Wohnungsfrage 3.0
Von Colin Beyer, Anja Bierwirth, Reiner Braun und
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Buchvorschau
Wohnungsfrage 3.0 - Colin Beyer
verdichten.
Analyse der Wohnsituation in Deutschland auf der Grundlage des sozio-ökonomischen Panels
Pekka Sagner
»Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.« So oder so ähnlich urteilen Politiker und Medien über die Situation am deutschen Wohnungsmarkt. In der Tat ist der deutsche Wohnungsmarkt mit teilweise entgegengesetzten und großen Herausforderungen konfrontiert. Während in Wachstumsregionen die Nachfrage nach Wohnraum hoch ist und die Preise scheinbar unaufhaltsam ansteigen, gilt es zugleich nicht nur in Schrumpfungsregionen, die Wohnungspolitik an den demografischen Wandel anzupassen.
Dieser Beitrag beleuchtet die Wohnsituation in Deutschland vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, die verschiedene Teilnehmer am Wohnungsmarkt unterschiedlich stark treffen. Dabei wird insbesondere zwischen selbstnutzenden Wohneigentümern und Mietern unterschieden. Diese beiden Wohnformen teilen nicht nur die Bevölkerung in zwei etwa gleich große Gruppen, diese Gruppen waren und sind auch sehr unterschiedlich von den Herausforderungen betroffen, die eine angespannte Wohnungsmarktsituation mit sich bringt. Während Wohneigentümer zuletzt sogar von den Anstiegen der Kaufpreise in Form gestiegener Vermögenswerte profitieren konnten, finden potienzielle Ersterwerber von Wohneigentum und Mieter, die einen Umzug planen, schwerer Zugang zum Markt. Die Kreisläufigkeit (Zyklizität) des Wohnungsmarktes lässt sich indes am besten an der Entwicklung der Wohnkosten zeigen. Anstiege in den Wohnkosten treffen vor allem Neuvertragsmieter. Entgegen den Erwartungen bedeutet dies jedoch nicht zwingend, dass der Anteil am Einkommen, der für die Wohnkosten aufgebracht wird, ebenfalls steigt. Jedoch bedeuten größere Unterschiede in Neuvertrags- und Bestandsmieten insbesondere für einkommensschwache Haushalte, dass diese vom Markt ausgeschlossen bleiben.
Als Datengrundlage der Analysen dient das Sozio-ökonomische Panel (SOEP), eine seit 1984 jährlich durchgeführte Haushalts- und Personenbefragung. Die Daten gelten als repräsentativ für die Bevölkerung in Deutschland. Erhoben werden sozio-ökonomische Informationen wie Einkommen, Bildungsstand und Haushaltsstruktur, aber auch eine breite Palette subjektiver Indikatoren, wie z. B. die Lebenszufriedenheit oder die Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen. Außerdem werden regelmäßig Informationen zur Wohnsituation erhoben.
Die Wohnsituation vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Trends
Die Wohnsituation in Deutschland ist nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zu interpretieren. Eine Analyse der Wohnsituation ist deshalb in der Regel beschreibend und vergleichend. Ohne Vergleichswerte lassen sich Aussagen wie »Die Wohneigentumsquote beträgt 46,5 %« oder »Die Miete beträgt 7,50 € je Quadratmeter« nicht oder nur sehr eingeschränkt interpretieren. Deshalb erfolgt die Einordnung der Wohnsituation im Folgenden entweder im Zeitablauf, im Vergleich verschiedener sozio-ökonomischer Gruppen oder in einer Kombination der beiden. Zumindest für eine Interpretation zeitlicher Veränderungen in der Wohnsituation der Personen und Haushalte braucht es jedoch auch eine Einordnung in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Denn Veränderungen in der Gesellschaft haben Folgen für die Nachfrage nach Wohnraum.
Alterung der Gesellschaft
Die Altersstrukturen haben sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verschoben. Die Gesellschaft als Ganzes altert und der Anteil der älteren Bevölkerungsschichten nimmt zu ( Abb. 1). Der Anteil der über 70-Jährigen ist seit der Wiedervereinigung kontinuierlich von 9 auf 15 % gestiegen und der Anteil der 51- bis 60-Jährigen seit 2000 bis 2018 von 13 auf über 16 %. Da die Gesamtbevölkerung zuletzt gewachsen ist, haben die älteren Bevölkerungsgruppen nicht nur anteilig an Relevanz gewonnen, sondern auch absolut gesehen. Die Gruppe der 51- bis 60-Jährigen ist beispielsweise seit 2010 um fast 16 % gewachsen, die der 61- bis 70-Jährigen um mehr als 9 %. Gesamtgesellschaftlich kommt älteren Bevölkerungsgruppen damit eine zunehmende Relevanz für den Wohnungsmarkt zu.
