    „Hinter der Statue? Nun, ein großes, gelbes Gebäude. Postamt steht auf der Fassade."

    „Das ist es heute. Aber im Jahr 1845 residierte der Graf von Fürstenberg in diesem Stadtpalais. Er war der Gastgeber der Majestäten aus England, genau in diesem Haus empfing er sie. Und der Balkon, den du dort siehst, war der Ehrenplatz für die königlichen Gäste bei der Enthüllung des Denkmals."

    Megan wartete und beobachtete Will, der, wie sie ahnte, blitzschnell kombinieren und dann in schallendes Gelächter ausbrechen würde. Es folgte unmittelbar.

    „Ha! Ich verstehe, was du meinst. Bei der Enthüllungszeremonie mussten Victoria und Albert und die anderen Repräsentanten des Hochadels die ganze Zeit auf Beethovens Kehrseite schauen. Wie peinlich!" Beide schmunzelten amüsiert.

    „Aber war denn Victoria nicht in ihrer Ehre gekränkt?", fragte Will schließlich.

    „Es gibt sogar einen Tagebucheintrag von ihr, anlässlich des Ereignisses. Lass mich mal nachsehen. Megan tastete nach ihrem iPhone, das in seiner roten Silikonhülle leicht zu finden war. Im Internet, ja überhaupt in diesem ganzen Informationszeitalter mit seinen immer neuen Tools war sie in ihrem Element. Tatsächlich fragte sie sich oft, wie sie früher ohne all die praktischen Neuerungen der Technik auskommen konnte. Es war ihr mittlerweile schleierhaft, wie es ihr damals gelingen konnte, ihren immer noch relevanten Wälzer über die „Geburt des Mythos Beethoven zu schreiben. Damals war sie bei ihren Recherchen statt auf Internet und Google auf echte Bibliotheken und echte Bücher angewiesen, und nicht zu vergessen, auf ihr unvergessliches gelbes Lineal als Forschungswerkzeug.

    „Der Punkt ist, dass Victoria diesen Fauxpas nicht als beleidigend empfand, wie einige andere aus ihrem Gefolge, sondern einfach nur als unglücklichen Moment. Ah, da ist die Stelle: Als die Statue enthüllt wurde, drehte sie uns bedauerlicherweise den Rücken zu."

    „Das ist alles? Mehr schrieb sie dazu nicht in ihr Tagebuch?"

    „Tja. Das ist alles. Kein weiterer Kommentar."

    „Nun, apropos Kommentar, was hältst du selbst als Kunsthistorikerin von dem Bonner Beethoven-Denkmal?", fragte Will, ernsthaft interessiert an dem Urteil seiner Kollegin über die Bronzefigur, deren Sockel aus dem massiven Zementfundament unmittelbar vor ihnen emporwuchs.

    „Mir gefällt sie. Sehr sogar. Schließlich musste ein großer Kompromiss gefunden werden: einerseits sieht man die bildhauerische Akkuratesse anhand des Gesichts und der zeitgemäßen Kleidung, andererseits wird die Ausstrahlung des Heroischen vermittelt. Ich glaube, das ist Hähnel wirklich gelungen. Einerseits sind zum Beispiel seine Krawatte und die Jackenknöpfe ganz realistisch dargestellt, genauso, wie es in der damaligen bürgerlichen Kleidungsordnung üblich war. Andererseits repräsentiert der lange Umhang ganz deutlich das klassische Ideal und verwandelt ihn, während er mit dem Stift in der Hand voranschreitet, regelrecht zum Halbgott. Seinen Blick hat er nicht auf den Bonner Münster gerichtet, sondern er schweift ins Unendliche. Ganz wie seine Musik. Das ist der Stoff, aus dem dann der gigantische, weltweite Beethoven-Mythos gemacht ist!"

    Noch bevor Will auf den enthusiastischen Kommentar seiner Kollegin antworten konnte, kam sie mit leuchtenden Augen auf ein ganz anderes Thema zu sprechen:

    „Aber reden wir doch mal über China!"

