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Vergiss die Alten nicht: Hohes Lebensalter als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft
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eBook255 Seiten2 Stunden

Vergiss die Alten nicht: Hohes Lebensalter als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Der Alterungsprozess unserer Gesellschaft ist offensichtlich, wird jedoch sehr verschieden beurteilt. Liegt darin eine Chance für neue Solidarität zwischen den Generationen? Können die Herausforderungen für die Begleitung und die Pflege alter Menschen gemeinsam geschultert werden? Welche neuen Veranstaltungsformen werden dafür in der Gemeinde und in der Kirche benötigt?
Fachleute und Praktiker aus der Altersforschung, der Pastoral und der Diakonie haben sich im Januar 2018 bei einem Symposion der Theologischen Fakultät Fulda mit dem Diözesancaritasverband, dem Seelsorgeamt und dem Seniorennetzwerk Fulda darüber ausgetauscht. Dieser Band trägt die Ergebnisse und Vertiefungen zusammen und lädt zu neuer Reflexion und Praxis ein.
SpracheDeutsch
HerausgeberEchter Verlag
Erscheinungsdatum10. Sept. 2018
ISBN9783429064082
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    Buchvorschau

    Vergiss die Alten nicht - Richard Hartmann

    Integration der Verletzlichkeits-, Potenzial- und Sorgeperspektive als theoretisch-konzeptioneller Hintergrund des Siebten Altenberichts

    Andreas Kruse

    Zusammenfassung: Zunächst erfolgt eine Definition des Alterns, das als lebenslanger Prozess kontinuierlicher Veränderung der lebenden Substanz (Biomorphose) verstanden wird. Dabei wird zwischen physiologisch-biologischem, psychologischem und sozialem Altern differenziert. Im Kontext des biologischen Alterns ist die Unterscheidung zwischen deterministischen und stochastischen Ursachen zentral; letztere weisen auf die Formbarkeit (kulturelle und individuelle Gestaltbarkeit) des Alterns hin. Einer kurzen Erörterung der genetischen Einflüsse auf die Lebensdauer folgt die Diskussion des Konzepts der Morbiditätskompression, das die kulturelle und individuelle Gestaltbarkeit des Alternsprozesses noch einmal ins Zentrum rückt. Die in dem Beitrag vorgenommene Analyse der psychischen Entwicklung im hohen und sehr hohen Alter gründet auf den Konstrukten „Ich-Integrität, „Gerotranszendenz und „Generativität, die ausführlich diskutiert werden. Im thematischen Kontext des Generativitäts-Konstrukts erfolgt ein Verantwortungsdiskurs, in dem zwischen verschiedenen Verantwortungsbezügen differenziert wird, die in ihrer Gesamtheit ein verändertes, nämlich potenzial-orientiertes Verständnis des hohen und sehr hohen Alters nahelegen. Anknüpfend an diesen Diskurs wird aufgezeigt, dass gerade mit Blick auf das hohe und sehr hohe Alter die Integration der Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive wichtig ist, wobei hier besonders die Entwicklungsmöglichkeiten interessieren, die sich in Phasen deutlich erhöhter Verletzlichkeit ergeben. Die Erörterung zentraler Merkmale einer altersfreundlichen Kultur schließt sich an. Der Beitrag setzt mit einer kurzen Analyse der Kreativität Johann Sebastian Bachs in den letzten Jahren seines Lebens fort – diese Analyse veranschaulicht noch einmal die Notwendigkeit der Integration von Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive. In einem zweiten Teil wendet sich der Beitrag zentralen Aussagen des Siebten Altenberichts der Bundesregierung zu, der im Jahre 2016 von der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag angenommen wurde. Dieser Bericht konzentriert sich unter anderem auf die Verantwortung der Kommunen für die Entwicklung neuer „sorgender Gemeinschaften wie auch auf das Potenzial solcher Gemeinschaften für die Förderung von Autonomie und Teilhabe im höheren und hohen Alter.

