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Suche nach (verlorenem) Sinn
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eBook295 Seiten3 Stunden

Suche nach (verlorenem) Sinn

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Über dieses E-Book

In dem Buch, das aus dem Bedürfnis entstand, für die Kinder seine innere Haltung und Weltanschauung schriftlich festzuhalten, steckt sich der Autor ein überaus hohes Ziel. Er schreibt zu Beginn des Vorworts: "Ist es möglich einen tiefen Sinn «des Ganzen« und damit auch meiner Existenz als Mensch zu finden, ohne mich auf rational nicht beweisbare Glaubenssysteme und Theorien zu stützen? [ .. ] In diesem Buch beantworte ich diese Frage mit 'Ja' und beschreibe zwei mögliche Wege, den Sinn zu finden."
Ob das Buch diesem hoch gesteckten Ziel Genüge leistet, muss jeder und jede selber erfahren. Um so mehr als uns das Buch lehrt, dass die Antworten, welche wir auf den zwei beschriebenen Wegen erhalten können, persönlich erlebt werden müssen.
Nicht weniger hoch gesteckt ist der Anspruch des Autors auf den knappen Umfang des Haupttextes. Es soll ein Buch sein, das in nicht viel mehr als einer bis zwei Stunden gelesen werden kann. Zugleich sollten wichtige Feststellungen aber einer vertieften Überprüfung standhalten können.
Sie werden durch Zitate namhafter Philosophen oder durch Hinweise auf die Quellen in den Fußnoten belegt. Um das Buch dennoch kurz zu halten, wurden längere Zitate, welche einen Einblick in die Originaltexte großer Denker ermöglichen, in einen Anhang verlegt.
Inhaltsübersicht:
Im ersten Teil wird gezeigt, dass der Versuch, die Antwort auf die Frage des «Sinns des Ganzen« rational aus objektiv nachweisbaren Tatsachen abzuleiten, in einer Sackgasse - einer Sinnleere - endet. Dass im Gegenteil die Meinung, das logische Denken sei die höchste Instanz in der Suche nach Wahrheit, eine der wichtigen Ursachen des heute vielfach anzutreffenden Verlusts des Sinns ist.
Der zweite Teil beschreibt zwei mögliche Wege auf der Suche nach dem Sinn unserer Existenz: Meditation und Philosophie.
Die zwei ersten Anhänge, A und B, sind gemeint als Wegweiser für diejenigen, die einen der beiden Wege antreten wollen. Anhang C enthält längere Zitate und Exposés.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Feb. 2021
ISBN9783347080737
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    Buchvorschau

    Suche nach (verlorenem) Sinn - Samuel Vožeh

    Vorwort

    Ist es möglich, einen tiefen Sinn ‹des Ganzen› und damit auch meiner Existenz als Mensch zu finden, ohne mich auf rational nicht beweisbare Glaubenssysteme und Theorien zu stützen? Einen Halt zu finden, der bleibt, auch wenn alles andere, einschliesslich meiner selbst, versagt hat, ohne den Verstand, das logische Denken zu leugnen? In diesem Buch beantworte ich diese Frage mit Ja und beschreibe zwei mögliche Wege, den Sinn zu finden.

    Wer bin ich, dass ich mich an eine so schwierige, unter den Philosophen und Religionsgelehrten umstrittene Frage wage? Ich bin kein Philosoph und kein spiritueller Lehrer. Ein gewöhnlicher Mensch, könnte man sagen. Zwei Eigenschaften oder Antriebe fanden bei mir aber eine wahrscheinlich überdurchschnittlich starke Ausprägung:

    Als Wissenschaftler und Arzt bin ich ein ‹Verstandesmensch›, der sich vom logischen Denken leiten lässt. Es ist mir wichtig, zwischen Erfahrung und objektiven Tatsachen einerseits und Hypothesen und Dogmen andererseits zu unterscheiden. Die Befreiung von Mythen und Glaubenssystemen, die seit der Aufklärung unser Denken stark geprägt hat, betrachte ich als eine grosse Errungenschaft unserer Kultur. Sie zu leugnen, wäre für mich eine Abkehr von der Wahrheit.

