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Willis Welt: Der nicht mehr ganz normale Wahnsinn
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Willis Welt: Der nicht mehr ganz normale Wahnsinn
eBook235 Seiten2 Stunden

Willis Welt: Der nicht mehr ganz normale Wahnsinn

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Über dieses E-Book

Birte Müller erzählt vom Familienalltag mit ihren beiden Kindern (eines mit Down-Syndrom und eines mit Normal-Syndrom): von Freud und Leid, von nervigen Kommentaren und wundervollen Begegnungen und von den Selbstzweifeln einer Mutter. Mit viel Witz und Selbstironie ist ihr ein Buch gelungen, das eine Liebeserklärung an ihre Tochter Olivia und ihren Sohn Willi ist, die sie das Leben lehren!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. März 2021
ISBN9783772543722
Willis Welt: Der nicht mehr ganz normale Wahnsinn

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    Buchvorschau

    Willis Welt - Birte Müller

    Vorwort

    Es ist März 2021. Vor mittlerweile vierzehn Jahren ist unser Sohn Willi auf diese Welt gekommen. Und vor sieben Jahren ist dieses Buch zum ersten Mal erschienen.

    Nun wird es eine Taschenbuchausgabe von Willis Welt geben – das freut mich. Ich kaufe nämlich selber am liebsten Taschenbücher.

    Das neue Buch soll auch ein neues Vorwort bekommen. Nun sitze ich hier und versuche zusammenfassen, wie es uns seitdem ergangen ist, ohne dabei ein weiteres Buch zu schreiben.

    Als Erstes kann ich sagen: Willi geht es gut! Er scheint ein glücklicher Mensch zu sein. Auch seine kleine Schwester Olivia ist mit ihren zwölf Jahren eine großartige und starke Persönlichkeit, die sich bis heute auf keinen Fall mit weniger Aufmerksamkeit als ihr behinderter Bruder zufriedengibt.

    Das Wort «Behinderung» ist übrigens nach wie vor das Wort meiner Wahl, wenn ich Willis Besonderheit benennen muss oder möchte. Dass Willi auch das Down-Syndrom hat, erwähne ich mittlerweile sehr selten, denn es bringt mich nach wie vor in eine Rechtfertigungsposition. Damit meine ich nicht unbedingt den Rechtfertigungsdruck für Willis Existenz, sondern vielmehr für seinen krass unterdurchschnittlichen Entwicklungsstand: «Solche Kinder» können doch normalerweise sprechen, gehen mit vierzehn schon lange selbstständig zur und auf die Toilette oder fahren sogar allein U-Bahn und gehen einkaufen. Aber Willi ist weder «typisch Trisomie 21» noch «typisch Autist» noch typisch sonst was, außer vielleicht typisch Willi. Es hat mir sehr gut gefallen, was Willis Lehrerin einmal zu mir sagte in Bezug auf Menschen mit bestimmten Behinderungen, nämlich: «Kennst du einen, kennst du einen.» Recht hat sie, und im Prinzip trifft das auf alle Menschen zu.

    Es hat zwar in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer, gut gemeinter Ersatzwörter für «Behinderung» gegeben, aber mich hat keines überzeugt. Es kommt mir so ähnlich vor wie die ständige Debatte um die genderkorrekte Sprechweise. Während manche Leute sich exzessiv damit beschäftigen, dass man unbedingt «Innenpolitiker*innen» sagen muss, bleibt das eigentliche Problem – nämlich dass die meisten höheren Ämter weiterhin von Männern besetzt werden – ungelöst. So ähnlich empfinde ich die Debatte über das Wort «behindert».

    Statt sich wirklich mit behinderten Menschen zu beschäftigen, wird ständig um die Sprache gefeilscht. Aber hübsche Wortschöpfungen lösen wirklich kein einziges unserer Alltagsprobleme – auch nicht, wenn sie englisch sind.

