Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation: Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis
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Rezensionen für Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation
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Buchvorschau
Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation - Heinrich Burkhardt
2018
1 Das Phänomen Multimorbidität und seine Bedeutung in der klinischen Praxis – Eine Einführung anhand eines konkreten Beispiels
In den letzten Jahren findet das Phänomen der Multimorbidität zunehmend Anerkennung als ein zentrales Phänomen und wichtige Herausforderung in der Medizin und wird von manchen Autoren sogar als einer der bedeutendsten Aspekte in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung genannt (Marengoni et al. 2017). Ganz aktuell greift auch ein Editorial in der angesehenen Fachzeitschrift The Lancet dies auf und weist dem Merkmal Multimorbidität eine zentrale Bedeutung in der modernen Medizin zu. Allerdings geht es mit diesem Begriff ähnlich wie mit anderen Schlagwörtern der Moderne. Er ist wenig scharf definiert und obwohl eigentlich unmittelbar klar wird, was gemeint ist, nämlich das Auftreten mehrerer Erkrankungen oder Gesundheitsprobleme gleichzeitig, entstehen bei näherer Betrachtung mehr Fragen als Antworten. Daher erscheint eine genauere Analyse lohnend und sogar notwendig. In diesem Buch werden in einem ersten Teil anhand eines Beispiels wichtige Aspekte aufgelistet und Fragen formuliert. In einem zweiten Abschnitt werden wichtige theoretische Aspekte dargestellt aber auch eine Übersicht über epidemiologische Befunde gegeben. Aufbauend auf den theoretischen Aspekten werden Vorschläge abgeleitet, wie das Phänomen im geriatrischen Kontext besser zu fassen und zu bewerten ist. In einem dritten, mehr der Praxis zugewandten Abschnitt werden konkrete Probleme in der klinischen Praxis angesprochen, auch hier wird versucht, ein Überblick über aktuelle Lösungsmöglichkeiten und Entwicklungen zu geben.
Um die Problematik besser darstellen zu können, sollen mit einem einführenden möglichst konkreten Beispiel wichtige Aspekte dargestellt und Fragen abgeleitet werden. Zentral sind hier die Herausforderungen, die sich durch Multimorbidität im klinischen Alltag für den Arzt aber auch andere professionelle Akteure im Gesundheitssystem ergeben können. Daher soll zunächst auf diese fokussiert werden, wenn auch klar ist, dass aus vielerlei anderweitigen Intentionen das Phänomen Multimorbidität betrachtet werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch aus diesen Bereichen wie z. B. Mathematik Impulse aufgenommen werden sollen, die es ermöglichen, klinische Kontexte besser zu verstehen.
Das Beispiel
Frau M., 76 Jahre alt, lebt alleine seit ihr Mann vor 2 Jahren verstorben ist. Sie leidet an Bluthochdruck und nimmt seit Jahren unterschiedliche Medikamente ein. Sie kann ihren Blutdruck selbst messen, toleriert aber bei Wohlbefinden auch höhere Werte. Sie beklagt seit Jahren Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und nimmt immer wieder diverse Schmerzmittel, teilweise auch solche, die nicht verschrieben werden müssen. Die lange Erkrankung ihres Mannes und sein schließlich eingetretener Tod hat sie stark belastet. Seit über einem Jahr nimmt sie auch regelmäßig Antidepressiva ein. Frau M. hat zwei Töchter, die aber mit ihren Familien in anderen Städten leben und sie nur unregelmäßig unterstützen können. Frau M. hat seit vielen Jahren Übergewicht und wiegt jetzt bei einer Körpergröße von 162 cm noch ca. 85 kg. Sie hat wegen ebenfalls erhöhter Cholesterinwerte im Blut Simvastatin verordnet bekommen, hat aber ihre Ernährungsgewohnheiten nicht sehr verändert. Frau M. fällt es zunehmend schwer die Treppe zu ihrer Wohnung im 2. Obergeschoss eines Mehrparteien-Mietshauses ohne Atemnot zu erreichen. Sie hat mit ihrem Hausarzt darüber gesprochen. Dieser hat ihr eine Überweisung zu einem Kardiologen ausgestellt.
Es ergeben sich folgende konkrete Fragen:
• Woran leidet Frau M. und welches Gesundheitsproblem ist hier das führende?
• Welche unmittelbaren Maßnahmen sollen ergriffen werden?
• Wie soll Frau M. beraten werden?