    Der zweite Antrieb, der mich ab meinem 40. Lebensjahr begleitete, war die Suche nach dem Sinn des Lebens als eine für mich existenziell wichtige Frage. In meinen jungen Jahren hat sie mich wenig beschäftigt. Die Antwort ergab sich aus meinen Aufgaben. Meine Karriere als Forscher, meine Tätigkeit als Arzt und meine Familie spendeten mir den Sinn. Zwischen 40 und 50 habe ich begonnen, mich mit dieser Frage zu beschäftigen und philosophische Texte zu lesen. Ich wurde dabei in meiner Meinung bestätigt, dass die Naturwissenschaft – einschliesslich der Medizin, der Psychologie und der Kosmologie – nur auf einen kleinen Teil der Fragen über unsere Existenz als Menschen eine Antwort geben kann. Überrascht wurde ich hingegen durch die Tatsache, dass auch die meisten Philosophen keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen bereithalten.

    Der Zufall wollte es, dass ich in einem Fachbuch, das ich ganz unabhängig von meiner Suche las, einen Hinweis auf ein Buch fand, das mir einen Weg zeigte, der zu der Befriedigung des zweiten Antriebs geführt hat, ohne dass ich den ersten verleugnen musste.

    Warum wurde dieses Buch geschrieben?

    Den Sinn habe ich gefunden, weil andere Menschen berichtet haben, wie sie an den ‹Ort›, an dem die Antwort auf diese Frage zu finden ist, gelangen konnten. Heute empfinde ich es daher als meine Pflicht, die Erfahrungen auf meiner Suche und das, was mir dabei bewusst wurde, niederzuschreiben. Die Texte wurden ursprünglich für meine Kinder geschrieben. Sie sollten ihnen ermöglichen zu sehen, wie ich mich jetzt mit 74 Jahren in der Welt finde. Es ist ein Versuch, gegen Ende meines Lebens – solange und soweit meine Kräfte und Fähigkeiten reichen – festzuhalten, was für mich wichtig ist.

    Mein Ziel war, das Buch so kurz wie möglich zu halten. Zugleich sollten aber die Texte einer vertieften Überprüfung standhalten können. Als Wissenschaftler bin ich es gewohnt, wichtige Feststellungen, die nicht direkt nachvollziehbar sind, zu belegen. Entweder durch Zitate namhafter Philosophen oder durch Hinweise auf die Quellen in den Fussnoten. Längere Zitate wurden in einen Anhang verlegt (Anhang C). Sie ermöglichen einen Einblick in die Originaltexte grosser Denker. Dort finden sich auch Exposés über einige im Buch angesprochene Begriffe und Themen.

    Der Haupttext umfasst weniger als 40 Seiten. Es ist in diesem Sinn ein Buch, das in nicht viel mehr als einer oder zwei Stunden gelesen werden kann.

    Im ersten Teil wird gezeigt, dass der Versuch, die Antwort auf die Frage des ‹Sinns des Ganzen› rational aus objektiv nachweisbaren Tatsachen abzuleiten, in einer Sackgasse, einer Sinnleere endet. Dass im Gegenteil die in der westlichen Kultur nach der Aufklärung vorherrschende Meinung, das logische Denken sei die höchste Instanz in der Suche nach Wahrheit, eine der wichtigen Ursachen des heute vielfach anzutreffenden Verlusts des Sinns ist.

    Der zweite Teil beschreibt zwei mögliche Wege auf der Suche nach dem Sinn unserer Existenz: Meditation und Philosophie. Die Antwort, zu der sie führen, können wir nur erfahren, wenn wir den Weg gehen. Eine schwierige, aber an einzigartigen Erfahrungen reiche Reise antreten, auf der Menschen seit alters her die Antwort gefunden haben. Denn ein Vermitteln dieses ‹Wissens› durch Sprache, das heisst auf der Verstandesebene, ist nicht möglich. Es kann nur individuell direkt erfahren werden.

    Die zwei ersten Anhänge, A und B, sind gemeint als Wegweiser für diejenigen, die einen der beiden Wege antreten wollen. Beide Wege führen über die Grenze des durch den Verstand Begreifbaren hinaus. Unser Verstand wird dabei jedoch nicht geleugnet. Es werden seine Grenzen aufgezeigt, ohne jenseits dieser Grenzen ein ideologisches Gebäude zu errichten.

    Warum dieses Buch lesen?

    Es könnte ein Schritt sein in Richtung grösserer persönlicher Reife.