    1. Altern

    Im allgemein biologischen Sinne bezieht sich der Begriff Altern auf die Tatsache, dass die lebende Substanz über den gesamten Lebenslauf einer fortschreitenden Wandlung unterworfen ist. Dieser Prozess wird auch als Biomorphose beschrieben:¹ Unter Altern ist demnach jede irreversible Veränderung der lebenden Substanz als Funktion der Zeit zu verstehen. Diese für die biologische und psychologische Alternsforschung zentrale Auffassung lässt sich auch anhand der in der römisch-lateinischen Literatur zu findenden Stufenleiter der Natur (scala naturae) veranschaulichen: Natura non facit saltum (die Natur kennt keine Sprünge). Mit anderen Worten: Die Veränderungen in unserem Organismus wie auch in unserer Persönlichkeit vollziehen sich allmählich, sie sind gradueller Art.² Auf das Verständnis von Alter angewendet, heißt dies: Die Abgrenzung eines eigenen Lebensabschnitts Alter ist nicht möglich. Vielmehr ist von Alternsprozessen auszugehen, die sich über die gesamte Biographie erstrecken und die im Sinne von graduellen Veränderungen zu interpretieren sind. Mit Blick auf körperliche und seelisch-geistige Veränderungen in der Biographie wird in der Forschung die Frage gestellt, inwieweit diese Veränderungen kontinuierlicher oder aber diskontinuierlicher Natur sind.³ Im Falle des Ausbleibens von schweren Krankheiten oder von hoch belastenden, die Person langfristig überfordernden Lebenskrisen ist von kontinuierlichen Veränderungen in der Biographie auszugehen. Bei schweren Erkrankungen, die die Anpassungsfähigkeit des Organismus überschreiten und diesen gravierend schädigen, nimmt die Wahrscheinlichkeit diskontinuierlicher Veränderungen erkennbar zu. Dies zeigt sich vor allem bei der Demenz, die zu erheblichen Brüchen (Diskontinuität) in der körperlichen und seelischgeistigen Entwicklung des Menschen führt. Aber auch bei traumatisierten Menschen sind nicht selten Brüche in der seelisch-geistigen Entwicklung erkennbar.⁴

    2. Verschiedenartigkeit von Alternsprozessen

    Mit Blick auf die Entwicklung im Altern wird zwischen physiologisch-biologischem, psychologischem und sozialem Altern unterschieden.⁵ In diesen drei Dimensionen folgen Entwicklungsprozesse sehr verschiedenartiger Entwicklungsgesetze. In der physiologisch-biologischen Dimension sind eher Verringerungen der Anpassungsfähigkeit und der Leistungskapazität des Organismus erkennbar, die sich in einer erhöhten Verletzlichkeit oder Anfälligkeit des älteren Menschen für Erkrankungen äußern. In der psychologischen Dimension finden sich sowohl Gewinne als auch Verluste:⁶ Gewinne sind vor allem in jenen Bereichen zu beobachten, die auf Erfahrung und Wissen sowie der gelungenen Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben in früheren Lebensjahren beruhen. Verluste treten eher in Bereichen auf, die in hohem Maße an die Umstellungsfähigkeit von Nervenzellverbänden gebunden sind, wie zum Beispiel das Kurzzeitgedächtnis oder eine hohe Geschwindigkeit im Denken. In der sozialen Dimension ist mit Alter auf der einen Seite der Verlust bedeutsamer sozialer Rollen verbunden. Zugleich bedeutet in unserer Gesellschaft das Ausscheiden aus dem Beruf für nicht wenige Menschen eine späte Freiheit, da sie zu diesem Zeitpunkt nicht nur über eine gute Gesundheit, sondern auch über zufrieden stellende materielle Ressourcen verfügen und die Alterssicherung in unserem Land (verglichen mit anderen Ländern, verglichen mit der Sicherung von Kindern) relativ hoch und stabil ist. Die soziale Dimension zeigt aber auch, dass der Einfluss kultureller Deutungen des Alters auf den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Alter sehr hoch ist.⁷ Erst allmählich setzt sich in unserer Gesellschaft ein kultureller Entwurf des Alters durch, der die seelisch-geistigen und sozialkommunikativen Stärken älterer Menschen betont und in diesen eine Grundlage für die kreative Lösung von gesellschaftlich relevanten Fragen sieht (zum Beispiel durch bürgerschaftliches Engagement).⁸ Neben der Notwendigkeit, zwischen physiologisch-biologischem, psychologischem und sozialem Altern zu differenzieren, ist es auch wichtig, die positive Beeinflussbarkeit von Entwicklungsprozessen (hier wird auch der Begriff der Plastizität verwendet) im Alter aufzuzeigen. Die Plastizität körperlicher wie auch seelisch-geistiger Prozesse im Alter wird heute erheblich unterschätzt. Die positiven Effekte des körperlichen und geistigen Trainings auf die Leistungsfähigkeit sprechen für ein hohes Maß an Plastizität und damit für die positive Beeinflussbarkeit von Entwicklungsprozessen im Alter.⁹