Ohne Frage handelt es sich bereits bei diesem einfachen und sicher in der Praxis so oder ähnlich häufig auftretenden Fall um eine Konstellation, die man bereits gut mit dem Begriff Multimorbidität bezeichnen kann. Es liegen verschiedene Gesundheitsprobleme vor, die sich unterschiedlich stark durch Symptome äußern und welche auch unterschiedliche Anforderungen an Beratung, Behandlung oder auch Prävention einer weiter ungünstigen Entwicklung stellen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige Details, die sich zu unterschiedlichen Aspekten aus den benannten Gesundheitsstörungen ergeben ( Tab. 1).
Tab. 1: Übersicht über gesundheitsrelevante Aspekte bei Frau M.
Dazu zählen nicht nur diagnostische Aspekte, sondern auch solche, welche die Therapie und Beratung des Patienten über längere Sicht betreffen. Daraus würde sich eine in diesem Beispiel bereits beachtlich umfangreiche Liste von Zielen und Maßnahmen ergeben, die entweder unmittelbar ergriffen werden sollen oder auch im Rahmen eines längerfristigen Prozesses realisiert werden müssen. Die Tabelle zeigt ebenso die Liste der in Betracht kommenden Maßnahmen an ( Tab. 1).
Die zweite Frage eröffnet bereits das Feld für wichtige Aspekte in der Beurteilung der Gesundheitsprobleme. Nach welchen Kriterien würde man die doch bereits überraschend lange Liste der Ziele und Maßnahmen priorisieren, da man kaum alle Aspekte simultan bearbeiten wird können. Hier ergeben sich zwei naheliegende Gesichtspunkte. Zum einen kann eine Priorisierung nach der Bedeutung für die unmittelbare Prognose und zum anderen nach der Symptomlast vorgenommen werden. Im Beispiel bliebe vermutlich unwidersprochen, dass die neu berichtete Dyspnoe zunächst erklärt werden sollte mit dem Blick auf die eventuell bedrohte kardiale Organfunktion aber auch auf die Symptomlast durch dieses Symptom. In diesem Beispiel ergibt sich also zunächst keine Konkurrenz zwischen verschiedenen Zielen, dies wäre aber in anderen Konstellationen sicher denkbar. Andererseits könnten weitere Ziele, z. B. die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule weniger Aufmerksamkeit erhalten und vernachlässigt werden.
Vieles an den akut geschilderten Problemen spricht für das Vorliegen einer kardialen Einschränkung, die bei langjähriger arterieller Hypertonie jetzt Ausdruck einer hypertensiven Herzerkrankung sein kann. Sehr gut kann aber auch eine zusätzliche koronarielle Problematik vorliegen, so dass die Überweisung zu weiterer kardiologischer Diagnostik vernünftig erscheint. Möglich wäre, dass sich eine Chance ergibt, ein koronarielles Problem durch einen Kathetereingriff rasch zu bessern und damit auch eine Verbesserung der Symptomatik und der Alltagskompetenz zu erreichen. Außerdem ist es für die weitere medikamentöse Behandlung der Patientin von erheblicher Bedeutung, zu klären, ob und inwiefern hier eine kardial bedingte Problematik vorliegt.
Das Vorliegen einer Depression stellt einen erheblichen Einflussfaktor für den weiteren Verlauf gleichzeitig bestehender somatischer Erkrankungen dar. Man mag die strikte Trennung zwischen psychischen und somatischen Gesundheitsproblemen für nicht mehr modern halten, angesichts der vielfältigen Bezüge, die sich zwischen diesen ergeben können, dennoch ist es immer wieder wichtig auf diesen Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung zu verweisen. Gründe hierfür können im Verhalten des Patienten liegen, nicht-depressive Patienten zeigen im Schnitt ein eher gesundheitsförderliches Verhaltensmuster, insbesondere was die kardiovaskulären Erkrankungen anbelangt, aber auch direkte Beeinflussungen auf einer somatischen Ebene werden diskutiert.