    Megan meinte damit ihre unmittelbar in dieser Woche bevorstehende gemeinsame Viking-Kreuzfahrt entlang der chinesischen Küste, die sie schon Monate zuvor gebucht hatten. Ihre Reiseroute würde sie zunächst von Bonn zum internationalen Flughafen Frankfurt bringen, für viele amerikanische Touristen der aufregende erste Kontakt mit Deutschland, für die vielreisende Megan ein schon gewohnter Ort des Ankommens, Umsteigens und wieder Abfliegens. Von dort aus startete mitten in der Nacht ein Air-China-Flug, mit dem sie aufgrund der gegenläufigen Zeitverschiebung schon am darauffolgenden Morgen um kurz nach sieben Uhr Ortszeit in Peking landen würden. Das war selbst für Megan neu.

    Die Reise war Wills Idee gewesen, denn er hatte zu Recht gehofft, dass sich seine kunstgeschichtlich so bewanderte, langjährige Freundin genauso für die beiden großen chinesischen Beethoven-Denkmäler interessieren würde wie er selbst. Das eine stammte aus dem zwanzigsten Jahrhundert und befand sich in Tianjin, der großen Hafenstadt vor Peking. Das andere stammte aus dem ersten Jahr des einundzwanzigsten Jahrhunderts und stand in Qingdao, wo ihr Schiff ebenfalls anlegen würde. Will rekapitulierte in Gedanken noch einmal die Daten und Fakten, mit denen er Megan die gemeinsame China-Reise schmackhaft gemacht hatte. Das Beethoven-Denkmal in Tianjin war eine lebensgroße, bis hin zu den Details der Kleidung exakte Nachbildung des Wiener Beethoven-Denkmals aus dem Jahr 1880, das der renommierte Bildhauer Caspar von Zumbusch damals geschaffen hatte. Auf Fotografien hatte Will gesehen, dass lediglich die Haarmähne des etwas verdreht sitzenden Komponisten ein wenig anders gestaltet war: Der chinesische Beethoven hatte auffallend lockiges Haar, scheinbar durchweht von einer unsichtbaren Brise.

    Was nun das Denkmal in Qingdao betraf … Wills geistiges Bild wurde jäh von donnernden Posaunenstößen in unmittelbarer Nähe unterbrochen. Eine für das Instrument völlig unpassende a-Moll-Melodie quälte sich in verzerrten Stößen bis zu Wills Trommelfell und er erkannte eine vage Ähnlichkeit mit Beethovens bekannte Klavierbagatelle aus dem Jahr 1810, Für Elise. Die Posaune kam näher und als sich Will und Megan zu der Lärmquelle hinwandten, fiel ihr Blick auf ein regelrechtes Spektakel, eine in buntem Durcheinander heranmarschierenden Menschenmenge. Die Menge war klein, aber laut. Es schienen Studierende zu sein, Megans Blick fiel auf eine junge Frau mit Bongos unterm Arm. Ein schwarzer, distinguierter, schon etwas älterer Herr mit einem prägnanten Schnurrbart schien die Demonstration anzuführen. Erst als die jungen Leute anfingen, einen Kreis um das Beethoven-Denkmal zu bilden und dabei einen wiederkehrenden Slogan zu skandieren, bemerkten Will und Megan, dass der Großteil der Demonstranten schwarz war. In Amerika war das normal. Aber hier? Der Sprechgesang wurde lauter, als die immer größer werdende Gruppe die stumme Hähnel-Statue umringte.

    „Beethoven war schwarz!", riefen die durchwegs jungen Demonstranten im Chor. Einige der Studierenden hielten Transparente mit dem Slogan in die Höhe. Auf einem Poster war in starker Vergrößerung das berühmte Antlitz des Komponisten zu sehen, wobei seine legendären, dunklen, saturnischen Gesichtszüge plakativ hervorgehoben waren.

    Ein hochgewachsener junger Mann mit Dreadlocks trat plötzlich aus der Gruppe heraus und wandte sich der wachsenden Schar neugieriger Schaulustiger zu. Er war demonstrativ im Biedermeierstil der Beethovenzeit gekleidet, wie Beethoven auf dem Sockel daneben, nur in Farbe: mit einem weißen Halstuch und einer blauen Jacke mit goldenen Knöpfen. Er hielt ein Megafon an seine Lippen und begann eine flammende Rede, deren Schlüsselwörter, soweit Megan und Will des Deutschen mächtig waren, „Polyrhythmie, „linke Hand, „bester Freund und „Geigenvirtuose lauteten.