    Kinder und heranwachsende Menschen sind im Gegensatz zu den Erwachsenen von den Eltern, den schulischen Institutionen und anderen für ihre Fürsorge zuständigen Personen abhängig. Nicht nur auf der Ebene der materiellen Versorgung, sondern auch, was das Wissen anbetrifft. Wir bauen als Kinder und Jugendliche unser Wissen fast ausschliesslich auf Informationen auf, die wir glauben und als gegeben übernehmen. Wir nehmen in dieser Lebensphase das Wissen wie selbstverständlich sozusagen aus zweiter Hand auf. Meist ohne die Möglichkeit, es zu überprüfen. Auch auf der moralisch-ethischen Ebene übernehmen Kinder und Teenager – in einem Prozess, der vielen kaum bewusst wird – die Weltanschauung und die Werte der Kultur und der Zeit, in der sie gross werden.

    Erwachsen sein heisst auf der materiellen Ebene, über Fähigkeiten zu verfügen, um selbstständig – unabhängig vom Elternhaus – überleben zu können. Auf der Ebene des Wissens zeichnet sich die Unabhängigkeit – das Erwachsensein – dadurch aus, dass ich selbstständig überprüfen kann, ob eine Information richtig ist. Eine reife, erwachsene Person kann sich unabhängig ein eigenes Urteil bilden. Auch wenn sie nie in der Lage sein wird, alles selbst zu überprüfen, weiss sie, wo sie sich bei für sie wichtigen Fragen Rat holen und wie sie die Zuverlässigkeit der Quellen überprüfen kann.

    In Analogie zu diesen beiden Ebenen bedeutet für mich Erwachsensein – Reife – auf der existenziellen und moralischethischen Ebene, über die Fähigkeit zu verfügen, die für die Existenz des Menschen und das Menschsein wichtigen Werte selber zu erfahren und sich ihre Quellen bewusst zu machen.

    Eine Metapher von Buddha drückt es so aus: «Der Gesegnete lebte einst in Kosambi im Wald der Palisanderbäume. Er las einige Blätter mit seiner Hand auf und fragte: ‹Was meint ihr, Mönche, was ist mehr, die Blätter in meiner Hand, die ich aufgelesen habe, oder jene an den Bäumen im Wald?›

    ‹Die Blätter in deiner Hand, Meister, sind nur wenige; jene im Wald sind viel mehr.›

    ‹So ist es, Mönche. Die Dinge, die ich durch direkte Erkenntnis weiss, sind mehr; die, welche ich euch gesagt habe, sind nur wenige.›»¹

    Bildlich mithilfe dieses Gleichnisses ausgedrückt, heisst Erwachsensein, nicht nur die wenigen Blätter aus der Hand der anderen zu erhalten, sondern den Wald in sich selbst zum Wachsen zu bringen.

    Das ist eines der zentralen Anliegen der beiden in diesem Buch beschriebenen Wege Meditation und Philosophie. In diesem Sinn kann ihr Kennenlernen ein Schritt in Richtung grösserer persönlicher Reife sein.

    Samuel Vožeh

    ¹ Samyutta Nikaya 56: 31, p. 437-437. Zitiert aus: «The life of the Buddha». Hrsg. Bhikhu Nanamoli (Osbert Moore), Buddhist Publication Society, Sri Lanka, 1992, p. 206. (Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.)

    I. Die Suche nach Sinn

    Individueller Verlust des Sinns

    Gibt es einen Sinn des Lebens? Meines Lebens? Des Lebens anderer Menschen? Der Welt, in der ich lebe?

    Wieso stellen wir diese Fragen? Das Leben an sich, ohne Nachdenken über den Sinn, ist freude- und sinnerfüllt. Das zeigt uns ein aus dem späten Mittelalter überlieferter Reim:

    «Ich komme, ich weiss nicht, woher,

    Ich bin, ich weiss nicht, wer,

    Ich lebe, ich weiss nicht, wie lang,

    Ich sterbe, ich weiss nicht, wann,

    Ich geh, ich weiss nicht, wohin,

    Mich wundert’s, dass ich fröhlich bin.»

    Das zeigen uns auch kleine Kinder und Tiere. Werden sie nicht geplagt durch Krankheit, Hunger oder schlechte Behandlung, sind sie fröhlich. Sie werden gewiss auch traurig oder sie ärgern sich, wenn die Dinge nicht so sind, wie sie sie haben möchten. Die Grundstimmung aber ist fröhlich. Einem einjährigen Kind müssen wir ebenso wenig erklären, dass es Sinn macht zu krabbeln, wie dem Hund, dass es Sinn macht zu springen. Ist ein Kleinkind freudlos, ist dies ein Zeichen, dass es nicht gesund ist.

