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fördern statt fordern: Begegnungen und Sichten aus 53 Jahren Journalismus
fördern statt fordern: Begegnungen und Sichten aus 53 Jahren Journalismus
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eBook552 Seiten6 Stunden

fördern statt fordern: Begegnungen und Sichten aus 53 Jahren Journalismus

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Über dieses E-Book

Das Buch enthält eine Auswahl von Zeitungsartikeln und unveröffentlichten Texten zu einer Vielfalt von gesellschaftlichen, philosophischen, pädagogischen und sozialen Themen, die der Autor im Lauf der Jahre geschrieben hat. Auch wenn die unmittelbaren Anlässe vergangen oder vergessen sind, haben viele Fragestellungen und Erwägungen ihre Aktualität bewahrt und mitunter neue Brisanz gewonnen.

Aus dem Buch:
- Vier Tage mit Elisabeth Kübler-Ross. Ein Workshop über «Leben, Tod und Übergänge»
- Gespräch mit Elisabeth Kübler-Ross: «Wirkliche Hilfe ist immer gegenseitig»
- War denn alles umsonst? Kritische Fragen zum Erbe der sechziger Jahre
- Gespräch mit dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire: «Ich bin von Grund auf optimistisch»
- Gespräch mit Thomas Gordon, dem Autor des Bestsellers «Familienkonferenz»: «Wir vertrauen Kindern viel zu wenig»
- Bürokratie als gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Gesichtspunkte zu einer Ethik der Selbstbestimmung
- Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Wirklichkeit. Adolf Portmanns Umschau «An den Grenzen des Wissens»
- Sollen wir die Schule abschaffen? Ivan Illichs radikale Ansätze sind mehr als eine Provokation
- Der Mitmensch ist die wichtigste Umweltbedingung für den Menschen. Zur Erziehungs-Psychologie von Anne-Marie und Reinhard Tausch
- Fremderfahrung und Selbsterfahrung - eine pädagogische Alternative. Zu Paulo Freires «Pädagogik der Unterdrückten»
- Die verkannten Pioniere. Rudolf-Steiner-Schulen in der Schweiz
- Selbsthilfe als ein Schritt zur Mündigkeit. Über Chancen und Schwierigkeiten von Selbsthilfegruppen
- Die Seele zählt nicht. Über die Schwierigkeit, für sozialpsychiatrische Arbeit Anerkennung und Bezahlung zu bekommen
- Elektroden statt Gefängnisse. Die sanfte Technologie der «sauberen Folter»
- Theater ist gerafftes Leben. Zu Jean-Louis Barraults «Erinnerungen für morgen»
- Hommage à Beuys oder: Grenzenlose Mystifikation. Kritische Anmerkungen zur Basler «Kunstdiskussion»
- Der weggeschobene Tod. Warum Sterben in unserer Zeit so schwierig ist
- Timothy Leary: Erleuchtung oder Mystifikation?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. März 2021
ISBN9783752663679
fördern statt fordern: Begegnungen und Sichten aus 53 Jahren Journalismus
Autor

Christoph A. Müller

Christoph A. Müller, geboren 1939, hat während 20 Jahren als Journalist für schweizerische Zeitungen über politische und gesellschaftliche Themen geschrieben. Während 10 Jahren wirkte er beim Aufbau eines sozialpsychiatrischen Zentrums mit. Danach arbeitete er als Kommunikationsberater und leitete während einiger Jahre ein Bed & Breakfast. Er hat vier erwachsene Kinder und lebt in Basel.

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    Buchvorschau

    fördern statt fordern - Christoph A. Müller

    Inhaltsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Gesellschaft & Politik

    Ohnmacht oder Hoffnung?

    Fragen auf dem Weg in die Zukunft

    Ansätze eines radikalen Umdenkens

    Zu Marilyn Fergusons Buch «Die sanfte Verschwörung»

    Der Mensch: Ein Wert an sich

    Zu Jan Prochazkas Aufsätzen und Reden

    Politik ist Systemveränderung

    Bemerkungen nach der Mitbestimmungsdebatte im Nationalrat

    Inflation und Mitbestimmung

    Was steckt hinter den Aufblähungen von Preisen und Verwaltungen?

    Objektiv und neutral

    Schlagworte sind noch keine Medienpolitik

    Kritische Toleranz: Ja zur Aufhebung des Ausnahmerechts

    Zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 20. Mai 1973

    War denn alles umsonst?

    Kritische Fragen zum Erbe der sechziger Jahre

    Nur Empörung?

    Nachdenken über die Zürcher Strassenschlachten

    Bedeutende Zonen

    Eine Glosse

    Ethik & Weltbilder

    «Ich bin von Grund auf optimistisch»

    Gespräch mit dem brasilianischen Pädagogen Paulo Freire

    Bürokratie als gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit

    Gesichtspunkte zu einer Ethik der Selbstbestimmung

    «Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Wirklichkeit»

    Zu Adolf Portmanns Umschau «An den Grenzen des Wissens»

    Die Kirche kann sich keinen Pfürtner leisten

    Zur prinzipiellen Bedeutung eines innerkirchlichen Konflikts

    Der Mensch – Geschöpf oder Schöpfer?

    Philosophische Gesichtspunkte zu Gegenwartsfragen

    Brillant, aber irreführend

    «Magische Namen: Rudolf Steiner» – ein Fernsehfilm von Roland Brodmann

    Ethisches Defizit

    Zu Stephan H. Pfürtners Schrift «Politik und Gewissen – Gewissen und Politik»

    Schule & Bildung

    «Wir vertrauen Kindern viel zu wenig»

    Gespräch mit Thomas Gordon, dem Autor des Bestsellers «Familienkonferenz»

    Sollen wir die Schule abschaffen?

    Ivan Illichs radikale Ansätze sind mehr als eine Provokation

    «Der Mitmensch ist die wichtigste Umweltbedingung für den Menschen»

    Welche Erziehung fördert Autonomie und humanes Zusammenleben?

    Fremderfahrung und Selbsterfahrung – eine pädagogische Alternative

    Zu Paolo Freires «Pädagogik der Unterdrückten»

    Humane Schule – eine Illusion?

    Die verkannten Pioniere

    50 Jahre Steiner-Schulen in der Schweiz

    Angst zwischen Eltern und Lehrpersonen

    Ein Anstoss zum Nachdenken

    Lernen ohne Druck und ohne Noten

    Individualisierender Unterricht als Versuch innerer Schulreform

    Noten sind nicht nötig

    Schulbeispiel Dänemark – eine Lektion in praktizierter Demokratie

    Schule macht Spass

    Was in anderen Ländern möglich ist

    Wozu überhaupt Bildungsforschung?

