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Dalriada: Ein schottisches Märchen
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eBook267 Seiten3 Stunden

Dalriada: Ein schottisches Märchen

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Über dieses E-Book

Bei einem Symposium über englische Gartenkunst lernt ein Ethnologe aus Österreich eine Schottin kennen. Gemeinsam fahren sie in den Norden und besuchen Edinburgh, die Hauptstadt Schottlands, das "Athen des Nordens"; das Schlachtfeld von Culloden, wo 1746 rebellische Schotten das neue protestantische Herrscherhaus der Hannoveraner bekämpften, die letzte Landschlacht auf britischem Boden; die Stadt Inverness, die Hauptstadt der Highlands, wo William Shakespeare zufolge die Burg Macbeths stand und König Duncan ermordet wurde; die Insel Mull, das Herzland des ehemaligen Königreiches Dalriada der aus Irland eingewanderten Skoten; und Iona, die Wiege des keltischen Christentums. Tagelang wandern sie durch die Highlands, und sie erzählt ihm vom ehemaligen Leben in den Clans, vom Schicksal ihres Vaters, der im Falkland-Krieg gekämpft hatte und innerlich schwer verwundet nach Hause kam, und weshalb – trotz allem – der keltische Sonnenkreis viel besser als das christliche Kreuz ihr Leben symbolisiere.
Ein literarisches Roadmovie, ein philosophischer Reise- und Liebesroman.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Feb. 2015
ISBN9783701179718
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    Buchvorschau

    Dalriada - Gerhard Streminger

    Prolog

    Als ich noch im Norden nahe der Küste lebte, sah ich dieses spezielle Wetterphänomen recht häufig. Aber dort, wo ich nun wohne, ereignet es sich nur sehr selten, vielleicht ein oder zwei Mal pro Jahr:

    Nach einem stürmischen Regen, der die Luft gereinigt hat, erstrahlt die Sonne wieder in voller Pracht. Der Blick, der lange Zeit eingeschränkt war, öffnet sich und erlaubt eine Sicht über viele Kilometer. Falls es immer noch stürmt, folgen der abziehenden, dunklen Wetterfront oft dutzende schneeweiße Wolken vor hellblauem Hintergrund. Bisweilen nähern sie sich so rasch, als wären sie von einem Vulkan knapp hinter dem Horizont in die Luft geblasen worden. Zumeist scheinen einige dieser Wattewolken noch eine unsichtbare Leiter zu erklimmen und werden, je näher sie kommen, größer und größer.

    Untermalt werden diese weißen Rauchzeichen am Himmel noch vom Rauschen des Windes, der Zweige und Blätter hin und her schüttelt. Dabei entsteht eine Klangwolke, die einmal nach oben hin anschwillt, dann wieder in die Tiefe sinkt. Aber Folge und Rhythmus der Töne sind gänzlich ungeordnet: Unerwartet kommen sie, und auf einmal sind sie wieder verschwunden. Manches Mal krachen Äste aneinander, und es entsteht ein kaltes Geräusch wie der jähe Schlag auf eine Trommel, der mich immer frösteln lässt.

    Das Blau der Himmelskuppel zusammen mit dem Wolkenspiel aus Licht und Schatten sowie das unvorhersehbare Grollen des Windes vermögen in mir in besonderer Weise Erinnerungen wachzurufen. Bilder tauchen auf, die ansonsten in der Nacht des Vergessens schlummern. Zumeist handeln sie von einem Sommernachmittag vor vielen Jahren, als ich auf einem einsamen Parkplatz in den schottischen Highlands Rast gemacht hatte: Vor mir ein riesiges Trogtal mit zwei kleinen Seen, in denen sich winzige Ausschnitte der kargen Hügellandschaft und des mächtigen Wolkengebildes spiegelten. Auch damals heulte der Wind, aber er zeichnete keine Wellenmuster in Gebüsche und in das Geäst der Bäume, sondern in das Heidekraut wie in das Fell eines riesigen Bisons. Über mir erstreckte sich auch kein blauer Ozean von Horizont zu Horizont mit einigen weißen Inseln, sondern der Himmel war fast bis zur Erde düster mit schweren Regenwolken behangen. Wenige Meter über mir türmten sich Wolkenbänke auf, die sich mit dumpfem Getöse aus allen Richtungen genähert und zum Teil ineinander verkeilt hatten.