    Wenn wir älter werden, ändert sich bei den meisten Menschen diese Grundhaltung. Als ob die Quelle des fraglosen Lebensgefühls im Laufe des Erwachsenwerdens von einer dicken Schicht zugedeckt würde. Die Konditionierung durch die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, führt dazu, dass heute viele, wenn nicht die meisten Menschen den Sinn in den Dingen sehen, die sie haben oder haben möchten. Das als sinnvoll empfinden, womit ein materielles oder ideelles Ziel erreicht werden kann, seien es materielle Güter oder Anerkennung und Macht. Unsere Bildung in der europäischen und angloamerikanischen Kultur hat uns zudem gelehrt, den Verstand, das logische Denken, das nach einer rationalen Antwort sucht, als die höchste und zuverlässigste Instanz anzuerkennen.

    Wir sind zu diesem Verhalten durch die Bedingungen, in denen wir leben, auch förmlich gezwungen. Nur so können wir uns in der Welt zurechtfinden und nicht untergehen. Dabei scheint der Kontakt mit dem Leben an sich – mit dem, was wir ohne Bezug auf das, was wir erreicht haben oder erreichen möchten, sind – verloren zu gehen. Roger Hodgson (Supertramp) beklagt diesen Verlust sehr eindrucksvoll in seinem Lied «The Logical Song».²

    Wir kennen es alle. Das Arbeiten macht Sinn, weil wir Geld verdienen. Geld verdienen wir mit dem Ziel, für uns selbst und unsere Familie einen besseren sozialen Status und damit mehr Anerkennung zu sichern. Wir bilden unsere Kinder aus mit dem Ziel, dass sie ebenfalls einen guten Beruf und eine gute Stellung haben können. Der Sinn unseres Handelns ist gleichgesetzt mit dem Erreichen eines sinnvollen Ziels oder Zwecks.

    Meist bemerken wir nicht, wie eng unsere Freude und Zufriedenheit mit unseren Zielen verknüpft und wie stark abhängig sie von ihnen sind. Auch bei alltäglichen Tätigkeiten: Wenn ich mich am Morgen anziehe, mache ich es mit dem Ziel, zur Arbeit gehen zu können. Ich denke dabei schon an die Aufgaben im Büro, die ich erledigen muss. Gegen Tagesende freue ich mich bei der Arbeit auf das Abendessen, weil ich Hunger habe und müde bin; nach dem Abendessen wasche ich schnell das Geschirr ab (es muss ja gemacht werden), damit ich mich dann wieder in Ruhe an den Tisch setzen und etwas Wein trinken kann.

    Ein Ziel zu haben und zu erreichen, ist, wenn nicht das Einzige, doch das Häufigste, was uns das Leben sinnvoll erscheinen lässt. Da sein ohne Ziel, ohne Beschäftigung erzeugt in uns ein Gefühl der Leere, die wir schnell durch Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft oder durch eine Tätigkeit füllen.

    Denken wir über den von einem konkreten Ziel unabhängigen Sinn nach, finden wir ihn nicht. Im Gegenteil, der Verstand zeigt uns vielmehr, dass die aus den Zielen gebildete Sinnkette, die unserem Leben den Sinn und die Richtung gab, in einer Sackgasse endet. „Wozu das alles?", ist eine Frage, die sich viele Menschen gestellt haben, wenn sie alle gesteckten Ziele erreicht haben und Zeit zum Nachdenken hatten.

    Lew Nikolajewitsch Tolstoj schreibt nach dem grossen Erfolg mit «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina» im Alter von 54 Jahren:

    «Mitten in meinen Gedanken an die Wirtschaft, die mich um diese Zeit sehr beschäftigten, schoss mir plötzlich die Frage durch den Kopf: ‹Schön, du wirst sechstausend Morgen besitzen in der Provinz Samara und dreihundert Pferde, und was weiter? …› Und ich stand regungslos da und wusste nicht, was ich weiter denken sollte. […] Oder wenn ich an den Ruhm dachte, den mir meine Werke eintragen werden, sagte ich mir: ‹Nun gut, du wirst berühmter sein als Gogol, als Puschkin, als Shakespeare, als Molière, als alle Schriftsteller der Welt – nun, und dann? …› Und ich konnte nichts, gar nichts antworten. Die Fragen warten nicht, sie heischen auf der Stelle eine Antwort; hat man die Antwort nicht, so kann man nicht leben. Und eine Antwort gibt es nicht.»³