    Erwägungen auf dem Weg zu einer aargauischen Hochschule für Bildungswissenschaften

    Zwischen Schulbank und Arbeitswelt

    «Schule und Beruf» – eine aussergewöhnliche Schule für junge Erwachsene

    Zauberwort «Koordination»

    Plädoyer für eine pluralistische Schule

    Selbsthilfe & Psychosoziales

    Selbsthilfe als ein Schritt zur Mündigkeit

    Über Chancen und Schwierigkeiten von Selbsthilfegruppen

    Ein Ort, wo man Mut schöpfen kann

    Das «Selbsthilfezentrum Hinterhuus» in Basel

    Sommerfest im «Hinterhuus»

    Der erste Schritt

    Das Gute, das verletzt

    Selbsthilfe als Herausforderung für die Fachleute

    Hilfe zur Selbsthilfe: Geh zu den Leuten

    Ist Psychotherapie ein Thema für Massenmedien?

    Notsignale

    Barbara – ein Fall für die Psychiatrie?

    Wege zueinander und zu sich selber

    «Psycho-Treff» – ein Fernsehexperiment mit überwältigendem Erfolg

    Irrfahrt zur Wirklichkeit

    Mehr als ein Hör-Spiel

    Mehr Freundlichkeit im sozialen Alltag

    Eindrücke von einer Studienreise in den Niederlanden

    Sich selber neu erfinden

    Kunsttherapie unterstützt den Heilungsvorgang

    Die Menschen sollen sich wohlfühlen

    Physiotherapie ist keine Nebensache

    Die Seele zählt nicht

    Über die Schwierigkeit, für sozialpsychiatrische Arbeit Anerkennung und Bezahlung zu erhalten

    Elektroden statt Gefängnisse?

    Die sanfte Technologie der «sauberen Folter»

    Kunst & Kultur

    Gibt es eine Nacht, die ewig dauert?

    Zum 150. Todestag von Heinrich von Kleist (1777–1811)

    Theater ist gerafftes Leben

    Zu Jean-Louis Barraults «Erinnerungen für morgen»

    Hommage à Beuys oder: Grenzenlose Mystifikation

    Kritische Anmerkungen zur Basler «Kunstdiskussion»

    Wer entscheidet, was gespielt wird?

    Ein Anstoss zum Umdenken

    So einfach ist die Liebe

    Alltag

    Der Papierberg von Madeleine

    Eine Geschichte aus dem «Selbsthilfezentrum Hinterhuus»

    Abschied vom Familiennamen?

    Hausfrau im Stundenlohn

    Papi und Mami

    Spuk ohne Grenzen

    Tod & Sterben

    Sterben lernen, leben lernen

    Vier Tage mit Elisabeth Kübler-Ross

    Elisabeth Kübler-Ross

    Berühmte Schweizerinnen im Ausland

    «Wirkliche Hilfe ist immer gegenseitig»

    Ein Gespräch mit Elisabeth Kübler-Ross

    Hospiz – mit Liebe betreuen

    Die Hospiz-Pionierin Cicely Saunders

    Der weggeschobene Tod

    Warum Sterben in unserer Zeit so schwierig ist

    Spiritualität

    Wiedergeburt – eine alte Frage neu gestellt

    Rückblick auf die Basler Psi-Tage 1988

    Erleuchtung oder Mystifikation?

    Zu Timothy Learys psychedelischen Verheissungen

    Von Saulus zu Paulus

    Ein Neurochirurg erfährt nichtsinnliche Wirklichkeit

    Dies & das

    Ein Traum

    China ist näher, als wir denken

    Notizen aus der Touristenperspektive

    Wohin steuert China?

    Wenn mann frau in den Mantel hilft

    Stufen der Emanzipation

    Ein Ort zum Leben, zum Lernen und zum Heilen

    Eine persönliche Utopie

    Meinen Eltern,

    die mich auch dann unterstützten,

    wenn sie mich nicht verstanden.

    Vorbemerkung

    «Nichts ist älter als eine Zeitung von gestern», sagt eine beliebte Redewendung. Ich komme nicht an ihr vorbei, wenn ich mich anschicke, eine Auswahl von Artikeln zu publizieren, die ich vor 20, 40 oder fast 60 Jahren geschrieben habe. Wen sollen diese alten Geschichten heute noch interessieren?

    Als ich kürzlich in den Ordnern blätterte, die meine aufgeklebten Zeitungsausschnitte enthalten, und den Archivgeruch der vergilbten Papiere einatmete, stellten sich viele bunte Erinnerungen ein, aber natürlich auch die Frage: Wäre es nicht an der Zeit, diesen alten Kram zu entsorgen?

    Aber ich hatte schon zu lesen begonnen und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mich von dem einen oder anderen Text mitnehmen zu lassen, den Gestalten und Ereignissen, die mich damals beschäftigten, wieder zu begegnen und sie aus heutigem Blickwinkel neu zu betrachten. Vieles war definitiv vorbei, keine Frage; Geschehnisse ohne weitere Bedeutung oder Texte, die für den Tag, die Woche oder bestenfalls den Monat geschrieben waren. Aber es gab andere Artikel, deren Anlass zwar ebenfalls zeitbedingt war, die aber Gesichtspunkte und Aussagen enthielten, die mir auch heute noch lesenswert erscheinen.

    Mein Problem im Journalismus war es nämlich, dass mich die Tagesaktualität nie wirklich interessierte. Ich sage dies, obwohl ich einige Jahre im Tagesjournalismus gearbeitet habe, und es auch nicht bereue. Nirgends ist deutlicher erlebbar, was Journalismus ausmacht – die ebenso stressige wie stimulierende Herausforderung, innerhalb von Stunden und manchmal Minuten etwas zu produzieren, das dem Urteil Tausender von Menschen standhalten muss. Aber die Eintagsfliegen waren nicht mein Ding. Ich versuchte, wenn immer möglich, Hintergründe einzufangen, Zugrundeliegendes auszumachen und Exemplarisches aufzuzeigen. Was mich interessierte, waren «les choses derrière les choses», wie es der französische Filmregisseur Marcel Carné einmal sagte, «die Dinge hinter den Dingen». Und diese Untergründe haben meist eine längere Lebensdauer als das Geflimmer an der Oberfläche.

    Hinzu kommt eine Merkwürdigkeit, die mit zwei Themen zu tun hat, mit denen ich mich öfter auseinandersetzte: Schule und Psychiatrie. In beiden Bereichen fällt mir auf, dass die jeweiligen Institutionen über eine systemimmanente Trägheit verfügen, die sie gegen Reformen stark immunisiert. Das hat zur Folge, dass sich grundlegende Veränderungen nur langsam durchsetzen und die vorgebrachten Reformforderungen eine lange Lebensdauer haben. Deshalb sind einige der Artikel, die ich vor 40 Jahren geschrieben habe, leider noch immer aktuell.