    Ich habe einmal an einer Universität für Studierende der «Heilpädagogik» aus diesem Buch gelesen. Die Zuhörer erzählten danach, dass sie die Lesung besonders interessant fanden, da sie endlich einmal etwas über das echte Leben und Verhalten eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfahren hätten. Als ich erstaunt frage, womit sie sich denn im Studium sonst so beschäftigten, stellte sich heraus, dass sie sich zwar ausgiebig mit Themen wie «Behinderung als rein gesellschaftliches Konstrukt» auseinandergesetzt hatten, aber nie damit, was «Behinderung» konkret für Menschen bedeutet. Und wirkliche Begegnungen mit «solchen Menschen» hatten die wenigsten gehabt – und wenn, dann nur im privaten Bereich.

    Für mich als Mutter eines schwerbehinderten Kindes scheint es dagegen ziemlich irrelevant, ob nun Akademiker Behinderung als ein von der Gesellschaft erzeugtes Phänomen entlarven oder nicht, denn rein praktisch muss ich meinem Sohn dann immer noch selber den Hintern waschen. Ich hätte wirklich mehr davon, wenn jemand von den Studis mit Willi öfter mal einen Ausflug in den Zoo machen würde.

    Meine persönliche Erfahrung zeigt mir immer wieder: Wer keine Berührungsangst mit dem Thema hat, muss auch keine Angst vor dem Wort haben. Und wo man allzu verkrampft versucht, dem Wort auszuweichen, versucht man oft auch, der Realität von Menschen mit Behinderung auszuweichen.

    Das kann einem in diesem Buch auf jeden Fall nicht passieren!

    Und wie ist denn nun unsere Realität heute? Es ist nicht immer einfach bei uns, aber das darf wohl jeder Mensch über sein Leben sagen.

    Wir sind oft glücklich und oft erschöpft und brauchen auch oft Hilfe bei der Bewältigung unseres Alltags – und ich bin leider immer noch keine Großmeisterin darin, Hilfe einzufordern. Aber ich übe weiter. Zum Glück haben wir unsere Eltern,* die immer an unserer Seite sind, ganz ohne dass wir sie darum bitten müssen.

    Es fehlt mir besonders, auch mal etwas Zeit mit Matthias allein zu verbringen. An Willis neuntem Geburtstag haben wir mit Champagner angestoßen und uns nur halb scherzhaft gegenseitig gratuliert: Die Hälfte haben wir geschafft.

    Grundsätzlich finde ich allerdings, dass es mit den Jahren alles immer ein Stück leichter wird. Willi macht seine ganz kleinen Schritte, Olivia macht ihre ganz großen Schritte, und ich versuche mitzuhalten durch Akzeptanz für alles, was kommt (oder eben auch nicht).

    Hier zum Abschluss vielleicht einfach eine kleine Liste erstaunlicher Gegebenheiten aus unserem Leben, die ich mir vor sieben Jahren nicht hätte vorstellen können:

    –Willi trägt tagsüber keine Windel mehr und sagt Bescheid, wenn er auf die Toilette muss.

    –Olivia findet alles peinlich, was rosa ist oder glitzert, und ihre Wunschfrisur ist eine Haarlänge von 3 mm (was sie auch bereits auf der einen Seite ihres Kopfes trägt).

    –Willi läuft nicht mehr weg!

    –Mein Mann vergisst immer noch die Einkaufszettel und weiß bis heute nicht, welchem Kind welche Jogginghose gehört.

    –Willi hat nicht die Zahlen gelernt, außer der «Eins» (was bei ihm wie «ass» klingt). Darum ist es besonders lustig, wenn er zählt. Er legt fünf Karten auf den Tisch und spricht dazu konzentriert: «Ass, ass, ass!»

    –Willi ist ein großer Kenner klassischer Musik geworden. Er hört alle sechs Teile des Weihnachtsoratoriums von Bach konzentriert am Stück und liebt zum Beispiel die Carmina Burana von Carl Orff und Opern (alles parallel zu «Alle meine Entchen» und Co.).

    –Olivia kann ohne ihren Nönö schlafen. (Der Nönö war über zehn Jahre ihr absolut lebensnotwendiger Schnuffellappen.)

    –Willi ist in die Pubertät gekommen, und er bekommt schon Schambehaarung. (Ich weiß, es ist sehr indiskret, das zu schreiben; aber da sein körperliches Reifen für uns ein komplett verblüffendes Phänomen ist, tue ich es trotzdem.)