    Das Nachdenken, der Gebrauch des Verstandes, um diese Frage zu beantworten, führt dem Menschen paradoxerweise das Fehlen eines alles tragenden Sinns vor Augen. Es ist nicht der Verstand, mit dessen Hilfe das Kind und das Tier den Sinn schöpfen. Freude und Sinn sind für sie einfach da. Es ist, als wenn den Erwachsenen diese ‹Unschuld› abhandengekommen wäre. Zurück können sie allerdings nicht. Unseren Verstand können wir als Erwachsene nicht mehr ablegen. Es wäre auch nicht ehrlich und damit auch nicht wahr. Der Verstand, das rationale Denken, gehört zu uns als erwachsene Menschen.

    Darum können heute viele in der westlichen Kultur lebende Menschen den Sinn des Lebens nicht in einer Religion finden. Die meisten Religionen verlangen, dass dem rationalen Denken widersprechende Dogmen als objektiv geltende Tatsachen geglaubt werden. Seien es die Schöpfungsgeschichten oder der Himmel – Heimat göttlicher Wesen und erhoffter Ort der Fortdauer nach dem irdischen Leben.

    Für viele sind auch die zeitgenössischen spirituellen Lehren häufig mit allzu zahlreichen, dem Verstand widersprechenden Annahmen belastet. Spirituelle Wege, welche voraussetzen, dass ich mir eine bestimmte Ideologie aneigne, die den Kosmos erklärt, oder eine in Raum und Zeit existierende Kommunikation mit der Geisteswelt (mit Gott, Engeln, verstorbenen Meistern) annimmt, stellen uns vor ähnliche Probleme wie die dogmatischen Religionen. Auch sie verlangen, diese Annahmen als rational greifbare Fakten hinzunehmen, obwohl sie dem rationalen Denken widersprechen.

    Sind wir ehrlich und bleiben wir in unserem inneren Gespräch nicht oberflächlich, wird uns bewusst, dass wir auf dem Weg vom Kleinkind zum denkenden, rationalen Erwachsenen den Sinn verloren haben. Wenn wir diesen verlorenen Sinn aber suchen, findet unser Verstand nichts, an dem der Sinn des Ganzen festgemacht werden könnte. Dort, wo der Sinn sein sollte, findet er eine Leere.

    Kollektiver Verlust des Sinns

    «Valerie Eliot, T. S. Eliots Witwe, erzählte in einem Brief an die Londoner Times, dass ihr Mann T. S. Eliot eines Abends ein Taxi angehalten habe. Beim Einsteigen habe ihn der Fahrer direkt erkannt. Auf Nachfrage, woher er das gewusst habe, antwortete dieser dann: ‹Ach, Berühmtheiten erkenne ich sofort. Neulich Abend habe ich Bertrand Russell gefahren und fragte ihn: «Na, Lord Russell, was ist der Sinn des Lebens?» Und wissen Sie was, er konnte es mir nicht beantworten.›»⁴

    Finden wir den Sinn nicht, wenn wir über ihn selber nachdenken, wenden wir uns nach aussen: zu den Philosophen, den begabtesten Denkern. Bertrand Russell war einer der grössten unter ihnen. Karl Popper, selbst einer der einflussreichsten Philosophen des letzten Jahrhunderts, soll ihn als den grössten Philosophen seit Immanuel Kant gesehen haben.

    Dabei bemerken wir aber – wie der Taxifahrer –, dass sie uns nicht helfen können. Im Gegenteil: Ihr scharfes Denken ist mit die Ursache des Verlustes dieses verlorenen ‹Wissens› um den Sinn des Lebens. Die Sinnleere, die wir heute beim Nachdenken finden, ist das Resultat der auf der Ratio und der Logik basierenden Betrachtung.

    Die Antwort auf diese Sinnleere von allem, ‹was unter der Sonne geschieht›, war seit dem Altertum über viele Jahrhunderte die Annahme eines allmächtigen Schöpfers. Dieser Gott, der im europäischen Raum durch das Christentum als der allein gültigen Religion vereinnahmt wurde, war auch der Spender des Sinns. Um diese Überzeugung zu stützen und mithilfe des an Bedeutung zunehmenden logischen Denkens zu untermauern, wurden seit dem Beginn der Neuzeit verschiedene Gottesbeweise formuliert.