Abb. 1: Zusammensetzung der Bevölkerung nach Altersgruppen, 1984–2018 (links); und Veränderung der Bevölkerungszahl in der jeweiligen Altersgruppe in Prozent, 2010–2018 (rechts). Quelle: SOEP v35, eigene Berechnungen.
Migration
Die Zuwanderung aus dem Ausland, ohne die Deutschland bereits seit Mitte der 1970er Jahre schrumpfen würde, war in der Mitte der 2010er Jahre ein viel diskutiertes Thema. Der Wanderungssaldo, die Differenz aus der Anzahl der aus dem Ausland Zugezogenen und ins Ausland Abwandernden innerhalb eines Jahres, war deutlich angestiegen. Die Zuwanderung nach Deutschland erreichte im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise, mit einem Wanderungssaldo von 1,1 Mio. Menschen ihren bisherigen Höchstwert. Die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger aller EU-Mitgliedsländer ab 2011 bzw. 2014 für Rumänien und Bulgarien und 2015 für Kroation hat ebenfalls dazu geführt, dass Deutschland in den vergangenen Jahren wieder einen deutlich höheren Wanderungssaldo zu verzeichnen hatte, als dies beispielsweise in den 2000ern der Fall war. Damit einher geht eine stärker wachsende Bevölkerungszahl. Die Effekte eines hohen Außenwanderungssaldos auf die Wohnsituation sind vielfältig. Unbestritten dürfte zunächst sein, dass eine erhöhte Zahl an Einwohnern zu mehr Nachfragern am Wohnungsmarkt führt. Kulturelle Unterschiede führen darüber hinaus zu Unterschieden in der Wahl der Wohnform. So wohnen Haushalte aus anderen Kulturkreisen häufig mit mehr Personen unter einem Dach, als es hierzulande im Mittel der Fall ist.
Zunahme der Einpersonenhaushalte
Die Entwicklung der Haushaltsstrukturen ist neben der Entwicklung der Bevölkerungszahlen entscheidend für die Wohnraumnachfrage. In Deutschland ist seit vielen Jahren ein Trend hin zur Individualisierung zu erkennen ( Abb. 2). Die Zahl der Einpersonenhaushalte – zwar schon lange die meistverbreitete Wohnform – hat sich stetig und deutlich erhöht. Sie lag im Jahr 1990 noch bei 11,7 Mio., was einem Anteil von knapp 34 % aller Haushalte entsprach. Bis zum Jahr 2018 hat sich die Verbreitung dieser Wohnform um fast die Hälfte erhöht. Die nunmehr 17,3 Mio. Single-Haushalte machen 42 % aller Haushalte aus. Rund drei Viertel aller Haushalte sind Ein- bis Zweipersonenhaushalte. Aber nicht nur der Anteil der Haushalte mit drei und mehr Personen ist gesunken, sondern auch deren absolute Anzahl, sodass diese Nachfragegruppe insgesamt an Relevanz für den Wohnungsmarkt verloren hat. Die Veränderungen in der Haushaltszusammensetzung haben auch zur Folge, dass die durchschnittliche Haushaltsgröße in den vergangenen Jahren stets gesunken ist: von ca. 2,3 Personen je Haushalt im Jahr 1990 auf 2,0 Personen im Jahr 2018.
Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung
Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 hat die deutsche Wirtschaft eine Boomphase erlebt. Zum Ende der 2010er Jahre wurde die geringste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung verzeichnet. Insbesondere seit Mitte der 2010er Jahre profitieren weite Teile der Bevölkerung von Reallohnzu-
Abb. 2: Anzahl der Haushalte nach Haushaltsgröße, 1984–2018 (links); Anteil der Haushalte nach Haushaltsgröße in Prozent, 1990–2018 (rechts). Quelle: SOEP v35, eigene Berechnungen.
wächsen. Die wirtschaftliche Situation und Entwicklung einer Gesellschaft hat maßgeblichen Einfluss auf die Möglichkeit, Wohnraum zu konsumieren. Unter sonst gleichen Bedingungen führt eine positive wirtschaftliche Entwicklung dazu, dass mehr Wohnraum in Anspruch genommen werden kann. »Mehr« beschränkt sich dabei jedoch nicht nur auf mehr Fläche, sondern kann auch qualitativ hochwertigeren Wohnraum bedeuten.