Wichtige Begleitumstände wie die Adipositas werden im medizinischen Kontext nur zögerlich als krankheitsrelevante Aspekte angesprochen, gleichwohl ist ihr Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko unwidersprochen. Bei älteren Menschen nimmt dieser prognostisch ungünstige Einfluss etwas ab und man kann die über 80-jährigen mit langjähriger Adipositas durchaus auch als »expert survivor« des Adipositas-Risikos, was die kardiovaskuläre Komponente anbelangt, bezeichnen. Man sollte aber bedenken, dass neben diesen Effekten auch noch andere Einflüsse bestehen, die gerade im Alter viel stärker zur Geltung kommen als der kardiovaskuläre Effekt. Dies sind Einflüsse auf die Lokomotion, die bei Vorliegen einer Adipositas und gleichzeitig Schwinden der Kraftreserven durch eine altersbedingte Sarkopenie immer mehr in den Vordergrund treten. Daneben beeinflusst die Adipositas die Entwicklung chronischer Gelenkprobleme in den großen Gelenken der unteren Extremität genauso aber auch in den kleinen des Achsenskeletts in erheblichem Umfang und trägt so dazu bei, dass ein chronisches Schmerzsyndrom entstehen kann. Das ist vermutlich bei Frau M. auch der Fall.
Dieser Punkt spielt auch bei Frau M. eine bedeutende Rolle und trägt zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Alltagskompetenz bei. Zusätzlich kann durch das Problem des chronischen Schmerzes eine komplizierte Dauermedikation notwendig werden, die in sich bereits eine erhebliche Problematik über hohe Raten unerwünschter Wirkungen birgt. Frau M. müsste daher ausführlich über diese Gefahren beraten werden, ebenso über mögliche Maßnahmen, wie die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule nicht-pharmakologisch gemindert werden können. Hier sind evtl. angepasst physiotherapeutische Verfahren erforderlich, da auf die evtl. bereits reduzierte Kraft der Patientin eingegangen werden muss.
Es muss also eine Abstimmung erfolgen, welche Maßnahmen kurzfristig erforderlich sind, welche Maßnahmen bei den chronischen Gesundheitsproblemen aufeinander abgestimmt werden müssen und für eine optimale Flankierung erforderlich sind. Dies betrifft insbesondere Beratung und Begleitung der Patientin. Hier ergibt sich die Frage, ob Frau M. Zugang finden kann zu entsprechenden abgestimmten Aktivitäten inkl. einer physiotherapeutischen Intervention oder auch einer fortgesetzten Ernährungsberatung und -begleitung.
Wir können diese Betrachtungen zusammenfassen und feststellen, dass für ein angemessenes Verständnis der Situation und das Aufstellen eines einen rational begründeten Behandlungsplans folgende Punkte wichtig sind:
• Vollständige Liste der Gesundheitsprobleme
• Erstellen einer Maßnahmenliste und Abstimmen der einzelnen Punkte aufeinander
• Überprüfen der individuellen Ressourcen und Aufstellen einer Liste unterstützender und begleitender Maßnahmen
• Priorisierung auf der Zeitachse nach Dringlichkeit
• Priorisierung nach Patientenpräferenz
Man sieht bei näherer Betrachtung, dass sich an einem so einfachen Beispiel bereits ein komplexes Wirkgefüge darstellen lässt mit daraus potentiell folgenden und gegebenenfalls schwierigen Abwägungsprozessen. Ein direkt erkennbarer Konflikt wird z. B. bereits in der einfachen und naheliegenden Frage erkennbar, was sollte jetzt eigentlich als nächstes geschehen. Hier wird sicher das geschilderte Symptom der Dyspnoe die Aufmerksamkeit primär besetzen und vermutlich wird sich schnell Konsens erzielen lassen, dass bei drohendem kardiovaskulärem Problem als erstes weitere Diagnostik in diesem Feld erforderlich ist. Dies ist sicher korrekt, birgt aber auch die Gefahr, dass viele andere Aspekte nun aus dem Blickfeld rücken und deren Bearbeitung, wiewohl zugegebenermaßen nicht in Tagen oder Wochen dringend abzuarbeiten, aber vielleicht dann gar nicht mehr adäquat adressiert werden, da der Fokus des Therapeuten zu sehr auf einem Aspekt, hier der möglichen koronaren Herzerkrankung verharrt und andere vernachlässigt werden.
Es entsteht so ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch einer Priorisierung, um Dringendes schnell zu bearbeiten und dem Anspruch der Vollständigkeit mit dem Ziel, alle Gesundheitsstörungen rechtzeitig zu erkennen und auch angemessen therapeutisch zu adressieren.