    An einigen wenigen Stellen waren diese schwarzgrauen Ungetüme jedoch geborsten, und es öffnete sich ein kleiner Schacht, durch den grelles Sonnenlicht wie fließende Lava strömte. Vom Sturm wurden die Sonnenfenster über die Heide- und Moorlandschaft wie fliehende Schafe getrieben. Aber zwischendurch war es fast völlig windstill, und die Lichtflecken wanderten dann im Zeitlupentempo den Bergrücken entlang, oder schnell den Hügel hinab, über kleine verkrüppelte Birken und tiefe Furchen hinweg, überquerten die beiden Seen und kleinen Bäche, die wie blaugraue Arterien die Heide durchströmten. Schließlich stürmten die Sonnenfenster den schroffen Abhang hinauf … und verschwanden im Nichts. Wenn man jedoch über das Tal hinweg in die Ferne schaute, sammelten sich die Wolken zu einer so dichten und unheimlichen Wolkenmasse, als wäre dort die Nacht nicht nur an-, sondern ausgebrochen.

    Neben mir stand Heather, eingehüllt in ihren gelben Regenschutz. Ihren Kopf hatte sie noch zusätzlich durch ein breites Stirnband, gebunden aus einem Seidenschal, vor Wind und Nässe geschützt. Wie in alten Filmen bei extremer Zeitlupe tauchten wir gemeinsam einmal in Licht, dann wieder in Dunkelheit. Zuweilen rüttelte der Wind so heftig an unseren Körpern, dass wir uns mit Gewalt dagegen stemmen mussten. Als holte sich die Erde gelegentlich neue Kraft, war es zwischen den Windstößen oft längere Zeit vollständig ­ruhig. Nach diesen Phasen der Erholung brach jedoch neuerlich der Sturm los, und wir mussten unsere ganze Kraft aufbieten, um ihm zu trotzen. Ein ständiges Auf und Ab hatte die Gegend erfasst, so als atmete die Erde gerade an dieser Stelle tief ein und aus. Einmal hatte der Wind die Wolkendecke an mehreren Stellen auseinandergetrieben, und ein Lichtstreifen folgte dem anderen. Als diese den Hügel hinabhuschten, kleideten sie die Heide in ein Sträflingsgewand.

    Wie lange wir dort standen, weiß ich nicht mehr so genau. Zwar hatte ich versucht, das Geschehen möglichst gefasst über mich ergehen zu lassen, aber ich fühlte mich fehl am Platz, als Eindringling, der vertrieben werden sollte. Derartigen Naturgewalten ausgesetzt, verspürte ich eine beklemmende Fremdheit und Hilflosigkeit. Aber gelegentlich überkam mich auch ein sonderbares Gefühl des Unbeteiligtseins, insbesondere dann, wenn das grelle Licht der Sonne plötzlich wieder aufgeleuchtet und Ruhe eingekehrt war. Selbst der Wind schien eine Zeitlang wie gebannt der Grabesstille zu lauschen.

    Ungeachtet dieser dramatischen Eindrücke wäre ich wohl schon längst ins Auto gestiegen und hätte den Sturm einfach Sturm sein lassen, wäre da nicht Heather gewesen. Denn im Gegensatz zu mir schien sie sich pudelwohl zu fühlen, als wäre sie als Ehrengast zu einem höchst seltenen Naturschauspiel geladen. Sobald mir dies bewusst geworden war, vergrub ich die Hände noch tiefer in den Taschen meines Anoraks und versuchte breitbeinig, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

    Einmal quittierte Heather die Tatsache, dass sie nach einer längeren finsteren Phase erneut in hellem Licht stand und ihr Körper wieder Schatten warf, mit einem Jauchzer. Ein andermal versuchte sie, indem sie sich bei mir einhakte und meinen Blick in eine bestimmte Richtung lenkte, mich auf ein Sonnenfenster aufmerksam zu machen. Wie ein Bullauge geformt, hatte es unten im Tal einige Schwarzkopfschafe in ein Scheinwerferlicht getaucht. Das Fell der Tiere war vom Wind so arg zerzaust, als wäre gerade ein Helikopter knapp über sie hinweg geflogen. Aber unbeeindruckt wanderten sie wiederkäuend von einem Flecken Gras zwischen dem Heidekraut zum nächsten.