    Das letztere Wort veranlasste den Posaunisten, nach vorne zu treten und ein ansteigendes Arpeggio mit vier Tönen zu schmettern, die entfernt an die ersten vier Takte von Beethovens Kreutzersonate erinnerten. Aber die konnte es unmöglich sein. Oder doch? Die beiden Liebhaber von Beethovens Musik am ersten Tisch auf der Terrasse des Café Midi, Megan und Will, sahen sich verdutzt an.

    Die Posaune lieferte sogleich die Antwort. Die Melodie war fünfzehn Takte nach vorne gesprungen und kam gerade zum ersten Presto der berühmten Sonate für Violine und Klavier. Und dann kam gleich die nächste musikalische Überraschung. Das Mädchen mit den Bongos setzte sich neben dem Posaunisten auf den Boden und trommelte mit kaskadenartigen, abrupten Schlägen los, abwechselnd mit gedämpften Dreifingerzügen.

    „Das ist wohl die ‚polyrhythmische‘ Begleitung, die der Student vorhin meinte", sagte Megan fröhlich. Sie erinnerte sich an ihre eigene Studentenzeit, als sie sich mit dem ersten Geld nicht etwa einen Lippenstift oder ein schickes Tuch gekauft hatte, sondern – ein hübsches Bongo-Set.

    „Ja, ich glaube, all das bezieht sich auf die theoretische Annahme, dass Beethoven afrikanische Wurzeln gehabt haben könnte. Manche wollen in seinen Klaviernotationen für die linke Hand afrikanische Polyrhythmen erkennen – vorausgesetzt, dass der Pianist die linke Hand lauter als üblich spielt. Dann kann man angeblich afrikanische Gesangs-, Tanz- und Musikstrukturen erkennen", sagte Will, wenig überzeugt.

    „Das ist ziemlich weit hergeholt! Aber tatsächlich erinnere ich mich lebhaft, dass damals, als ich für mein Beethoven-Buch recherchierte, auch eine solche Theorie kursierte und mit öffentlichen Demonstrationen vor allem bei uns in Amerika publik gemacht wurde. Da gab es sogar passende T-Shirts mit dem Slogan ‚Beethoven war schwarz‘."

    „Richtig! Gehörte schon zur Black-Power-Bewegung der Sechzigerjahre. Ich erinnere mich auch daran. Die Beethoven-was-Black-Theorie scheint alle dreißig Jahre neu aufzupoppen. Das hier ist anscheinend der neueste Fall." Will musste fast schreien, denn das musikalische Getöse übertönte bereits ihre Unterhaltung.

    „Was, glaubst du, ist der Grund? Auch Megan hatte ihre Stimme erhoben, um von Will gehört zu werden, und noch lauter rief sie ihm zu: „Wir wissen ja, dass Beethovens Familienname flämischen Ursprungs ist und dass der Name mit ‚Rübenfeld‘ übersetzt werden kann. Und anders als das deutsche ‚von‘ bezeichnete das ‚van‘ nicht etwa eine adelige Herkunft, wie Beethoven die Leute in Wien gerne glauben ließ, sondern ‚van Beethoven‘ bedeutet einfach ‚vom Rübenfeld‘ auf Niederländisch. Was also soll dafür sprechen, dass er afrikanischer Abstammung gewesen wäre?

    „Es gibt die Annahme, dass irgendwann in seiner Abstammung maurisches Blut in sein Genom eingeflossen sei – entweder mütterlicherseits oder väterlicherseits", antwortete Will.

    „Aber dafür gibt es doch nicht den geringsten Beweis!" Megan hatte die genealogische Herkunftsgeschichte Beethovens eingehend studiert, und der Gedanke, dass Beethovens Mutter, Maria Magdalena Keverich, afrikanischer Abstammung gewesen sein könnte, erschien ihr besonders abstrus.

    „Sie war die Tochter des Hofkochs am Erzbistum Trier und es gibt absolut keine Aufzeichnungen darüber, dass sie oder ein Elternteil schwarz gewesen wären."

    „Erklär das mal den Leuten hier", meinte Will.

    „Und hast du eine Ahnung, warum sie auch irgendwas mit ‚bester Freund‘ rufen?", fragte Megan.