Vielfach wird die klinische Bedeutung des Phänomens Multimorbidität unterschätzt. Dies ist erstaunlich, da sich bei gezielten Untersuchungen der Verläufe in großen Kohorten wiederholt erwiesen hat, dass Multimorbidität ein bedeutsamer prognostischer Faktor ist. So zeigte beispielsweise die Analyse von Tisminetzky et al. (2016), die dies bei älteren Patienten mit koronarer Herzerkrankung mit einem systematischen Review untersuchten, dass Multimorbidität ein signifikanter Faktor für die Mortalität ist. Das gilt auch für andere Aspekte der Morbidität wie z. B. die Notwendigkeit einer erneuten Hospitalisation.
Trotz dieser Hinweise findet sich in der medizinischen Literatur dieser Aspekt kaum an prominenter Stelle. Eine Übersicht über aktuelle Lehrbücher und Kompendien der Inneren Medizin, Allgemeinmedizin und auch Geriatrie weist hier kaum ausführlichere Erörterungen dieses Phänomens aus ( Tab. 2). Das überrascht einerseits wegen der vielen Unsicherheiten, die in einer derartigen klinischen Situation entstehen können, zeigt aber andererseits, in welchem Ausmaß die in der Klink verwendete medizinische Systematik traditionell in eng umrissenen Kategorien arbeitet. Auch neuere Reviews, die sich nur auf die Frage beschränken, inwiefern Studien aktuell wichtige Komorbiditäten berücksichtigen, finden hier erhebliche Lücken und einen großen Bedarf nach weiteren Daten (He et al. 2016). Wie bereits detaillierter ausgeführt wird ( Kap. 2), wäre dies ein vereinfachtes Modell der Multimorbiditäts-Situation mit einem Hauptproblem und einem oder mehreren Neben-Problemen, die dann Komorbiditäten genannt werden.
Tab. 2: Berücksichtigung von Multimorbidität in klassischer medizinischer Literatur
a: Analyse des Inhaltsverzeichnisses bez. des Terminus Multimorbidität;
b: Analyse des Stichwortverzeichnisses bez. des Terminus Multimorbidität
Dabei konnte z. B. am Beispiel der chronischen Herzinsuffizienz in einer Meta-Analyse gut gezeigt werden, welche Bedeutung Komorbiditäten für die Prognose der Haupterkrankung haben können. Rushton et al. (2015) konnten für alle der von Ihnen untersuchten Komorbiditäten (Diabetes, COPD und chronische Niereninsuffizienz) einen eindeutigen Effekt für eine verschlechterte Prognose aufzeigen. Eine zusätzliche Erkrankung oder ein zusätzliches Gesundheitsproblem bedeutet daher nicht nur eine kompliziertere Situation, sondern kann sich auch direkt als Risikofaktor für einen ungünstigen Verlauf erweisen. Andererseits gibt es aber auch qualitative Reviews, die keine so eindeutigen Effekte finden. Hier ist die koronare Herzerkrankung zu nennen, für welche Fried et al. (2014) dies untersuchten und z. B. für Diabetes als Komorbidität keinen eindeutigen Effekt nachweisen konnten. Es mag also stark davon abhängen, in welche Beziehung zwei Krankheitsentitäten miteinander treten können und es ergibt sich die Notwendigkeit einer komplexen Analyse der individuellen Situation. Durch das Auftreten von Komorbiditäten können theoretisch folgende Effekte eintreten:
• Direkte Beeinflussung einer anderen Erkrankung oder Gesundheitsstörung als Risikofaktor
• Komplexitätsproblem bei der Sicht auf die Gesundheitssituation insgesamt
• Priorisierung des Ressourceneinsatzes bei zeitlich und summarisch begrenzten Ressourcen
• Neutrales Verhalten der Komorbidität
Ressourceneinsatz ist in diesem Zusammenhang primär nicht nur unter dem Gesichtspunkt Medizin im Kontext begrenzter ökonomischer Ressourcen zu verstehen, sondern viel mehr noch unter der stets limitierten Zeit, die sowohl für Diagnostik wie auch Therapie zur Verfügung steht. Andererseits wird an dieser Stelle auch deutlich welch große Bedeutung potentiell Multimorbidität auch für die ökonomische Ressourcenbelastung entwickeln kann.