Räumliche Unterschiede und Zusammenhang der Gesamtgesellschaftlichen Trends
Die beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Trends sind einerseits genau das, denn sie betreffen die Gesellschaft als Ganzes. Andererseits treffen sie keinesfalls auf alle Teile der Gesellschaft in gleichem Maße zu. So altert die Gesellschaft zwar als Ganzes, ländliche Regionen Ostdeutschlands sind davon jedoch deutlich stärker betroffen als boomende Großstadtregionen. Ähnliches gilt für die Migration und die Entwicklung der Bevölkerungszahlen: Wanderungsbewegungen konzentrieren sich auf wirtschaftsstarke Regionen, diese gewinnen in der Folge an Einwohnern. Strukturschwache Regionen mit schlechten Arbeitsperspektiven verlieren insbesondere an junger Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, was den dortigen Alterungsprozess wiederum beschleunigt. Migration betrifft zudem einzelne Altersgruppen stärker als andere. Sie spielt in den ältesten Bevölkerungsgruppen kaum eine Rolle, in den jüngeren verändert sie die Bevölkerungszusammensetzung deutlich stärker. Migration wirkt sich außerdem in der kurzen Frist hauptsächlich auf den Mietwohnungsmarkt aus.
Die Zusammenhänge der gesamtgesellschaftlichen Trends sind vielschichtig und multidirektional. Für die nachfolgende Beschreibung der Wohnsituation sollte jedoch stets und mindestens berücksichtigt werden, dass sich die Gesellschaftsstrukturen in ständigem Wandel befinden und dies auch Implikationen für die Analyse der Wohnsituation hat.
Mieternation
Deutschland ist eine Mieternation. Das heißt jedoch nicht, dass die meisten Menschen in Deutschland tatsächlich zur Miete wohnen. Deutschland ist zweigeteilt. Knapp die Hälfte der Menschen wohnt im selbstgenutzten Wohneigentum, die andere Hälfte mietet. In Eigentümerhaushalten wohnen im Durchschnitt mehr Personen als in Mieterhaushalten. Daraus folgt, dass die Wohneigentumsquote auf Haushaltsebene geringer ist als auf Personenebene: 46,5 % der Haushalte sind Eigentümerhaushalte. Deutschland ist vor allem im internationalen Vergleich eine Mieternation: Innerhalb der EU-Länder hat Deutschland die geringste Wohneigentumsquote.
Die Teilung in Mieter und selbstnutzende Eigentümer vollzieht sich in Deutschland entlang verschiedener sozio-ökonomischer, aber auch geografischer Merkmale weniger symmetrisch, als es das bundesdeutsche Mittel zunächst vermuten ließe. Beispielsweise unterschiedet sich die Wohneigentumsquote in den alten Ländern auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich von der in den ostdeutschen Ländern. Seit der Wiedervereinigung kam es bei der Wohneigentumsquote, wie bei anderen sozio-ökonomischen Indikatoren auch, zu einem Konvergenzprozess. Das bedeutet: Ausgehend von einem geringeren Niveau, ist die Wohneigentumsquote im Osten stärker gestiegen als im Westen, insbesondere bis zum Beginn der 2000er Jahre. Dennoch liegt der Anteil der Personen, die in den eigenen vier Wänden wohnen, im Westen mit 51 % deutlich über dem im Osten der Republik mit 42 % ( Abb. 3).
Abb. 3: Wohneigentumsquote in Deutschland, Anteil der Haushalte bzw. Personen, die im selbstgenutzten Wohneigentum wohnen, 1984–2018. Quelle: SOEP v35, eigene Berechnungen.
Gesamtgesellschaftlich ist die Wohneigentumsquote in Deutschland auf dem höchsten jemals gemessenen Niveau, sie stagniert allerdings seit 2010. Zwischen den Altersgruppen lassen sich jedoch Verschiebungen in der Wohneigentumsquote erkennen. So ist der Anteil der Wohneigentümer unter den über 70-Jährigen bereits seit der Wiedervereinigung stetig steigend, von 37 % im Jahr 1990 auf 59 % im Jahr 2018, bei den 50- bis 70-Jährigen ist die Quote ebenfalls gestiegen. Natürlich beginnen die typischen wohneigentumsbildenden Jahre nicht mit dem 60. oder 70. Lebensjahr, sondern in den Jahren der Familiengründung ab 30.Unter den 30- bis 40-Jährigen wohnten im Jahr 2018 nur noch knapp ein Drittel in einer Eigentumsimmobilie, Mitte der 1990er waren es noch über 40 %. Die starken Veränderungen in den hohen Altersgruppen sind dadurch zu erklären, dass Geburtskohorten, die in jungen Jahren wenig Wohneigentum gebildet haben, durch Kohorten ersetzt werden, unter denen es mehr Wohneigentümer