    Ein letzter Grund, der mich schliesslich dazu bewog, diese Texte in Buchform zu veröffentlichen, ist die Möglichkeit des «Print on demand», des «Drucks nach Bedarf» und des eBooks. Dank dieser Technologie ist die Publikation eines Buches nicht mehr an eine Mindestauflage gebunden, sondern kann in wenigen oder nur einzelnen Exemplaren erfolgen, und das zu einem erstaunlich günstigen Preis. Beim eBook fällt auch der Druck weg – es hat sich völlig entmaterialisiert. Wenn also auch nur eine kleine Zahl von Leserinnen und Lesern an meinen Texten Gefallen findet, hat sich das Unterfangen gelohnt.

    Ich habe die Artikel nach Themen gruppiert. Die meisten entstanden in den siebziger und den achtziger Jahren, aber insgesamt erstrecken sie sich über den Zeitraum von 1961 bis 2014. Das sind 53 Jahre – mehr als ein halbes Jahrhundert. Wo es mir nötig schien, habe ich kurze Anmerkungen aus heutiger Sicht vorangestellt, um etwas in Erinnerung zu rufen oder einen Kontext herzustellen, der das Verständnis erleichtert. An den Texten selbst habe ich kaum etwas verändert – ausser an der Rechtschreibung, die ich aktualisiert habe, und Anpassungen an eine gendergerechte Sprache. Ich verwende entweder beide Genderformen oder abwechslungsweise weibliche und männliche, um diesem Anliegen gerecht zu werden, ohne den Lesefluss mit Behelfszeichen wie Sternchen, Schrägstrich oder anderem zu behindern.

    Obwohl die Texte aus verschiedensten Anlässen entstanden sind, die sich an Vorfälle, Zufälle oder die Launen des Zeitgeistes anlehnen, stelle ich beim Lesen aus heutiger Distanz so etwas wie einen roten Faden fest. Das erstaunt mich zwar, weil es sicher nicht beabsichtigt war, aber es freut mich auch als Zeichen einer inneren Stimme, die sich über viele Jahre hinweg immer wieder aufs Neue auszudrücken suchte. Ich überlasse es meinen Leserinnen und Lesern, ihre Melodie zu erkennen, und wünsche ihnen dabei viel Vergnügen.

    Christoph A. Müller

    Basel, im Winter 2020/21

    1 Gesellschaft & Politik

    Ein Querschnitt von gesellschaftspolitischen Fragen und Themen, mit denen ich mich journalistisch beschäftigt habe. Zufällig, ungeordnet, ohne Gewichtung – sind sie hier dem Reiz des Zufalls überlassen.

    Ohnmacht oder Hoffnung?

    Fragen auf dem Weg in die Zukunft

    Anmerkung 2021

    In diesem Text, der vor bald 40 Jahren entstand, fehlt das Thema, das heute – vor allen anderen – unseren Blick in die Zukunft beherrscht: die Klimaerwärmung. Der wissenschaftliche Konsens über die globale Erwärmung kam erst um die Jahrtausendwende zustande. Und der weltweite Aufbruch einer Klimabewegung, die sich zu einer mächtigen, gesellschaftsverändernden Kraft entwickelt hat, ist erst wenige Jahre alt. Doch diese jüngsten Entwicklungen fügen sich überraschend deutlich an jene Tendenzen an, die ich damals beschrieb. Ein Grund mehr zur Hoffnung!

    Angst vor der Zukunft ist kein Hirngespinst: Dem Patienten Menschheit stellen Zukunftsforscher alarmierende Prognosen. Sie fordern eine radikale Umkehr in unserem Denken und Handeln, wenn eine globale Katastrophe noch verhindert werden soll. Was bedeutet dies für den einzelnen Menschen? Ist er dem Weltgeschehen ohnmächtig ausgeliefert? Oder ist er imstande, aus eigenen Kräften Neues zu bewirken?

    Es ist nicht schwierig, die Aussichten aufs Jahr 2000, auf unsere nächste Zukunft also, schwarzzumalen. Global gesehen drängen sich apokalyptische Visionen geradezu auf, viel eher jedenfalls als Hoffnungsträume. Während Krieg, Hunger, Folter, Unterdrückung und Ausbeutung auf weiten Flächen unseres Planeten das Leben von Millionen Menschen bedrohen und zerstören, leistet sich die Minderheit der Industrieländer durch Rohstoffverschleiss, Naturzerstörung und Rüstungswettlauf den beispiellosen Wahnsinn einer Selbstmordstrategie, die das Weiterleben der gesamten Menschheit in Frage stellt.

    KASSANDRARUFE ALLENTHALBEN

    Wenn dieser Raubbau wenigstens den Satten dieser Welt Lebensfreude, Lust und Erfüllung bescherte. Aber das Gegenteil ist der Fall. In lärmigen, stinkenden Grossstädten reiben sich Millionen von unglücklichen Privilegierten (sie haben Nahrung, Wohnung, Arbeit) unter krankmachenden Lebensbedingungen auf. Viele sind von Angst befallen: Angst vor der Zukunft, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Krankheit, Angst vor dem Altwerden, Angst, den Job zu verlieren, Angst vor Krieg oder anderen Katastrophen. Selten trifft man Menschen, junge oder alte, die mit ihrer Arbeit und ihrer Umwelt wirklich zufrieden sind, die sich in tragfähigen, bereichernden Beziehungen (es muss nicht ein harmonisches Familienleben sein) geborgen fühlen, die mit Zuversicht in die Zukunft blicken, kurz: die von sich sagen können, dass sie ein erfülltes Leben führen. Es hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unzählige Mahner und Warner gegeben, die ein von Grund auf neues Denken forderten: Physiker und Dichter, Philosophen, Soziologen, Theologen und Politiker – unter ihnen ebenso Aussenseiter wie anerkannte Kapazitäten. Sie erhoben ihre Stimme gegen die rücksichtslose Plünderung der Erde, gegen einen materialistischen Grössenwahn, auf dessen Altar Menschlichkeit und Lebensqualität geopfert werden. Sie verlangten eine Neuorientierung unserer Werte und eine radikale Umkehr im menschlichen und gesellschaftlichen Handeln.