    Heather begann in einer für mich fremden Sprache leise zu singen und ihren Oberkörper im Rhythmus des Lieds ein wenig nach rechts und nach links zu drehen. Mich irritierte ihr Verhalten noch zusätzlich, und ich empfand es als einigermaßen deplatziert. Wenn ich mich jedoch heute, viele Jahre später, daran zurückerinnere, so war wohl nicht Heathers, sondern meine Reaktion der Situation durchaus unangemessen. Denn in Wirklichkeit war ich bloß eifersüchtig darauf, dass sie diesen Naturgewalten so entspannt begegnen konnte, während ich nicht so recht wusste, wie mir geschah, und ratlos wie eine Kuh dastand, die in steilem Gelände vom vertrauten Weg abgekommen war. Doch zu meiner endgültigen Verwirrung meinte ich, als das Heulen des Windes wieder einmal eine Atempause eingelegt hatte, Heather nicht mehr leise singen, sondern tief schluchzen zu hören.

    Nachdem der immer heftiger werdende Sturm uns fast umgeworfen hatte, schubste sie mich, und wir taumelten die wenigen Schritte zurück zum Auto und suchten darin Schutz.

    1. Kapitel

    Das Herz Englands

    Alles nahm seinen Anfang damit, dass ich in einem deutschsprachigen Magazin über Landschaftsarchitektur folgende Annonce las:

    Symposium über

    Gartenarchitektur in

    Castle Howard, England.

    Seit der Verfilmung von Evelyn Waughs Roman Wiedersehen mit Brideshead, der zu einem Großteil in eben jenem Castle Howard gedreht wurde, hegte ich den Wunsch, dieses Schloss zu besuchen. Zwar missfielen mir Barockarchitektur und Interieur des Gebäudes – so typisch für katholische Länder, aber so selten in England – als viel zu überladen und bombastisch. Aber es war die Landschaft um das Schloss, die vielen Parks und Gärten, die mich faszinierten. Zudem war ein zweiter großer Schauplatz dieser Fernsehserie das alte Oxford gewesen, und es wurde praktisch gerade zu jener Zeit gedreht, als ich dort studierte. Somit waren die Aufnahmen, neben der Dramatik der Erzählung, für mich auch so etwas wie ein Zeitdokument.

    Von den beiden Aufnahmeorten einmal abgesehen, war ich zudem von der Art und Weise, wie der Stoff filmisch aufbereitet wurde, überaus angetan. Denn alles war in epischer Breite erzählt, mit einer derart packenden Langsamkeit, die ich fast schon als schmerzhaft empfand. Gerade diese Behutsamkeit der Darstellung öffnete jedoch zahlreiche Räume und ließ mich – und wohl auch unzählige andere – am Geschehen fast unmittelbar teilhaben. Zugleich erlaubte diese Gemächlichkeit, die heutzutage als ziemlich exotisch gelten dürfte, sehr viel Zeit für eigene Assoziationen. So reiste man nicht nur im Großbritannien der 20er und 30er und 40er Jahre sowie in der Gedankenwelt und den zum Teil bizarren emotionalen Welten anderer dahin, sondern ich unternahm zugleich eine Wanderung in die eigene Vergangenheit, gelegentlich voller Überraschungen.

    Sowohl Schauplätze als auch das Besondere der Verfilmung von Wiedersehen mit Brideshead blieben mir also in lebhafter Erinnerung. Gerade in hektischen Zeiten war die epische Sprache des Films zuweilen so etwas wie ein Hort der Muße und Entspannung. Da mich zu guter Letzt auch noch englische Parks und die Ideen, die deren Gestaltung zugrunde liegen, brennend interessierten, war der Entschluss zur Teilnahme an diesem Symposium über Gartenarchitektur schnell gefasst.