    „Ich denke schon. Sie beziehen sich wahrscheinlich auf Beethovens Freundschaft mit dem jungen schwarzen Geigenvirtuosen George Bridgetower. Beethoven komponierte diese technisch höchst anspruchsvolle Violinsonate für ihn – nicht für die Posaune! – und die beiden brachten sie gemeinsam zur Uraufführung. Beethoven betitelte das erste Autograf scherzhaft Sonata mulattica composta per il mulatto Brischdauer – Komma! – gran pazzo e compositore mulattico. Nun, wie würdest du das übersetzen, Dottoressa Crespi?"

    „Hm, ich denke, das wird am besten ‚Sonata mulattica, komponiert für den Mulatten Bridgetower‘ übersetzt. Und nach dem Komma unterzeichnete Beethoven die Widmung nicht mit seinem Namen, sondern mit ‚großer Verrückter und Mulatten-Komponist‘ und meinte sich selbst damit. Das war ganz typisch für Beethovens Humor, den er in jüngeren Jahren noch hatte."

    „Ganz genau. Aber kurze Zeit später gerieten sie über eine junge Frau in Streit, in die sich beide verliebt hatten und daraufhin schrieb Beethoven seine Widmung um, sie lautete dann zu Ehren des französischen Geigenvirtuosen Rodolphe Kreutzer, er signierte mit seinem eigenen Namen, und seither wird sie Kreutzersonate genannt. Ironischerweise hat Kreutzer die Sonate offenbar nie gespielt, er fand sie zu schwierig. Er bezeichnete sie sogar öffentlich als ‚unverständlich‘."

    Genau in diesem Moment, auf ein Signal des jungen Mannes mit Dreadlocks hin, verstummten Rufe und Bongotrommeln. Das an eine Karikatur grenzende Plakatporträt Beethovens wurde für alle sichtbar in die Höhe gehalten.

    Megan identifizierte es sofort als eine Kopie des Schwarz-Weiß-Stichs des Wiener Künstlers Blasius Höfel aus dem Jahr 1814. Das Bild war beträchtlich vergrößert worden, und eingefärbt: ein gelbliches Braun für den Teint und ein glänzendes Schwarz für die gewellte Haarmähne. Die neugierige Menge wuchs von Minute zu Minute, doch als der Junge mit den Dreadlocks erneut sein Megafon schwang und laut deklamierend auf das Bild zeigte, wurde es still.

    „Jedes Detail hier bestätigt, dass Beethoven schwarz war! Beethoven was black! Jeder kann es sehen: dichtes, schwarzes, lockiges Haar, ein dunkler Teint, eine flache, breite Nase und ein breiter Mund. Seine Haut war so dunkel, dass die Zeitgenossen ihn als ‚Spanier‘ oder ‚Mulatte‘ bezeichneten. Was wollen Sie noch …"

    Ein 116 Dezibel lautes Projektil traf den Jungen in den Hals und tötete ihn auf der Stelle. Nur der schmale, sehr kurze Lauf der 22-Kaliber-Pistole blitzte den Bruchteil einer Sekunde lang aus der Jacke des Schützen hervor, doch ihr Besitzer verschwand ebenso wie alle anderen in der erschrocken auseinanderlaufenden Menge.

    4

    Man könnte sagen, dass er Beethoven bis zum Exzess verehrte. Oskar Schnösel war der Spross einer gutsituierten Wiener Berufsmusikerfamilie, und schon als Kind erkannte er, jedes Mal stolz auf sich selbst, welche der neun Sinfonien Beethovens gerade im Radio übertragen wurde. Er war sowohl am Klavier als auch an der Geige begabt, doch einen Namen hatte er sich erst im Alter von dreiundzwanzig Jahren gemacht, und zwar als streitbarer Musikwissenschaftler.

    Sein erster Artikel und seine Thesen zur bekannten Tatsache, dass Richard Wagner einen Großteil seiner musikalischen Form und Inspiration Beethoven verdankte, hatte in der Musikwelt viele aufhorchen lassen und teils verärgerten Widerspruch hervorgerufen.

    Der Artikel trug den provokanten Titel „Wagner: Beethovens bester und schlechtester Schüler". Ein Aufschrei war durch Teile der Musikwelt gegangen, und Oskar hatte sich damit seinen hohen, wenn auch umstrittenen Bekanntheitsgrad dauerhaft gesichert. Seine körperliche Erscheinung wirkte genauso kämpferisch wie seine Publikation. Ein blonder Bürstenschnitt verlieh ihm einen aggressiven Ausdruck und seine prominent hervorstehende Nase sah aus, als wäre sie permanent aus den Fugen geraten.