    Das Verdienst dieser Kassandrarufe ist es, dem Patienten Menschheit eine alarmierende Diagnose zu stellen. Doch ihre Appelle und Therapievorschläge zielen fast allesamt an der Wirklichkeit vorbei. Denn sie unterschlagen die einfache Tatsache, dass es den «Patienten Menschheit» als handlungsfähiges Subjekt nicht gibt, dass weder ein allmächtiger Kommandoposten noch eine Vielzahl zuständiger Instanzen vorhanden sind, welche die dringend notwendigen Veränderungen in die Tat umsetzen könnten. So verhallen auch die alarmierendsten Signale praktisch wirkungslos. Das gilt auch für jene drei Bestandesaufnahmen, die dank prominenter Autoren und wissenschaftlicher Untermauerung in jüngster Zeit weltweites Echo auslösten: «Die Grenzen des Wachstums» vom «Club of Rome», den «Brandt-Bericht» der «Nord-Süd-Kommission» und die von Präsident Carter in Auftrag gegebene Regierungsstudie «Global 2000».

    Es war eine Pionierleistung, als 1972 der «Club of Rome» seinen Appell zur Wachstumsbeschränkung veröffentlichte. Zum ersten Mal bestätigte eine grossangelegte wissenschaftliche Hochrechnung, dass unser industrielles Weltsystem – bei gleichbleibenden Entwicklungstendenzen – auf einen globalen Zusammenbruch hinsteuert.

    KEINE WENDE IN SICHT

    Seither sind beinahe zehn Jahre verstrichen. Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Ausser einer unfreiwilligen, durch Ölkrise und Rezession aufgezwungenen und allseits beklagten Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, die mit Arbeitslosigkeit und Inflation zusätzliche Probleme schafft, hat sich an den grundlegenden Trends des Raubbaus, der Übervölkerung und der Umweltzerstörung so gut wie nichts geändert.

    Von einem «wirtschaftlichen Gleichgewicht», wie es der «Club of Rome» forderte, sind wir weiter entfernt als je zuvor: Das Gefälle zwischen den reichen und den armen Ländern hat sich nicht verringert, sondern vergrössert. Das bestätigte vor knapp zwei Jahren die von Willy Brandt präsidierte «Nord-Süd-Kommission» und warnte ihrerseits, «dass die beiden vor uns liegenden Jahrzehnte für die Menschheit von schicksalhafter Bedeutung sein werden». Aber trotz aller Empörung über den Skandal des Hungers: Anzeichen für eine Wende im Nord-Süd-Konflikt sind nicht auszumachen.

    Schlagzeilen macht heute nicht etwa der mutige Entschluss einer Grossmachtregierung, die so dringend nötige Umkehr einzuleiten, sondern ein neuer Bericht über die düsteren Aussichten der nächsten Zukunft: Die Studie der US-Regierung «Global 2000». Sie ist die umfassendste Untersuchung über die «voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts». An Umfang übertrifft «Global 2000» seinen Vorgänger «Grenzen des Wachstums» um das Zehnfache, kommt aber zu Schlussfolgerungen von beängstigender Ähnlichkeit: «Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzen, wird die Welt im Jahre 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben.»

    DIE HERKÖMMLICHEN STRATEGIEN SIND WIRKUNGSLOS

    Wir befinden uns in einem Zustand des Wissens und der Ohnmacht: Wir wissen genau, was uns und unseren Kindern bevorsteht, wenn sich nicht Grundlegendes ändert. Gleichzeitig fühlen wir uns unfähig, das dringend Notwendige anzupacken. Was kann ich schon als Einzelner ausrichten? fragen sich viele. Die Überfütterung mit Katastrophenmeldungen macht mutlos und resigniert.

    Die herkömmlichen politischen Strategien haben versagt. Auch wer sich das nicht bewusst eingesteht, ahnt zumindest, dass Regierungen und internationale Organisationen nicht in der Lage sind, den verheerenden Lauf der «Sachzwänge» zu bremsen, geschweige denn eine neue Richtung einzuschlagen. Was auf globaler Ebene gilt, spiegelt sich ebenso in der Innenpolitik der meisten Länder: Die Durchsetzung kurzfristiger Interessen verbaut die Sicht aufs Ganze, lähmt jede aufkeimende Bewegung und zementiert den Status quo. Kein Wunder, kehren viele Bürger einer Politik den Rücken, die ihre brennendsten Fragen kaum mehr berührt.

    Gibt es denn Alternativen zur herkömmlichen Politik? Gibt es Auswege aus der Erstarrung in Sachzwängen und Sackgassen? Der kürzlich verstorbene Kulturphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm hat sich diese Fragen gestellt, und sein letztes Buch «Haben oder Sein» ist der Versuch einer Antwort. Er führt Politik auf ihren Ursprung zurück: auf den einzelnen Menschen, seine Werte und Beweggründe, sein Handeln und Verhalten. Fromm fordert nichts weniger als einen «fundamentalen Wandel der menschlichen Charakterstruktur». Er meint damit die Abkehr von der im Industriezeitalter vorherrschenden Habgier des «Habens» (Beherrschen, Konsumieren, Gewalt) und die Zuwendung zu einer Haltung des «Seins» (Erleben, Produktivität, Liebe).

    Ein in diesem Sinn gewandelter «neuer Mensch» ist für Fromm die Voraussetzung für eine «neue Gesellschaft», die allein fähig sein wird, ein befriedigendes und friedliches, globales Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. «Es ist meine Überzeugung» – schreibt Fromm -, «dass unsere Zukunft davon abhängt, ob das Bewusstsein der gegenwärtigen Krise die fähigsten Menschen motivieren wird, sich in den Dienst der neuen humanistischen Wissenschaft vom Menschen zu stellen. Denn» – so argumentiert Fromm weiter – «solange die Probleme der gesellschaftlichen Rekonstruktion nicht wenigstens zu einem grossen Teil den Platz einnehmen, der gegenwärtig bei unseren besten Köpfen von der leidenschaftlichen Beschäftigung mit Naturwissenschaft und Technik besetzt wird, werden Kraft und Vision mangeln, neue und reale Alternativen zu sehen.»

    ANSÄTZE EINES BEWUSSTSEINSWANDELS

    Fromms humanistische Vision ist heute, sechs Jahre nach Erscheinen seines Buches, keine blosse Utopie mehr. In vielen westlichen Gesellschaften zeichnen sich Ansätze eines tiefgreifenden Bewusstseinswandels ab. Dieser setzt allerdings nicht dort an, wo Fromm ihn herbeiwünschte: im Bereich der Wissenschaft. Ebenso wenig wird man im Scheinwerferlicht der politischen Aktualität auf seine Spuren treffen. «Wenn heute Rettendes wächst», erklärt der deutsche SPD-Politiker und Ex-Minister Erhard Eppler in seinem Buch «Wege aus der Gefahr», «dann nicht an der Spitze der Institutionen, sondern da, wo Menschen versuchen, menschlicher miteinander zu leben, an der sogenannten Basis.»