    3. Biologisches Altern: Deterministische und stochastische Ursachen

    Im biologischen Sinne meint Altern, dass die lebende Substanz über den gesamten Lebenslauf einer fortschreitenden Wandlung unterworfen ist. Dabei ist zwischen deterministischen und zufällig auftretenden (oder stochastischen) Ursachen des Alternsprozesses zu differenzieren.¹⁰

    Zu den deterministischen Ursachen gehört insbesondere, dass Zellen sich nicht unendlich oft teilen können und die Lebensfähigkeit des Gesamtorganismus durch den Ausfall von Zellen begrenzt ist. Dies ist ein Prozess, der untrennbar mit unserer biologischen Ausstattung verknüpft, unvermeidlich und in seinem Verlauf auch nicht beeinflussbar ist. Eine Ausnahme bilden Krebszellen, die nicht altern und sich uneingeschränkt teilen können. Die DNA liegt als sehr langer Faden in den Chromosomen im Zellkern. Bei der Zellteilung werden die beiden Stränge der DNA, Bauanleitung und Negativ, voneinander getrennt. Mit jeder neuen Zellteilung werden die lang gestreckten (linearen) Chromosomen ein wenig kürzer. Ist das Chromosom signifikant verkürzt, wird bei der nächsten Verkürzung ein wichtiges Gen unleserlich. Dies führt dann zu einem permanenten Teilungsstopp: Wichtige Informationen zur Durchführung der nächsten Teilung können nicht mehr gelesen werden. Als deterministische Alternsursachen sind auch Zell-Todesgene zu nennen. Wird ihre Information aktiviert, töten sie die betreffende Zelle. Das p53 Protein schützt die Zelle, damit diese gefährliche Information nicht abgelesen wird. Der programmierte Zelltod, die Apoptose, ist hingegen für die Reifung des Gehirns beim ungeborenen Kind essenziell: Nur die richtig miteinander verbundenen Nervenzellen sollen am Leben bleiben. Alle falsch geschalteten Nervenzellen werden entfernt. Dies ist übrigens ein sehr früher, genetisch gesteuerter Reifungs- und Alterungsprozess im Gehirn.

    Zu den stochastischen, also zufällig auftretenden Altersursachen gehören vor allem Schädigungen der DNA. Fehler-Katastrophentheorien nehmen an, dass mutagene Faktoren für eine fehlerhafte Proteinbiosynthese verantwortlich zu machen sind, was zur Beeinträchtigung von Zellfunktionen und bei Überschreiten einer kritischen Fehlerhäufigkeit zur Katastrophe (Tod) führen sollte. Für zahlreiche Arten und Zelltypen ist nachgewiesen, dass alte Zellen weniger gut in der Lage sind, Proteine mit fehlerhaften Aminosäuresequenzen zu entfernen. Ein geringer Anteil an DNA befindet sich in den Mitochondrien, in denen durch den Abbau von Fett- und Aminosäuren Energie gewonnen wird. Die mitochondriale DNA enthält wichtige Zusatzinformation für die Zellatmung. Im Vergleich zur im Zellkern liegenden chromosomalen DNA ist sie deutlich schlechter geschützt und wird kaum repariert. Infolge der hohen Sauerstoffkonzentration in den Mitochondrien, die für eine funktionierende Zellatmung unerlässlich ist, treten auf der mitochondrialen DNA erhebliche Schädigungen der Erbsubstanz durch oxidierende freie Radikale auf.

    Freie Radikale sind Moleküle, die ein einzelnes ungepaartes Elektron besitzen und infolge dieses instabilen Zustandes chemische Reaktionen auslösen, die wiederum Schädigungen von Zellmembranen und DNA zur Folge haben. Vor allem O2- und OH-Radikale greifen organische Moleküle an und tragen in einer Art Kettenreaktion zur Entstehung weiterer Radikale bei. Schädigungen durch freie Radikale sind insofern unvermeidlich, als diese Moleküle nicht nur durch Einflussfaktoren außerhalb der Zelle (zum Beispiel ionisierende Strahlung), sondern auch als Nebenprodukt normaler enzymatischer Reaktionen entstehen. Man schätzt, dass bei Menschen pro Tag und Zelle etwa 10.000 DNA-Schäden durch derartige Prozesse auftreten. Eine Kumulation der Schädigungen durch freie Radikale führt zum Ausfall der betroffenen Mitochondrien. Die Folge ist ein Mangel an energiereichen Phosphaten in der Zelle, was wiederum Alterungsprozesse beschleunigt.