    In den vergangenen siebzehn Jahren seit seiner großen Publikation hatte Oskar all seine Kräfte ausschließlich in ein einziges Projekt investiert: in die Errichtung eines interaktiven Museums für Beethoven in Wien, dort, wo der Komponist seine letzten 35 Jahre verbrachte und seine größten Werke komponierte.

    Oskar war es dank eines unerwarteten Familienerbes gelungen, das Museum mit seinen vierzehn Ausstellungsräumen unter dem Namen Beethoven und Du in der Probusgasse in Heiligenstadt, im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk anzusiedeln, und zwar buchstäblich im Anschluss an die Hausnummer 6. Genau dort, an dieser inzwischen legendären Adresse, hatte der einunddreißigjährige Komponist seinen beiden Brüdern in einem traurigen, nie abgeschickten Brief seine Taubheit eingestanden. In Oskars Museum war ein ganzer Raum dem als Heiligenstädter Testament bekannt gewordenem Brief geweiht. Auf drei Wänden konnte man den stark vergrößerten Text in sechs Sprachen, darunter Mandarin, Englisch und Arabisch, lesen. Die vierte Wand zierten drei lebensgroße, im Stil der damaligen Zeit gekleidete Schattenfiguren: Die Silhouette von Beethoven am Schreibtisch sitzend, ihm gegenüber seine beiden Brüder Karl und Johann.

    Die Wiener Presse war zu gleichen Teilen gespalten in schwärmerischen Beifall und frömmelndes Herabwürdigen, und das setzte sich in den internationalen Medien fort – ein entscheidender Faktor, wenn es darum ging, Horden von neugierigen Besuchern aus aller Welt in sein Museum zu locken. Unmittelbar vor der Wandsilhouette luden ein echter historischer Schreibtisch und ein Stuhl die Besucher ein, mit Feder und Tinte zu experimentieren und aufzuschreiben, warum ihrer Meinung nach Beethoven seinen Bruder Johann seltsamerweise nie namentlich im Heiligenstädter Testament erwähnte. Wöchentlich wurde die interessanteste Erklärung ausgewählt und auf dem Schreibtisch präsentiert. Das war es, was Oskar unter „interaktiv" verstand: Eine Garantie für Wiederholungsbesuche.

    In den angrenzenden Räumen waren Kopien von Gegenständen aus dem Besitz des Komponisten ausgestellt, darunter eine Reihe von Beethovens Hörrohren und Ohrtrompeten zum Ausprobieren, sowie Repliken von Beethovens Porträts zusammen mit Abbildungen seiner männlichen und weiblichen Zeitgenossen. Mehrere der letzteren wurden als mögliche „unsterbliche Geliebte" des Komponisten hervorgehoben. Die größte Attraktion jedoch war ein lebensgroßer Pappkamerad in Gestalt von Hähnels stehendem Bonner Beethoven mit einem ausgeschnittenen Loch, durch das die Besucher ihr eigenes Gesicht stecken und für Fotos posieren konnten. Das Fotografieren, auch mit Blitz, war im ganzen Museum erlaubt.

    Der bei Weitem innovativste und beliebteste Raum war ein großes, schalldichtes, mit mehreren Fenstern ausgestattetes Klavierzimmer mit den exakten Nachbildungen zweier berühmter Flügel, auf denen Beethoven selbst gespielt hatte. Da stand zum einen der robuste Broadwood-Flügel, mit dem Schriftzug BEETHOVEN eingelegt in das Ebenholz des Fallbretts über den Tasten. Schon 1823 war das englische Originalinstrument dank Beethovens wildem Spiel einerseits und wegen seiner vielen Übersiedlungen andererseits zu einem traurigen Gebilde mit stummen Tasten, gebrochenen Hämmern und gerissenen Saiten heruntergekommen. Das zweite Instrument war eine Nachbildung des Conrad-Graf-Flügels aus demselben Jahr, mit einer schnellen, leichten Mechanik und klarem, nuancierten Klang, das der Wiener Klavierbauer damals Beethoven als Ersatz für den Broadwood angeboten hatte. Die meisten Saiten waren vierfach bespannt, anstatt der traditionellen dreifachen Bespannung, um die höheren Töne für den tauben Komponisten zu verstärken. Zum Preis von vierundzwanzig Euro konnte man den Raum jeweils fünf Minuten lang mieten und beide Klaviere ausprobieren.