    Wenn Neues entsteht, kann es sich zunächst nur im Leben von Minderheiten manifestieren und oft an Orten, wo man es nicht vermutet. In einem Aufsatz über die «Frau in Europa» schrieb C. G. Jung den bemerkenswerten Satz: «Es sind immer nur die Wenigen, die den Geist einer Gegenwart deutlich ausdrücken.» Dies gilt erst recht für zukunftsgerichtete Ansätze.

    Erhard Eppler beteuert denn auch: «Nichts ist schwerer zu beschreiben als das Aufkommen eines neuen sittlichen Bewusstseins.» Die Minderheit, die an der Basis der Gesellschaft eine radikale Wertveränderung, eine «neue Ethik» (Eppler) signalisiert, ist keine homogene, definierbare Gruppe. Zu ihren Merkmalen gehört, dass sie kaum organisiert und nur wenig strukturiert ist. Sie ist weder von einer übergeordneten Ideologie herzuleiten noch in herkömmlichen gesellschaftlichen Kanälen zu orten.

    WANDLUNGEN IM VERBORGENEN

    Es handelt sich um einen ungesteuerten Bewusstseinswandel, den Tausende von Individuen und Gruppierungen mit unterschiedlicher Intensität vollziehen, und zwar unabhängig voneinander und oft ohne zu wissen, dass sie Teil einer umwälzenden, international verflochtenen, aber spontanen und autonomen Bewegung sind. Die amerikanische Journalistin Marilyn Ferguson hat seit Jahren ihr Augenmerk auf Phänomene und Prozesse gerichtet, die auf persönliche und gesellschaftliche Wandlungen hindeuten. In ihrem 1980 erschienenen und bereits in über zehn Sprachen übersetzten Buch «The Aquarian Conspiracy» (in diesen Tagen erscheint die deutsche Ausgabe unter dem Titel «Die sanfte Verschwörung») verfolgt Marilyn Ferguson, wie die «Bewegung, die keinen Namen hat», entstanden ist.

    Ausgehend von den sechziger Jahren, zeigt Marilyn Ferguson, dass die Impulse der damaligen grossen Protestbewegungen keineswegs im Sand verlaufen sind, wie das viele Beobachter glauben. Aber die Strömung der Erneuerung hat ihren Lauf geändert und ist unter die Oberfläche gesickert. Statt die «böse Gesellschaft» mit einem Feuerwerk von Theoriegeschossen zu bombardieren, haben Unzählige damit begonnen, die Veränderungen, die sie von aussen forderten, zunächst einmal bei sich selbst und in ihrem persönlichen Umfeld herbeizuführen – jedenfalls soweit es dafür Spielraum gab. Und viele fanden, dass der Spielraum grösser ist, als sie erwartet hatten. Aber sie machten auch die Erfahrung, dass es viel mehr Mühe kostet, im Alltag einer Partnerschaft befriedigendere und selbstbestimmte Lebensformen zu finden, als die Fremdbestimmung einer kapitalistischen Gesellschaft anzuklagen.

    «Als die Revolution sich nach innen richtete», bemerkt Marilyn Ferguson, «verschwand sie aus dem Blickfeld von Fernsehkameras und Zeitungsreportern. Sie war in mancher Hinsicht unsichtbar geworden.» Eine Studentendemonstration macht Schlagzeilen. Parolen und Resolutionen – sie mögen noch so leer sein – werden von den Medien als «Nachrichten» verbreitet. Die Lernvorgänge einer Selbsterfahrungsgruppe dagegen, die im Leben der Teilnehmenden vielleicht tiefe Veränderungen bewirken, haben keinen Nachrichtenwert. Da ist kein «Ereignis», über das zu berichten, kein «Ergebnis», über das ein Communiqué zu verbreiten wäre.

    INDIVIDUELLE LERNPROZESSE

    Das entscheidende Merkmal der «sanften Kulturrevolution», wie sie Marilyn Ferguson beschreibt, besteht darin, dass die Veränderungen beim Individuum, bei jedem einzelnen Menschen ansetzen. Ihr Ursprung ist Betroffenheit, die Bereitschaft, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Frage: Wer bin ich? steht am Anfang eines langen und meist schmerzvollen Lernprozesses. Kein Buch, keine Theorie und kein anderer Mensch kann mir darauf eine Antwort geben. Ich muss sie in mir selbst finden, aus mir heraus gebären.

    Wichtige Geburtshilfe leisten dabei die verschiedensten Formen psychischer und körperlicher Erfahrungs- und Ausdrucksmethoden. Im Schonraum einer Selbsterfahrungsgruppe beispielsweise können Ängste ausgesprochen und Masken abgelegt werden. Die Erfahrung, dass ich, so wie ich bin, von anderen akzeptiert und verstanden werde, wirkt befreiend und macht Mut, mich selbst und andere besser zu akzeptieren. Daraus wachsen soziale Kräfte: die Fähigkeit, sich zu öffnen, auf andere zuzugehen, besser zu kommunizieren, Gemeinschaft zu stiften und zu leben.

    Es ist hier nicht der Ort, das vielfältige und zum Teil auch fragwürdige Angebot der «Psychoszene» kritisch zu durchleuchten. Selbsterfahrungsgruppen, Gestalttherapie, Meditation, Psychodrama und eine Reihe weiterer seelischer und körperlicher Bewusstseinsaktivitäten haben – pauschal gesprochen – eines gemeinsam: Sie sind Experimentier- und Übungsfelder für die Auseinandersetzung mit sich selbst. Sie erbringen keine Lebenshilfe im Sinne karitativer oder sozialer Institutionen, sondern schaffen Raum zur Selbstbetätigung und bieten ein mehr oder weniger strukturiertes Umfeld, das zur Selbsthilfe anregt.

    PERSÖNLICHES ERLEBEN VERÄNDERT DIE

    SELBSTWAHRNEHMUNG

    Die sprunghafte Zunahme von «Psychotechniken» und anderen Aktivitäten der Selbstentfaltung – in einem weiteren Sinn gehört beispielsweise auch der Boom von Tanz- und Ballettkursen in diesen Zusammenhang – deutet auf ein wachsendes Bedürfnis vieler Menschen, Verschüttetes freizulegen und ungenutzte Kräfte zu betätigen. Auffällig ist, dass sich alle diese Aktivitäten nicht einseitig an den Intellekt richten. Im Gegenteil: Gefühle, innere Bilder, Körpersprache, also der ganze Reichtum persönlichen Erlebens und Vermittelns, wird als Prozess der Selbsterfahrung bewusst gemacht.