    Für den betreffenden Zeitraum nahm ich also einen langen Sonderurlaub in der Absicht, mit meinem Wohnmobil nach England und dann – gleichsam als Draufgabe und Kontrapunkt zu dieser zivilisierten Welt – in die wilden schottischen Highlands zu reisen. Da ich ähnliche Fahrten bereits mehrmals unternommen hatte, wusste ich gut um den für mich bestmöglichen Ablauf Bescheid: Vor der Abreise würde ich ein oder zwei Tage fast nur schlafen und mich ausruhen, um dann – mit vielen Unterbrechungen – den Weg nach Oxford in einem zurück zu legen. Überdies war die Reise so geplant, dass ich abends in Oostende ankam, eine Nachtfähre nahm und mich bei Dunkelheit auf menschenleeren Straßen an den britischen Linksverkehr gewöhnen konnte. Noch vor den Morgenstaus würde ich dann, wenn alles klappte, in Oxford ankommen.

    Auch die damalige Reise nach Großbritannien verlief ohne Probleme. Da die erste Spur auf den Autobahnen dereinst noch keine mobile Lagerhalle war, fuhren die Lastwägen auch noch nicht Stoßstange an Stoßstange. Wenn man also bereit war, bei gemächlichem Tempo die erste Autobahnspur zu benützen, und wenn es einen nicht störte, gelegentlich von großen Sattelschleppern überholt zu werden, dann konnte man entspannt und fast allein auf der Autobahn dahinrollen und sich so auch der Landschaft und den eigenen Gedanken widmen.

    Bei diesen Reisen fand ich besonderen Gefallen daran, die Lokalsender der jeweiligen Gegend zu hören, und ich überließ es daher dem Radio, immer wieder die nächstgelegene Sendestation anzupeilen. Geburtstagwünsche für die liebe Omama drangen dann über den Äther, oder es wurde leidenschaftlich über die Finanzierung des neuen Hallenbades diskutiert, oder im Kindergarten waren soeben einige Eltern mit ihren Sprösslingen aus Partnergemeinden eingetroffen. Wenn man sich dann erneut einer größeren Stadt näherte, wurde der Gesprächsstoff sogleich allgemeiner. Aus der Landes- oder Bundeshauptstadt waren Berichte zu hören, und auch Korrespondenten aus Brüssel oder Washington meldeten sich zu Wort. Hatte man schließlich das Einzugsgebiet der Großstadt hinter sich gelassen, wurden wieder die Inhalte der Nachrichten im Nu konkreter. Wohl vom besonderen Lokalkolorit beeindruckt, kam mir bei einer dieser Fahrten die Idee, wie attraktiv es doch wäre, gäbe es neben den vielen Autobahnen auch noch Alleen durch ganz Europa. In den verschiedenen Abschnitten wären dann autochthone, also für die jeweilige Gegend typische Bäume gepflanzt, die anderswo nicht so prächtig gedeihen können.

    Einigermaßen entspannt, kam ich bei der besagten Reise am Abend in Oostende an. Dort fand ich problemlos einen Platz auf einer der fast leeren Nachtfähren, genoss endlich wieder das Schaukeln eines großen Schiffes auf rauer See, schlief ein wenig und gewöhnte mich, wie geplant, auf der Fahrt von Dover nach Oxford an den Linksverkehr. Noch vor Morgengrauen kam ich dort an und verschlief den Tag auf einem Campingplatz in meinem Wohnmobil.

    Abends, als gerade das tägliche Glockenspiel über der Stadt zu hören war, schlenderte ich die Themse flussaufwärts ins Zentrum der Stadt. Wie einen Willkommensgruß empfand ich den lauen, ungewohnt langen englischen Sommerabend – mit den riesigen Bäumen ringsum, den gelegentlichen Blumendüften, die von irgendwo heranwehten, und den kleinen Menschengruppen, die sich zu einem Picknick in den Parks oder am Ufer der Themse getroffen hatten. Als wollte sie überhaupt nicht mehr untergehen, wanderte die Sonne stundenlang den Horizont entlang.