Es wundert daher nicht, dass häufig in der Praxis bei Konfrontation mit Multimorbidität viele Unsicherheiten entstehen bzw. selten strukturierte Entscheidungshilfen zur Anwendung kommen. Vereinzelt wird zwar versucht, dieses Problem anzusprechen, aber nicht in umfassender Art und Weise. Es ist auch klar, dass hier noch erheblich mehr Forschung zu leisten ist, um mit diesem Phänomen besser umgehen zu können. Erst kürzlich wurde hierzu versucht eine Forschungs-Agenda zu formulieren (Tisminetzky et al. 2017). Die Gründe für eine so zögerliche Befassung mit diesem im klinischen Kontext allgegenwärtigen Phänomen sind vielfältig und in nicht unerheblichem Maß in der Art und Weise begründet, wie Medizin aktuell verstanden, entwickelt, ausgestaltet und schließlich praktiziert wird.
Folgende übergeordnete Aspekte konnten an dem konkreten Beispiel aufgezeigt werden und sollen im folgenden Teil, der sich mit den theoretischen und konzeptuellen Gesichtspunkten im Detail beschäftigt, aus unterschiedlicher Perspektive heraus genauer beleuchtet werden:
• Komplexität
• Priorität
• Kontinuität
Was bedeutet Komplexität im medizinischen Kontext bei Erkennen, Analyse und Behandlung von Gesundheitsproblemen? Wie kann diese hinsichtlich qualitativer und quantitativer Aspekte erfasst werden? Gibt es spezielle altersmedizinische Gesichtspunkte? Dazu wird es hilfreich sein, theoretische Gesichtspunkte zu rekapitulieren und die medizinische Nosologie einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Was bedeutet im klinischen Kontext Priorität? Ist dies nur eine Frage von Zeitabläufen? Welche Gesichtspunkte sind hier entscheidend und gibt es einen Wandel der Prioritäten in unterschiedlichen Lebensphasen? Dazu wird es hilfreich sein, Handlungsmaximen im medizinischen Kontext und mögliche Konfliktsituationen zu beleuchten.
Wie kann man der Situation des chronisch Kranken gerecht werden? Welchen Stellenwert hat Kontinuität in der Behandlung? Was bedeutet kontinuierliche Behandlung in der langfristigen Behandlungsperspektive über unterschiedliche Lebensphasen? Dazu wird es hilfreich sein, Fragen der Prognose-Findung und die Bedeutung der Prognose für Therapieentscheidungen zu rekapitulieren.
2 Theoretische Aspekte der Multimorbidität und epidemiologische Befunde
2.1 Verwendung des Begriffs und Definitionen
Mit Multimorbidität wird gewöhnlich das Vorliegen von mehr als einem chronischen Gesundheitsproblem bezeichnet. Aktuell existiert aber keine allgemein gültige Definition einer solchen Multimorbidität. Für gewöhnlich ist damit eine gleichzeitige Aktivität von drei Gesundheitsproblemen gemeint. Eine aktuelle Publikation der Academy of Medical Sciences greift diese Diskussion auf (The Academy of Medical Sciences. 2018) und definiert Multimorbidität bereits als das Vorhandensein zweier chronischer Zustände, die folgendes sein können:
• eine physische nicht übertragbare chronische Erkrankung wie z. B. eine Tumorerkrankung oder eine kardiovaskuläre Erkrankung
• eine chronische psychische oder mentale Erkrankung wie Depression oder Demenz
• eine langdauernde infektiöse Erkrankung wie HIV oder Hepatitis C
So folgt diese Definition einem mathematisch orientierten strengen Ansatz, andere Autoren würden die Schwelle höher legen und implizieren damit auch aus einer klassischen klinischen und mehr empirisch geleiteten Sicht heraus, dass ein gewisser Schwellenwert der Problematik vorhanden sein könnte, ab welchem dann erst eine klinische Bedeutung zugewiesen werden kann. In dem Positionspapier der Academy of Medical Sciences wird darüber hinaus auch das erstaunliche Defizit belastbarer Erkenntnisse über dieses so bedeutsame Phänomen herausgestellt und eine Reihe von sechs konkreten Aufträgen bzw. Forschungsfragen für die zukünftige, speziell auch wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas abgeleitet:
1. Welche Trends und Muster der Multimorbidität lassen sich erkennen?
2. Welcher Multimorbiditäts-Cluster erzeugt die größte Belastung der Gesundheit?
3. Wie lassen sich geeignete Determinanten distinkter Multimorbiditäts-Cluster definieren?
4. Was sind geeignete präventive Strategien um die wichtigsten chronischen Konditionen, die schließlich zu Multimorbiditäts-Clustern führen zu kontrollieren?