    4. Erbanlagen und Lebensdauer

    Bis etwa zum 85. Lebensjahr steigt die Sterbewahrscheinlichkeit mit dem Alter exponentiell an, während für die noch höheren Altersgruppen eine flacher werdende Sterblichkeitskurve zu beobachten ist. Dies bedeutet eine Abweichung vom Gesetz der Mortalität, das Gompertz bereits im Jahre 1825 formuliert hat. Dessen zentrale Aussage lautet: Die Sterbewahrscheinlichkeit lässt sich durch einen altersunabhängigen Parameter und einen konstanten Faktor, um den die Sterbewahrscheinlichkeit mit dem Alter exponentiell zunimmt, bestimmen (µx = aebx). Die beobachtbare Abweichung von diesem Gesetz ist darauf zurückführen, dass nur jene Menschen ein sehr hohes Alter erreichen, die über besondere Erbanlagen verfügen und deren Immunsystem noch sehr gut in der Lage ist, Krebszellen zu vernichten. Die Bedeutung von Erbanlagen für die Langlebigkeit beim Menschen ist heute eindeutig belegt. Des Weiteren wurde in den letzten Jahren nachgewiesen, dass bei Organismen wie dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans das Vorhandensein einzelner Gene die individuelle Lebensspanne erheblich beeinflusst. Derartige Befunde sprechen – zumindest auf den ersten Blick – für die Idee einer genetischen Programmierung des Alterns; gleichzeitig ist zu beachten, dass es sich hierbei nur um eine sehr lockere Form von Programmierung handelt: Selbst unter der Voraussetzung einer Kontrolle von Genotyp und Umwelt zeigen sich bei Caenorhabditis elegans zum einen phänotypische Variationen, zum anderen Unterschiede in der Lebensdauer. Ergebnisse biochemischer Analysen zur Hochaltrigkeit sprechen zudem dafür, dass ein bestimmtes Leukozytenantigen im hohen Alter häufiger vorkommt und irreversible Schädigungen der chromosomalen DNA seltener auftreten. Befunde aus Zwillingsuntersuchungen zeigen, dass der mittlere Unterschied in der Lebensdauer zwischen zweieiigen Zwillingen etwa doppelt so groß ist wie jener zwischen eineiigen Zwillingen. Auch erreichen die Nachkommen hoch betagter Menschen im Durchschnitt ein höheres Lebensalter als die Nachkommen von Menschen, die früher verstorben sind. Hier ist zu berücksichtigen, dass sich auch bei monozygoten Zwillingen, die in ähnlicher Umgebung aufwachsen, ausgeprägte Unterschiede in Phänotyp und Lebensdauer finden.

    Die von Kirkwood¹¹ vorgeschlagene disposable soma theory geht von der Frage aus, wie der Organismus seine Ressourcen auf die Erhaltung zentraler Körperfunktionen verteilt. Der Körper altert dieser Theorie zufolge, weil es aus der Perspektive der Evolution ökonomischer ist, vorhandene Ressourcen in Fortpflanzung und nicht in Langlebigkeit zu investieren. Nach der Reproduktion wird der Körper „disponibel", das heißt, es besteht keine Notwendigkeit mehr zu einer genetischen Optimierung. Der Tod hat aus der Sicht dieser Theorie keine biologische Funktion: Organismen könnten durchaus einfach immer weiterleben. Dies ist allein infolge zunehmender (nicht mehr reparierter) Schädigungen nicht möglich.