    Es gab viele Enthusiasten, die die Mechanik und den Klang der beiden legendären Instrumente vergleichen wollten, und die Warteliste war stets lang. Auf jedem Notenständer befand sich die gleiche Partitur, und das war, wie nicht anders zu erwarten, Beethovens revolutionäre vierzehnte Klaviersonate mit ihren drei Sätzen, die sich untypisch von langsam über mittel bis schnell entwickelten. Die Welt kennt sie als die Mondscheinsonate nach den beschreibenden Worten des Musikkritikers Ludwig Rellstab. Unnötig zu erwähnen, dass Oskars Museum einen Teil seiner beträchtlichen Einnahmen aus der überwältigenden Anziehungskraft des Klavierzimmers bezog.

    Zudem verfügte das Museum über einen faszinierenden Dokumentenraum voll mit bisher unbekannten Notenblättern in der Handschrift des Komponisten, sicher versperrt, doch für alle zu sehen in einer Reihe von Glasvitrinen. Wie die wertvollen Autografe in den Besitz des Museums gelangt waren, blieb ein streng gehütetes Geheimnis, doch es gab Gerüchte über eine Zusammenarbeit mit passionierten Beethoven-Sammlern und Spezialisten aus dem Fernen Osten. Oskars Museum kam hervorragend an.

    Ein Museumsbesucher aus China hatte ihm allerdings kürzlich eine harsche Kritik zugesandt. Offenbar empörte er sich über den stehenden Beethoven aus Pappe mit dem Loch anstelle des Gesichts, durch das die Besucher ihre eigenen Köpfe stecken konnten, um sich fotografieren zu lassen. Der Brief hatte den kargen Wortlaut: „Sie haben Ihr Museum in einen Kindergarten verwandelt!. Unterzeichnet war er schlicht mit „ein Beethoven-Verehrer, der Poststempel lautete auf „Qingdao", eine Hafenstadt in China.

    Jeder der neun weiteren Räume war in chronologischer Reihenfolge einer der neun Sinfonien Beethovens gewidmet. Die Farbgestaltung der einzelnen Räume sollte den besonderen Charakter und, so weit möglich, auch die Botschaft der jeweiligen Sinfonie vermitteln und zum „Lustwandeln" in Beethovens Musik einladen. Die Erste mit ihren klassischen Wurzeln präsentierte sich in sanftem Porzellanblau und strahlendem Weiß. Passend zur heiteren Natur der Zweiten war der ihr zugeordnete Raum in sonnigem Gelb gehalten, während für die Dritte, vom Komponisten selbst Eroica betitelt, blutrote Töne verwendet worden waren, um die musikalische Anspannung und Verzweiflung zu vermitteln, während die heroischen Aspekte von kontrastierenden Silbernuancen an der Decke symbolisiert wurden. Die weniger bekannte Vierte mit ihrem Verweis auf den Klassizismus und der Dynamik ihres packenden Finales, spiegelte sich in sämtlichen Blautönen an den Wänden wider. Für die erhebende und mitreißende Fünfte, definiert durch ihre acht ersten Noten, waren acht Farbkreis-Explosionen in den Deckenhimmel gemalt. Der Raum für die Sechste, ganz im Sinne von Beethovens Titel Pastorale, war mit einem sich allmählich bis zur himmelblauen Decke emporwindenden Kranz von natürlichen Grüntönen ausgestattet, dazu zwitscherten lebendige Vögel in herabhängenden Käfigen. Die lebensfrohe Siebte, drei Jahre nach dem Ende von Napoleons zweiter Belagerung Wiens vollendet, und ihre von feierlichen Gefühlen und rhythmischen Tanzelementen erfüllte Partitur, wurde an Wänden und Decke mit Silber und Gold gleichgesetzt. Die kurze Achte mit ihren wechselnden orchestralen Klangfarben und rhythmischen Obsessionen inspirierte spiralförmige, mehrfarbige Sternschnuppen, die an den Wänden entlang und über die Decke hinweg flogen. Und der Raum für die gigantische, alles krönende Neunte, von Beethoven selbst als Chorsinfonie bezeichnet, bot alle Farben des Regenbogens als Gruß der reinen Freude.

    Der größte Raum des Museums fungierte als kompakter, aber akustisch hervorragender

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