    Solches inneres Wachsen, das den ganzen Menschen erfasst, steht in krassem Gegensatz zu den Lernpraktiken der meisten gängigen Bildungsinstitutionen, wo es vor allen Dingen darauf ankommt, kopflastiges Wissen zu speichern. «Den grössten Teil dessen, was wir wissen, haben wir ausserhalb der Schule gelernt», sagte einmal Ivan Illich. Er meinte damit, dass wirkliches Wissen nicht über den Intellekt allein zu vermitteln ist. Es entsteht vielmehr aus der Erfahrung konkreter Lebenssituationen, durch die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt.

    Dafür Bewusstsein zu schaffen, bleibt nicht folgenlos. Denn wer gelernt hat, seinen Selbstwert und den Massstab seines Handelns in sich selbst zu finden, wird künftig die Welt mit anderen Augen betrachten. Fremde Autoritäten (Professorin, Arzt, Expertin) verlieren die ihnen verliehene Macht. Das Urteil der anderen (der Nachbarn, der Partnerin, der Vorgesetzten oder der Kolleginnen) wird relativiert und verliert seinen bestimmenden Einfluss.

    Menschen, die solche befreiende Bewusstseinsprozesse – nicht nur in ihrem Kopf, sondern mit allen Fasern ihrer Person – vollziehen, werden beginnen, ihren Alltag zu verändern. Sie werden ihre Prioritäten überdenken und sich vielleicht entschliessen, eine Karriere abzubrechen, die zwar viel Geld, aber wenig innere Zufriedenheit bringt. Oder sie werden sich von einem Partner trennen, mit dem sie zwar ein Gefühl der Sicherheit, aber keine menschliche Vertrautheit verbindet. Oder sie werden den Mut finden, gegen den Willen ihrer Ärztinnen eine Therapie abzubrechen, die ihr Leben zwar statistisch verlängern, aber drastisch beeinträchtigen würde.

    SOZIALE EXPERIMENTE UND NEUE LEBENSFORMEN

    Veränderungen des Lebensstils sind heute an vielen Orten der Gesellschaft im Gang. Es gibt kaum eine Familie, in der es nicht auf irgendeine Weise «gärt». Hohe Scheidungsquoten und der Rückgang von Eheschliessungen zeigen an, dass im Bereich des Zusammenlebens vieles in Bewegung geraten ist. Neue Lebensformen (Wohngemeinschaften, offene Ehe) werden ausprobiert. Das sind soziale Experimente von grösster Tragweite, denen sich Tausende von Menschen freiwillig unterziehen.

    Zu einem wichtigen Umbruch führt auch die Wandlung des Rollenverhaltens zwischen Mann und Frau. Die entscheidenden Anstösse dazu kamen aus der Frauenbewegung, die sich seit den sechziger Jahren zu einer der wichtigsten Antriebskräfte gesellschaftlicher Veränderung entwickelt hat. Gemeint ist Frauenbewegung im weitesten Sinn: von kleinsten Schritten im Privatleben oder im Beruf einzelner Frauen bis zu programmatischen Vorstössen auf politischer Ebene. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich zu den verschiedensten Aktivitäten der Selbstentfaltung meistens deutlich mehr Frauen einfinden als Männer.

    Aufschlussreiche Hinweise über Wertveränderungen und Lebensstil gibt eine amerikanische Untersuchung, wonach 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung in Europa und in den USA zu einer Avantgardegruppe mit folgenden Merkmalen gehören: Leben nach individuellen Wertmassstäben, innere Bedürfnisse sind wichtiger als traditionelle Verpflichtungen und Statussymbole, grosses Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen, Wunsch nach Selbstverwirklichung, hoher Grad an sozialer Verantwortung. Diese Bevölkerungsgruppe soll sich nach der Studie im Lauf der achtziger Jahre verdoppeln und beträchtlichen Einfluss auf wirtschaftliche und politische Institutionen gewinnen.

    WERTEVERÄNDERUNGEN ERREICHEN AUCH DIE

    INSTITUTIONEN

    Weil der Bewusstseinswandel – als Motor der Veränderung – vom Individuum ausgeht, ist es nur folgerichtig, dass sich die ersten Auswirkungen der «neuen Ethik» dort zeigen, wo der einzelne Mensch zu einem grossen Teil allein bestimmend ist: im privaten Alltag, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Einstellung zur Berufsarbeit (Wunsch nach Teilzeitarbeit, Jobsharing: Zwei Personen teilen einen Arbeitsplatz). Viel schwieriger ist es, Veränderungen dort herbeizuführen, wo starre, hierarchische Strukturen den Alltag bestimmen: in wirtschaftlichen Organisationen, staatlichen Verwaltungen, in der Bürokratie des Bildungssystems oder im Apparat einer Gewerkschaft.

    Nur: Auch Institutionen sind von Menschen gemacht und werden von Menschen geführt. Wenn sich in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung eine Wertveränderung vollzieht, wird diese auf die Dauer nicht vor den Toren der Institutionen stehen bleiben. Wenn beispielsweise Eltern lernen, mit ihren Kindern offener und menschlicher umzugehen, als dies ihre eigenen Eltern konnten, wird sich mit dem Nachrücken neuer Generationen auch in den Strukturen der Institutionen einiges ändern – auch wenn in Jahrhunderten gewachsene Traditionen sich nicht von einem Tag zum anderen abstreifen lassen.

    Heute schon wirken starke, neue Impulse von der Basis ins gesellschaftliche Leben hinein und ragen teilweise bereits weit ins politische Feld hinaus. Für die verschiedensten Minderheiten und Bevölkerungsgruppen, für unzählige soziale Probleme und politische Anliegen sind in den letzten zehn Jahren Tausende von Selbsthilfegruppen entstanden. Sie bilden vor allem in den Vereinigten Staaten, wo ihre Zahl auf eine halbe Million geschätzt wird, zusehends aber auch in europäischen Ländern ein Netz neuartiger sozialer Versorgung und politischer Aktivität.

    Eine der bekanntesten und ältesten Selbsthilfegruppen sind die Anonymen Alkoholiker. Heute gibt es – nach ähnlichem Muster – Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige, für Strafentlassene, für Kranke, für geschlagene Frauen, für Homosexuelle, für alte Menschen, für Paare und für alleinerziehende Eltern – um nur einige Stichworte zu geben.