5. Welche Strategien können helfen Risiken therapeutischer Maßnahmen in der Situation der Multimorbidität zu minimieren und den Nutzen derselben zu optimieren?
6. Wie kann das Gesundheitssystem organisiert werden, um besser auf die Bedürfnisse der Patienten mit Multimorbidität eingehen zu können?
Erst die gezielte Bearbeitung dieser Forschungsfelder wird die Gesellschaft und die Gesundheitssysteme in die Lage versetzen, die Herausforderungen, welche durch Multimorbidität entstehen, in angemessener Weise bestehen zu können. Es kann durchaus sein, dass dies einige Traditionen im medizinischen und auch pflegerischen Denken verändern wird.
Im dritten Teil dieses Werkes lassen sich einige Hinweise an konkreten Beispielen aufzeigen, in welche Richtung die Beantwortung dieser Fragen gehen kann ( Kap. 3). Kommen wir aber zunächst zurück zu den bisher vorliegenden Positionen und Erkenntnissen und den theoretischen Grundlagen, die sich hinter den aufgeworfenen Fragen verbergen. Das betrifft zunächst die Charakterisierung der einzelnen, letztlich die Multimorbidität hervorbringenden Konditionen oder Gesundheitsstörungen, später dann die Frage übergeordneter Muster. Diese beim Zustandekommen von Multimorbidität beteiligten Gesundheitsprobleme sind klassischerweise, wie auch in diesem Vorschlag, stark an die Nosologie der ICD-Klassifikation angelehnt, meinen also weniger syndromartige Komplexe oder auch Bereiche der Funktionalität. Multimorbidität ist heute der populärste unter einer ganzen Reihe von Begriffen, die eigentlich eine höhere Komplexität der Gesundheitsproblematik aufzeigen und besonders auf die Interaktivität und Interkonnektivität unterschiedlicher Aspekte und Kompartimente im Organismus hinweisen. Wichtige Begriffe in der Abgrenzung, die auch heute in aktuellen Diskussionen aufzufinden sind, sind Komorbidität und Vulnerabilität. Häufig bleibt die Diskussion hier aber zu sehr an der Oberfläche und es lohnt, hier unterschiedliche Ebenen der verwendeten Konzepte zu beschreiben. So unterteilen Kuhlmey und Tesch-Römer (2013) wie folgt:
• Statistisches Multimorbiditätskonzept
• Geriatrisches Multimorbiditätskonzept
• Dynamisches Multimorbiditätskonzept
Das statistische Konzept beschreibt das Vorliegen von mehreren chronischen Erkrankungen gleichzeitig und orientiert sich sehr an der medizinischen Diagnosestellung nach ICD. Hier wird fast ausschließlich auf quantitative Aspekte fokussiert. Mit geriatrischen Konzepten meinten Kuhlmey und Tesch-Römer die Erweiterung dieses Ansatzes mit einem Ablösen von einem ausschließlich auf die nosologische Sphäre des ICD-Systems beschränkten Blickes durch eine zusätzliche Mitbetrachtung von funktionellen Aspekten. Hochkomplexe Strukturen wie der Mensch in seinen physischen Bedingtheiten und psychischen und sozialen Bezügen lassen sich immer nur sehr vereinfachend und näherungsweise beschreiben. Daher stellt die klassische medizinische Nosologie mit der strikten Trennung von gesund und krank, dem damit einhergehenden Festhalten an harten diagnostischen Grenzen und einem festgeschriebenen Katalog von Erkrankungen bereits eine sehr starke Vereinfachung dar. Die Erfahrung zeigt, dass so vielfach Gesundheitsprobleme nur unvollständig beschrieben sind. Ein Bespiel hierfür ist die kontinuierliche Entwicklung der diabetischen Stoffwechsellage beim klassischen Typ 2 Diabetes von der initialen Insulinresistenz über das metabolische Syndrom bis zum Erreichen der diagnostischen Schwelle zum Diabetes mellitus. Ähnlich ist es mit der Definition des Lungenemphysems beim älteren Menschen. Hier werden gar die strikten Grenzwerte der Norm in der Lungenfunktionsanalyse einfach linear weiter extrapoliert. Diese Schwächen im traditionellen Verständnis von Gesundheitsproblemen sind lange erkannt und wurden bei Formulierung des aktuellen Konzepts von Krankheit und Gesundheit nach den Vorstellungen der WHO berücksichtigt. Hier werden wichtige Hauptbezüge unterschiedlicher Sphären beschrieben. Die folgende