    Das alte Oxford, aus orangem, grauem, ocker- oder maisgelb gefärbtem Sandstein erbaut, liegt in einer kleinen Talsenke, von sanften Hügeln umgeben. Die Stadt trägt den Beinamen The Heart of England, also ›das Herz Englands‹. Aber dieser Ehrentitel ist wohl ein typisch britisches Understatement. Denn In Wirklichkeit ist Oxford, in der die erste englischsprachige Universität gegründet worden war, natürlich viel mehr als nur das geistige Zentrum eines bestimmten Landes.

    Nachdem ich mich auf einer Bank, mit Blick auf eine grandiose Flusslandschaft etwas ausgeruht hatte, verließ ich das Ufer der Themse und die vielen, entspannt in der Wiese Sitzenden und spazierte am Christ Church College vorbei. Gleich neben dem Hauptgebäude graste in den dazugehörigen Wiesen, den Meadows, friedlich eine Herde schwarz-weiß gefleckter Kühe. Viele Jugendliche kamen mir entgegen, oft ein Fahrrad schiebend und miteinander schwatzend. Ihre zumeist dunkelblau gefärbten Pullover hatten sie, da es noch ungewöhnlich warm war, um die Schultern gebunden. Auf dem Fahrradlenker war häufig ein Korb befestigt, in dem Bücher, ein Laptop oder etwas Essbares lagen.

    Sobald man Oxfords geschäftige Hauptstraßen verließ und einen der Innenhöfe der Colleges betrat, umfing einen eine Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit: ein sorgsam gepflegter Rasen, der mit einem niedrigen Eisenzaun von den geschotterten Wegen getrennt war; einige zumeist efeuberankte, nur zwei oder drei Stockwerke hohe Gebäude in einem großen Viereck; die weit in den Innenhof ragenden abgerundeten und abgetretenen Steinstufen; die knarrenden Holztreppen hinauf zu den Zimmern; die windgeschützten Sitzbänke, wo sich Studierende in der Abendsonne entspannten oder in einem Buch blätterten. Das alles schien erfüllt von einer lockeren, überaus kreativen Atmosphäre und vom Hauch Jahrhunderte alter, jugendlicher Träume.

    Den Mittelpunkt Oxfords bildet eine Riesenbibliothek, die weltberühmte Bodleian Library mit einem Bestand von etwa zehn Millionen Büchern. Von dort zum Fluss Cherwell, der im Süden der Stadt mit der Themse zusammenfließt, ist es nur ein kurzer Spaziergang. Bei Sonnenschein drängen sich auf dem Fluss dutzende punting boats. In diesen Flachbooten steht auf dem hinteren Teil der ›Gondoliere‹, der mit einer langen Stange den Boden des Flusses zu erreichen und auf diese Weise das Boot anzuschieben und zu lenken versucht. Zumeist sind es Studierende, die ihre Kommilitonen, die nicht selten miteinander eine Flasche Champagner teilen, zu den Pubs entlang des Flusses rudern. Manchmal gleitet das Boot mit gut gelaunten Insassen an Obdachlosen vorbei, die am Ufer auf einer Bank sitzen und reglos in die Ferne starren, neben sich eine in einen braunen Papiersack gewickelte Flasche. Bisweilen machten die Bootsleute aber gleich irgendwo am Ufer Halt und legten sich auf die Wiese unter einen Baum, betrachteten den Himmel und den Rauch der Zigaretten, der wie ein Schleier empor zu den Blättern wehte.

    Einige Tage lang blieb ich in Oxford und besuchte jene Orte, an denen ich schon hunderte Male zuvor gewesen war: das Pub ganz in der Nähe der Bibliothek sowie jenes aus dem 13. Jahrhundert, wo schon Dezennien vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus Studenten ein und aus gegangen waren. Mehrmals stieg ich die Stufen zum Eingang des Sheldonian Theatre hinauf, um mich auf einer der Sitzbänke im Freien auszuruhen und einfach zu schauen; oder ich spazierte nach Summertown, jenem Stadtteil im Norden der Stadt, der auch auf breiten Gehwegen durch einen Park und neben Villen und modernen Universitätsgebäuden zu erreichen ist.