    «Sie handeln in eigener Sache» – dies hält Michael Lukas Moeller, ein Kenner der Szene in der Bundesrepublik, für das entscheidende Merkmal von Selbsthilfegruppen. Das unterscheidet sie von herkömmlichen sozialen Institutionen (Jugendämtern, Beratungsstellen), die Hilfe für andere anbieten. In ähnlicher Weise heben sich Bürgerinitiativen von der gängigen Parteiendemokratie ab: Auch sie handeln aus Betroffenheit und in eigener Sache – ob zur Realisierung einer Wohnstrasse oder zur Verhinderung eines Kernkraftwerks.

    ANTIKÖRPER IM GESELLSCHAFTLICHEN ORGANISMUS

    «Die Existenz so vieler spontaner Gruppen und Grüppchen zeugt von der Vitalität, die unseren Gesellschaften, trotz der Krise, die sie durchlaufen, eigen ist.» Dies sagt nicht ein Apostel der Alternativszene, sondern der Präsident des «Club of Rome», Aurelio Peccei. In seinem neuen Buch «Die Zukunft in unserer Hand» setzt er grosse Hoffnungen auf die vielfältigen Bewegungen, die sich «aus einem Gefühl für die Verantwortung des Menschen» von der Basis her entwickeln. Er vergleicht sie mit «Anti-Körpern, die sich bilden, um in einem kranken Organismus wieder normale Bedingungen herzustellen».

    Aus einer anderen Perspektive kommt Erhard Eppler zu ähnlichem Schluss: «Ist nicht alles, was sich heute an der Basis regt, Teil eines und desselben Wert- und Bewusstseinswandels? Wie es unterirdische Wasseradern gibt, die Studentenbewegung und Ökologiebewegung verbinden, so gehören vielleicht auch Frauenbewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung, Bürgerrechtsbewegung enger zusammen, als viele sich bisher klargemacht haben.»

    Auf eine kurze Formel gebracht: All die Gruppen und Grüppchen, diese «Bewegung, die keinen Namen hat», sind nicht blosse Reparaturwerkstätten einer kranken Gesellschaft, sondern Laboratorien für die Zukunft. Ob allerdings die Verwandlungsprozesse, die sie auf sanfter Flamme vorbereiten, noch rechtzeitig zu wirken vermögen – diese Frage bleibt vorläufig offen.

    Carl Rogers: Ein Pionier der stillen Revolution

    Der amerikanische Psychologe Carl R. Rogers, der Anfang dieses Jahres (1982) 80 Jahre alt wurde, ist ein entschiedener Verfechter einer vom einzelnen Menschen ausgehenden «stillen Revolution». Weltweit gilt Rogers als der grosse alte Mann der Gruppentherapie und als einer der wichtigsten Begründer der Humanistischen Psychologie. Weniger bekannt ist die gesellschaftlich-politische Dimension seiner «personenbezogenen Psychologie», die sich nicht um allgemeine Strukturen, sondern um den konkreten Menschen kümmert.

    Vor Jahrzehnten machte Rogers eine Entdeckung, deren politische Tragweite ihm erst viel später bewusst wurde. Er bemerkte, dass er als Therapeut wesentlich erfolgreicher war, wenn er einem Patienten gegenüber nicht als Experte auftrat, sondern ihm als Mensch begegnete und ihn – ohne zu werten oder zu analysieren – auf seinem inneren Weg begleitete. Damit erschütterte er das etablierte Rollenverhältnis zwischen Therapeutin und Patient: Stattdessen entstand eine hilfreiche menschliche Beziehung zwischen gleichwertigen Partnern.

    Was Rogers aus der therapeutischen Situation gelernt hatte, wandte er später auf anderen Gebieten an. Als Lehrer und Administrator an der Universität verzichtete er auf die ihm durch seine Stellung verliehene Macht und entfachte dadurch aufregende, kreative Lernprozesse. Jede Teilnehmerin konnte sich als vollwertige Person mit allen Schwächen und Stärken einbringen, sich selbst mit der ganzen Vielfalt von Ideen, Gefühlen und Fähigkeiten entdecken.

    Offenheit, Echtheit, Einfühlungsvermögen und bedingungslose Zuwendung: Diese Qualitäten sind für Rogers die notwendigen Bedingungen für ein therapeutisches Klima, das Selbstheilungskräfte weckt und fördert. Darüber hinaus bilden diese Eigenschaften die optimalen Voraussetzungen für menschliches «Wachstum» schlechthin, das heisst für die Entfaltung der Person in verschiedensten Beziehungsformen: Lehrer/Schülerin, Partnerschaft, Eltern/Kinder, Arbeitsgruppen, Ärztin/Patient. In dieser Ausweitung erforscht und erprobt die «personenbezogene Psychologie» nichts anderes als die menschliche Grundlage der Demokratie: die ganzheitliche, aus Intellekt und Gefühl entwickelte Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung.

    Rogers ist kein Theoretiker. Seine Einsichten sind aus Erfahrung gewachsen, und nur behutsam und oft Jahre später hat er sie theoretisch ausformuliert. Sein Misstrauen gegen blosse Theorien und seine tiefe Abneigung gegen alles institutionell Erstarrte dürften Gründe dafür sein, dass er – in unserer kopflastigen Kultur – als Ethiker und Humanist (noch) nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient.

    Einen Bärendienst erwiesen ihm ausserdem seine deutschsprachigen Verleger, indem sie seine beiden jüngsten Bücher, die seine gesellschaftspolitischen Ideen enthalten, mit irreführenden Modetiteln versahen: «On Personal Power» (sinngemäss: Die Kraft oder Macht des Einzelnen) heisst bei uns «Die Kraft des Guten», und aus dem bescheidenen Titel «A Way of Being» (wörtlich: Ein Weg zu sein) wurde grossspurig «Der neue Mensch».

    Nachtrag 2020: Rogers starb im Jahre 1987 mit 85 Jahren.

    Benutzte Literatur

    Erhard Eppler, «Wege aus der Gefahr», Reinbek bei Hamburg, 1981.

    Erich Fromm, «Haben oder Sein», Stuttgart, 1976.

    Marilyn Ferguson, «Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns», Basel, 1982.

    Michael Lukas Moeller, «Selbsthilfegruppen», Reinbek, 1978.

    Michael Lukas Moeller, «Anders helfen», Stuttgart, 1981.

    Aurelio Peccei, «Die Zukunft in unserer Hand», Wien, 1981.

    Carl Rogers, «Die Kraft des Guten», München, 1977.

    Carl Rogers, «Der neue Mensch», Stuttgart, 1981.