    Nach der Aufklärung, vor allem nach der grundsätzlichen Kritik von Immanuel Kant⁵, der gezeigt hat, dass ein Beweis der Existenz Gottes rational nicht möglich ist, sind diese logischen Gebäude eingestürzt. Dadurch wurden konkrete, auf der rationalen Ebene nachvollziehbare Vorstellungen über den Schöpfer und die Schöpfungsgeschichte erschüttert. Zu gleicher Zeit brachte die auf rationalem Denken gründende Wissenschaft ungeahnte Erfolge auf den Gebieten der Technologie und der Astronomie hervor. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sagte Edmond Halley die Wiederkehr eines Kometen voraus – die dann tatsächlich entsprechend den mathematischen Berechnungen fünfzig Jahre später beobachtet werden konnte.

    Demzufolge wird der Intellekt, das logische Denken, seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als die höchste Stufe des menschlichen Geistes und die allein massgebende Bewusstseinsebene für die menschliche Erkenntnis wahrgenommen. Das Resultat dieser Haltung ist der Tod Gottes: «Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!», schreibt Friedrich Nietzsche 1882.⁶

    Und mit dem Tod Gottes stirbt auch die Möglichkeit, mit dem Verstand einen tieferen Sinn des Ganzen auszumachen. Ein Text aus dem frühen Werk Nietzsches drückt es 1873 in einer genialen Knappheit so aus:

    «In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‹Weltgeschichte›: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.»

    Eine erschütternde Ironie der Existenz des Menschen, wenn sie rein rational betrachtet wird. Der Verstand bleibt hier stehen. Das rationale Denken kann uns keine Antwort geben, die aus diesem Nihilismus führen würde. Der kanadische Philosoph Jean Grondin, Professor an der Université de Montréal, spricht von einer «kosmischen Demütigung» des Menschen.⁷

    Auch andere Philosophen kommen zu dem Schluss, dass mit dem Verstand der Sinn nicht greifbar ist. Der Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell kann dem Taxifahrer keine Antwort geben. Sein Schüler, Ludwig Wittgenstein, schreibt in seinem berühmten Werk «Tractatus logico-philosophicus», welches einer der Grundsteine der analytischen Philosophie war: «Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.» (6.52)

    Ein anderer Nobelpreisträger, der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus, kommt in seinem Buch «Der Mythos des Sisyphos» zu dem Schluss, dass das menschliche Leben absurd ist. Es gibt uns auf die Frage, ob das Leben einen Sinn hat, keine Antwort. Für Camus ist die erste und wichtigste Frage, die wir uns als Menschen stellen müssen: «Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heisst auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später.»

    Zu der Konklusion, dass rational – mit unserem Verstand, dem logischen Denken – betrachtet, der Sinn des Lebens nicht zu finden ist, kommen auch zeitgenössische Philosophen:

    Ein Beispiel ist der Text von Thomas Nagel, Philosophieprofessor an den Universitäten in New York und Berkeley sowie an der Princeton University in New Jersey. Am Schluss seiner Betrachtungen über den Sinn des Lebens schreibt er:

    «Sobald wir uns die Frage vorlegen, ‹Doch wofür leben wir überhaupt?› – das bestimmte Leben eines Studenten, eines Kellners oder was auch immer –, antworten wir: ‹Um keines Zweckes willen; es wäre egal, wenn ich überhaupt nicht existieren oder wenn nichts mir etwas bedeuten würde. Aber ich existiere. Das ist alles.› […] Wenn wir auf der anderen Seite nicht anders können, als uns so wichtig zu nehmen, dann müssen wir uns womöglich am Ende damit abfinden, lächerlich zu sein. Das Leben ist dann vielleicht nicht allein sinnlos, sondern absurd.» ⁹

    Robert Nozick (1938–2002), der an der Harvard University lehrte, geht in seinen Betrachtungen zwar weiter als Thomas Nagel, bevor er ein abschliessendes Urteil fällt.¹⁰ Er sieht ein, dass diese Frage für den Menschen eine fundamentale Bedeutung hat. Er schreibt: «Die Frage, welchen Sinn unser Leben hat oder

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