    5. Morbiditätskompression

    Das Konzept der Morbiditätskompression wurde in den 1980er Jahren als Gegenentwurf zu der vielfach vertretenen Ansicht entwickelt, die durch den medizinischen Fortschritt gewonnenen Monate und Jahre würden in schlechterer Gesundheit verbracht, sodass der demografische Wandel entsprechend fatale Auswirkungen auf die Entwicklung der Kosten im Gesundheitssystem habe¹² (Der damit angenommene Prozess wurde übrigens mit dem Begriff Failure of Success, also des Scheiterns oder Versagens des Erfolgs belegt.). Das Konzept der Morbiditätskompression stellt demgegenüber ein positives Konzept dar, indem es sich am Ideal eines langen Lebens mit einer relativ kurzen Krankheitsphase vor dem Tod orientiert. Dieses Ideal soll insbesondere durch einen Rückgang der schweren chronischen Erkrankungen, wie zum Beispiel der kardiovaskulären Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen, erreicht werden. Es wird angenommen, dass die aufgrund der steigenden Anzahl älterer Menschen zu erwartende Zunahme der Krankheitslast wenigstens in Teilen dadurch aufgehalten werden kann, dass auf individueller Ebene eine im Durchschnitt geringere Krankheitsbelastung gegeben ist – woraus sich positive Effekte für die Stabilität des Gesundheitssystems ergeben. Eine Kompression der Morbidität lässt sich für die letzten Dekaden eindeutig nachweisen, und dies sogar mit einer relativ hohen Geschwindigkeit. Als Gründe für diese Entwicklung werden genannt: Abnahme des Zigarettenkonsums, medizinische Fortschritte, zum Beispiel verbesserte Behandlung des Bluthochdrucks, des Diabetes, der koronaren Herzerkrankung, sowie Entwicklung und Umsetzung präventiver Maßnahmen.¹³ In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass ein in späteren Generationen höherer Bildungsstand mit gesteigerten Selbstwirksamkeitsüberzeugungen einhergeht, die verstärkt zu gesundheitsfördernden Verhaltensweisen motivieren. Mit diesem Konzept verwandt ist jenes der aktiven oder behinderungsfreien Lebenserwartung, das von der Annahme ausgeht, dass Erkrankungen nicht zu Behinderungen führen müssen.¹⁴ Weiterhin wird angenommen, dass sich Erfolge der Prävention, Therapie und Rehabilitation nicht allein in einer Kompression der Morbidität, sondern auch im späteren Auftreten von Behinderungen widerspiegeln. Eine zentrale Frage, die im Kontext dieses Konzepts gestellt wird, lautet: Wie viele Jahre leben ältere Menschen ohne Einschränkungen ihrer Funktionstüchtigkeit? Aus einer lebenslauforientierten Perspektive ergibt sich die Notwendigkeit, schon in früheren Lebensaltern physische, kognitive und alltagspraktische Kompetenzen aufzubauen und systematisch zu fördern, die sich positiv auf die Leistungskapazität und Selbstständigkeit im Alter auswirken: Zum einen verfügt das Individuum im Alter über höhere Kompetenz, zum anderen zeigt es im Falle eingetretener Erkrankungen über eine höhere Kompensationsfähigkeit, die es in die Lage versetzt, auch bei chronischer Erkrankung die Mobilität wie auch die physische und kognitive Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.¹⁵ Schließlich sind auch im hohen Alter Maßnahmen zur Förderung der physischen, der kognitiven und der alltagspraktischen Kompetenz anzuwenden, um auf diese Weise die Ausbildung von Hilfe- oder Pflegebedarf bei chronischen Erkrankungen zu vermeiden.

    6. Psychische Entwicklungsgewinne im Alter: Ich-Integrität

    Nach Erik Homburger Erikson¹⁶ lässt sich die lebenslange Persönlichkeitsentwicklung als eine Sequenz von acht qualitativ voneinander abgrenzbaren, durch spezifische psychosoziale Krisen gekennzeichneten Phasen beschreiben. Persönlichkeitsentwicklung meint im Verständnis von Erikson vor allem Entwicklung von Ich-Identität, die auf dem – in sozialen Erfahrungen erworbenen – subjektiven Empfinden der eigenen Situation, der eigenen Kontinuität und Eigenart gründet. Zentral für das von Erikson vertretene Verständnis von Ich-Identität ist, dass diese (a) im Sinne einer immer wieder neu zu erbringenden und deshalb prinzipiell lediglich vorläufigen Integrationsleistung zu verstehen ist, dass diese (b) wesentlich von den angenommenen oder tatsächlichen Sichtweisen und Bewertungen anderer Menschen mitgeprägt ist, dass diese (c) nicht allein privaten, sondern immer auch gemeinschaftsbezogenen Charakter hat. Dabei stellt sich die Frage nach der Ich-Identität lebensalterspezifisch. Die Zufriedenheit des Menschen in verschiedenen Lebensaltern hängt systematisch mit der Lösung psychosozialer Krisen in früheren Lebensabschnitten und der Auseinandersetzung mit der jeweils thematischen psychosozialen Krise zusammen.

    Die für die einzelnen Phasen charakteristischen psychosozialen Krisen kennzeichnen im Verständnis von Erikson ein Spektrum von Aufgaben und Anforderungen, mit dem Menschen, die sich zu einer

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