    CAM_402, Brückenbauer (heute: Migros Magazin), Gegenwart

    (Anthroposophische Vierteljahres-Zeitschrift), 19.3.1982

    © Christoph A. Müller, Basel

    Ansätze eines radikalen Umdenkens

    Zu Marilyn Fergusons Buch «Die sanfte Verschwörung»

    Wer heutzutage ein Buch schreibt, das Mut macht und Optimismus verbreitet, läuft Gefahr, als ahnungslos oder verrückt zu gelten. Beides trifft auf die amerikanische Journalistin Marilyn Ferguson nicht zu, deren Buch «The Aquarian Conspiracy» (wörtlich: Die Wassermann-Verschwörung) nun unter dem Titel «Die sanfte Verschwörung» in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die Autorin ist keine Phantastin, weiss aber, Phantasie schöpferisch zu nutzen. Sie verfügt über ein erfinderisches Gespür für soziale Prozesse, die in die Zukunft weisen.

    Ihr Buch ist so etwas wie ein visionäres Dokument. Auf fünfhundert Seiten hat sie eine Fülle von Beobachtungen, Aussagen und Berichten zusammengetragen, die den Tatbestand der «sanften Verschwörung» aufspüren und erläutern: die stille und von vielen nicht beachtete Ausbreitung eines radikalen Umdenkens, einer grundlegenden Veränderung unserer Lebenswerte. Bei diesem Umschwung, schreibt Marilyn Ferguson, «handelt es sich weder um ein neues politisches noch um ein religiöses oder philosophisches System. Es handelt sich um einen neuen Geist – eine aufsehenerregende, neue Sicht der Welt nimmt ihren Anfang, die bahnbrechende Erkenntnisse der Wissenschaft und Einsichten ältesten menschlichen Gedankengutes umfasst.»

    EINE BEWEGUNG OHNE NAMEN

    «Verschwörung» ist nicht im Sinn des Komplotts gemeint. Marilyn Ferguson führt das Wort «conspiracy» auf seinen lateinischen Ursprung zurück: «conspirare» bedeutet «zusammen atmen», «zusammen wirken», «eines Geistes sein» (spiritus = Hauch, Leben, Geist), und erst in zweiter Linie «sich verschwören». Im deutschen «Verschwörung» klingen diese Sinngehalte nicht mit, was den Buchtitel missverständlich macht. Der Hinweis auf das Zeichen des Wassermanns (englisch: Aquarius) soll den Anbruch des neuen astrologischen Zeitalters signalisieren.

    Marilyn Ferguson beschreibt eine «Bewegung, die keinen Namen hat». Sie ist kaum organisiert, von niemandem gesteuert und von keiner einheitlichen Ideologie zusammengeschweisst. Tausende von Menschen verschiedenster Herkunft sind Glieder dieser Bewegung – aber oft ohne es zu wissen und ohne sich untereinander zu kennen. «Es gibt unzählige Verschwörer. Sie befinden sich in Firmen, Universitäten und Krankenhäusern, in Lehrerkollegien, in Fabriken und Arztpraxen, in Bundes- und Staatsämtern, in Stadträten und an Regierungssitzen – im Grunde genommen in allen Bereichen des Landes, wo Politik gemacht wird.»

    Was diese Menschen verbindet, sind zunächst Erfahrungen mit sich selber, innere Wandlungen und Entdeckungen, die ihr Selbstgefühl verändert und ihr Leben bereichert haben. Sie haben gelernt, sich selber mehr zuzutrauen und wurden dadurch fähig, auch andern mehr zu vertrauen. Indem sie anerzogene innere Zwänge abbauten, begannen sie, in ihrer Umgebung neue, bisher ungenutzte Freiräume zu ertasten. «Mit neuen Augen gesehen», schreibt Marilyn Ferguson, «kann unser Dasein vom Unglücksfall zum Abenteuer umgeformt werden. Wir können die alten Begrenzungen, die armseligen Erwartungen überschreiten. Es stehen uns neue Wege des Geborenwerdens offen...»

    PERSÖNLICHES ERLEBEN IM MITTELPUNKT

    Die Auseinandersetzung mit sich selber beginnt oft nicht im stillen Kämmerlein, sondern kann durch verschiedenste Formen psychischer und körperlicher Aktivitäten ausgelöst und gefördert werden. Marilyn Ferguson zählt Dutzende von Methoden auf, die sie insgesamt als «Psychotechnologien» bezeichnet und denen sie eine Schlüsselrolle für persönliche Veränderungen zuschreibt. Es handelt sich um die verschiedensten Formen der Psychotherapie, um Selbsterfahrungsgruppen, Meditationstechniken, Psychodrama, körperliche Ausdrucksformen wie Tanz, Tai-Chi oder Bioenergetik, aber ebenso um künstlerische Aktivitäten wie Malen, Singen usw. Bei all diesen Betätigungen werden neue Wahrnehmungsfähigkeiten erprobt und eingeübt. Nicht die Aneignung theoretischer Kenntnisse, sondern die Selbst-Erfahrung und das persönliche Erleben stehen im Vordergrund.

    Marilyn Ferguson hält die Beschäftigung mit sich selber nicht für eine Flucht in die Innerlichkeit und konstruiert deshalb auch keinen Gegensatz zwischen privatem Ego-Trip und politischem Engagement. Selbstbefreiung ist für sie vielmehr der erste Schritt zur gesellschaftlichen Veränderung: «Zu Beginn setzten sich gewiss die wenigsten eine Veränderung der Gesellschaft zum Ziel. In diesem Sinn handelt es sich um eine ungewöhnliche Verschwörung. Sie sahen nun aber, dass ihr eigenes Leben zur Revolution geworden war. Sie erkannten sich selber als diejenigen, die alles neu überdachten, alte Voraussetzungen untersuchten, ihre Arbeit und ihre Beziehungen, die Gesundheit, die politische Macht sowie die sogenannten ‹Experten›, Ziele und Werte neu überprüften.»

    Die stille Revolution wirkt von innen nach aussen. Sie setzt nicht an der Spitze der Institutionen an, sondern wächst aus der Betroffenheit einzelner Menschen. Marilyn Ferguson vergleicht diesen Prozess mit einer Kristallisation oder mit der Wirkung eines Ferments, das allmählich alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzt und verändert.

    NETZWERK ALS ORGANISATION

    Die Stärke des Buches ist der Nachweis einer Vielzahl von Tendenzen, die diese umwälzende Bewegung anzeigen. Denn obwohl ungesteuert und ohne vorgegebene Leitidee, verläuft die stille Revolution durchaus nicht chaotisch. Sie postuliert kaum Ideale – das unterscheidet sie von den meisten humanistischen und sozialen Bewegungen der Vergangenheit –, aber sie entdeckt

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