    An einem ziemlich kühlen Nachmittag wanderte ich die Themse entlang nach Norden zu den Pubs am Rande der Stadt. Hatte es längere Zeit nicht geregnet, so saßen sogleich viele mit einem Getränk in der Hand am Flussufer und schauten den Fischen zu, die sich um das Futter zankten, das ihnen Kinder zugeworfen hatten. Kaum etwas schien sich in all den Jahren geändert zu haben, die Zeit stand zumindest dort, in den ländlicheren public houses, still. Continuity, also ›Beständigkeit‹ oder einfach ›Kontinuität‹ ist wohl das Typische, wenn nicht das Geheimnis der englischen Kultur. Vieles ändert sich wie ein träger Fluss nur sehr langsam, wenn überhaupt, und das Allermeiste wird, wenn nur irgendwie möglich, bewahrt. Neu hinzugekommen sind allerdings die zahlreichen Überwachungskameras und die allgegenwärtigen Handys, die regelmäßig nach einem kurzen Gesang oder Trommelwirbel Menschen aus der Nähe in eine andere Welt lockten. Wenn ich die Fußgängerzone im Zentrum der Stadt entlangspazierte, so fühlte ich mich unter den vielen Menschen am elektronischen Gängelband, deren Aufmerksamkeit auf ein Anderswo gerichtet war, ziemlich allein und einsam. Dabei schloss das Gefühl von Einsamkeit noch jenes der Hilflosigkeit mit ein, bei der Erfahrung des Alleinseins war dies nicht der Fall. An manchen Straßenecken standen zudem Menschen, zumeist Jugendliche, die in völlig ungewohnter Körperhaltung anderen eine kurze Botschaft mitteilten.

    Das Leben in England, zumal im ländlichen Teil, läuft um einiges langsamer ab als bei uns, vielleicht mit Ausnahme der Schweiz. Alles scheint, auch die Reaktionen der Menschen, ein wenig in Watte gepackt zu sein. Kaum jemand empfindet es deshalb als einen Makel, wenn man sich mit Reaktionen ein wenig Zeit lässt und zuerst einmal nachdenkt, ehe man handelt oder urteilt. Allein diese Geduld ist schon recht zivilisiert, aber in Oxford, so meine Erfahrung, kommt noch etwas Besonderes hinzu: Es scheint dort geradezu verpönt zu sein, auf Fragen eine ritualisierte, erwartete, allzu übliche Antwort zu geben. Selbst alltäglichste Erkundigungen wie nach der Uhrzeit werden oft so beantwortet, als wollte man dem Gegenüber versichern, hellwach und geistesgegenwärtig, ganz da zu sein. Dies geschieht, indem man – wenn gefragt – zunächst einmal die dazu relevanten Fakten oder Umstände im Kopf durchgeht, dann auswählt und von diesen, wenn möglich mit etwas Humor, berichtet. Das dauert zwar länger als üblich, aber diese klarsichtige Sachlichkeit auch in unerwarteten Situationen schafft Vertrauen. Allerdings hat diese Verachtung des allzu Gewöhnlichen auch eine Schattenseite, nämlich eine bemerkenswerte Vorliebe für ziemlich verstiegene, wenn nicht gar verrückte Ansichten.

    Neben den Pubs erfüllen die zahlreichen Parks in ganz England, natürlich auch in Oxford, eine zentrale soziale Funktion. Sie sind ein wichtiger Treffpunkt, ein Ort der Erholung und ein Hort der achtsamen Pflege anderer Lebewesen. Seit zumindest 5.000 Jahren gibt es – beispielsweise aufgrund von Beobachtungen an der Kult- und Kulturpflanze Wein im alten Ägypten – das Wissen, dass es gelegentlich der klugen, kultivierenden Hand des Menschen bedarf, sollen Pflanzen sich voll entfalten können. Die Sorgfalt, mit der in englischen Parks andere Lebewesen gepflegt werden

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