    –Mein Mann scheint dagegen aus der Pubertät nie wirklich herausgekommen zu sein (die beiden amüsieren sich jetzt gemeinsam prächtig über ihre Pupse).

    –Ich kann mit Willi in einen Supermarkt gehen, ohne dass er Dinge aus den Regalen reißt. (Er beißt nur ab und zu mal in eine Gurke, damit kann ich leben.)

    –Letztes Wochenende habe ich bis 9.30 Uhr (in Worten: «halb zehn»!) geschlafen!

    –Ein neuartiges Virus legt seit über einem Jahr unser Leben lahm. Da Willi sich weder an Abstandsregeln noch an das Tragen eines Mundschutzes halten kann, sind wir zuhause eingesperrt. Trotzdem musste noch keiner von uns in eine Einrichtung eingewiesen werden (das ist wahrscheinlich das Erstaunlichste in meinem Leben überhaupt).

    Viel Spaß beim Lesen!

    *Und «Oma» und «Opa» sind mit Abstand die Worte, die Willi am verständlichsten und am häufigsten spricht!

    Willis Welt. Wie alles begann

    Eines Tages fragte mich der Leiter des Verlags Freies Geistesleben, ob ich nicht für das Lebensmagazin a tempo einen Artikel schreiben möchte. Ich hatte gerade für den Verlag ein Buch illustriert, in dem die Hauptfigur Denni (so wie mein Sohn Willi) das Down-Syndrom hat. Ich wusste zwar nicht genau, was ein Lebensmagazin ist, aber weil ich gern über Willi schrieb und mir das Heft gefiel, sagte ich zu (und gut bezahlt wurde ich sogar auch noch dafür). Mein Auftrag war recht frei umrissen: Es sollte um unser Leben mit einem behinderten Kind und das neue Buch gehen. Herausgekommen ist Sondermodell Willi, ein Text, der sich einzig und allein mit der Existenzberechtigung meines Sohnes auseinandersetzt – das neue Kinderbuch allerdings blieb unerwähnt.* Das war die Geburtsstunde von Willis Welt, einer Kolumne, die ich die folgenden zwei Jahre für a tempo schrieb. In diesem Buch finden Sie alle Kolumnen in gnadenlos ungekürzter Form. Willi war in dieser Zeit zwischen vier und sechs Jahre alt. Ein paar in dieser Form bisher unveröffentlichte Texte sind noch dazugekommen, denn ich möchte Ihnen die absolut grenzwertige Zeit vor Willis viertem Lebensjahr nicht ganz unterschlagen. Viel Spaß im Irrenhaus!

    *Deswegen möchte ich es wenigstens hier nennen: Der Titel lautet Denni, Klara und das Haus Nr. 5 und die Autorin ist Brigitte Werner.

    Gefangen in der Extremnormalität

    Wenn ich anderen Müttern glauben darf, ist bei uns zu Hause alles ganz normal, eben so wie bei allen anderen Familien auch. Allerdings hätte ich meinen Mann und mich schon vor der Geburt unserer Kinder als nicht ganz normal bezeichnet, deswegen passt es wohl auch ganz gut, dass gerade wir ein Spezialkind bekommen haben.

    Willi schafft es tatsächlich, sich noch bekloppter zu verhalten als wir selbst. Mein Mann und ich sind alberne Menschen, aber wir haben wenigstens meistens einen erkennbaren Grund dafür, wenn wir loslachen. Willi bringt seine Lachattacken ganz ohne ersichtlichen Anlass zustande – Respekt! Da mag man denken: Die arme kleine Schwester Olivia, die kurze Zeit später ebenfalls noch in diese Familie gekommen ist!

    Tatsächlich denke ich das auch manchmal. Allerdings verhält auch sie sich so normal, wie Kleinkinder sich eben verhalten: nämlich eben gar nicht. So erklärt sie mir morgens, dass sie sich nicht die Schuhe anziehen kann, weil sie gerade endlich mal eine Pause macht, das sei ja wohl ihr gutes Recht. Und wenn ich ihr dann lang und breit erläutere, dass sie jetzt aber in den Kindergarten gehen soll, weil Mama arbeiten muss, um Geld zu verdienen für die ganzen Dinge, die wir immer kaufen müssen (wobei es sie nicht weiter zu interessieren scheint, dass wir sonst kein Essen hätten, aber sehr wohl beeindruckt, dass man dann auch keine Geburtstagsgeschenke bekommen würde), und sie am Ende meines Monologes sagt: «Danke für das Gespräch, Mama!», dann weiß ich: Genau diese Tochter hatte uns noch gefehlt!

    Und so wundere ich mich gar nicht erst, wenn ich den Klodeckel öffne und die Toilette bis oben hin mit Quietscheentchen gefüllt ist. Jedem meiner Hausgenossen traue ich zu, für die Enten im Klo verantwortlich zu sein. Ich frage nicht einmal, wer es war, sondern mache den Deckel schnell wieder zu und freue mich lediglich, dass anscheinend noch keiner draufgemacht hat.

    Ich möchte gerne denken, dass wir eine ganz normale Familie sind, mit Höhen und Tiefen, nur dass unsere Tiefen mit Willi ein Albtraum sind und unsere Höhen vielleicht deswegen umso mehr herausragen. – Es ist wohl so, dass wir wirklich die gleichen Probleme haben wie alle anderen Familien (und Gummitiere im Klo sind ganz sicher ein kleineres). Aber warum darf man sich eigentlich nicht über Dinge beklagen, die die anderen auch haben? Und was ist das für ein komischer Wettbewerb unter den Müttern nach dem Motto «Wer hat es schwerer mit seinem Kind»? Weil ich kein Spielverderber sein will, mache ich da nicht mit, denn wir sind in vielen Bereichen einfach unschlagbar (oder kennen Sie ein Kind, das wie Willi acht eitrige Mittelohrentzündungen im Jahr schafft?). Denn selbst die vielen «Normalokinder», die wie mein Sohn Willi ganz normal zur Logopädie gehen, können im Gegensatz zu Willi wenigstens überhaupt etwas sprechen! Und natürlich haben auch «normale» Vierjährige Brillen, Hörgeräte, Paukenröhrchen, Windeln, Ergotherapie, Atemwegsinfekte und werfen den Teller an die Wand oder ziehen sich nicht selbst an und aus. Aber wir sind anscheinend in einer Art Hypernormalität gefangen! Wenn auf ein Kind all diese Dinge gleichzeitig zutreffen, dann nennt man das eben nicht mehr normal, sondern behindert. Warum etwas gleichreden, was nicht gleich ist? Ich persönlich kann den Blödsinn nicht mehr hören: Alle Kinder sind doch verschieden, das eine ist blond, das andere trägt eine Brille und noch ein anderes ist eben behindert (wobei das Wort natürlich nicht direkt ausgesprochen wird). Für mich ist das wie Äpfel mit Birnen vergleichen.

    Von unserem Leben in der Extremnormalität möchte ich Ihnen in diesen Texten hier erzählen. Ich werde über unseren Alltag mit Willi und Olivia schreiben, über meinen tollen Ehemann rumnölen, mich über besondere Begegnungen freuen, mich immer wieder über blöde Kommentare auslassen, selbst politisch Unkorrektes schreiben und bekennen, dass ich manchmal völlig überfordert bin und der schönste Moment des Tages dann der ist, wenn beide Kinder schlafen.

    Ich werde mich angreifbar machen, weil ich offen zugebe, nicht jede Therapie für meinen Sohn mitzumachen, und weil ich «trotzdem» arbeite und auf Lesereisen ins Ausland fahre. Ich mache mich bei den Eltern anderer behinderter Kinder unbeliebt, weil ich nicht glaube, dass nur die Gesellschaft mein Kind behindert, sondern dass er eben einfach auch behindert ist. Ich stelle meine Mitmenschen vor die Herausforderung, meinen Willi in all seiner Andersartigkeit zu nehmen und zu lieben, wie er ist. Ich nehme mir das Recht heraus, jeden noch so winzigen Fortschritt meines Sohnes wild zu feiern und daneben dem Wunder der normalen Entwicklung meiner Tochter zu huldigen. Und ich werde rumjammern über die Dinge, die den Alltag von allen Familien so schwer machen, aber über die man sonst nicht jammern

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