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Brasilien: Land des Fußballs
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eBook502 Seiten5 Stunden

Brasilien: Land des Fußballs

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Über dieses E-Book

Brasilien ist das Land des Fußballs: Es hat bis heute die meisten WM-Titel geholt, die meisten internationalen Stars hervorgebracht, und wohl nirgends auf der Welt spielt Fußball eine solche Rolle wie hier. Martin Curi, der seit zehn Jahren in Brasilien lebt, bewies bereits mit dem Standardwerk 'Football in Brazil' seine große Kompetenz zum Thema. Sein neues, reportagehaft gestaltetes Buch gibt einen umfassenden und vielschichtigen Einblick in die Kultur, die Geschichte und die Gegenwart des Fußballs in Brasilien. Seine persönlichen Erlebnisse inmitten brasilianischer Fans sowie seine spannenden Analysen zeichnen das lebendige Bild einer komplexen Fußballwelt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Apr. 2013
ISBN9783730700211
Brasilien: Land des Fußballs

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    Buchvorschau

    Brasilien - Martin Curi

    an

    Im Land der „grimmigen Menschfresser"

    Die Sonne brennt auf das historische Zentrum von Rio de Janeiro. Heute steht in der Zeitung, nur in Nord-Ghana wäre es noch heißer. Eigentlich kein Tag, um Einkäufe und Bankgeschäfte zu erledigen, aber es muss sein. Ich hetze durch die engen, überfüllten Gassen der Fußgängerzone, immer auf der Suche nach etwas Schatten. Am Ende der malerischen Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster und den zweistöckigen Häusern im portugiesischen Kolonialstil, die einen angenehmen Kontrast zu dem modernen brasilianischen Streben nach immer höheren und moderneren Gebäuden darstellen, befindet sich meine Bankfiliale. Ich öffne die Tür und betrete den von einer Klimaanlage gekühlten Raum.

    Die Schlange am Kassenschalter ist, wie immer, viel zu lang. Während der Schweiß an mir herunterrinnt, kalkuliere ich mindestens eine halbe Stunde Wartezeit. Die Klimaanlage kämpft derweil gegen die Hitze. Wenige Augenblicke später stellt sich der nächste Kunde hinter mir an.

    „Ist das die Schlange für den Kassenschalter?"

    Ich bejahe.

    „Ah, Sie sind nicht von hier?"

    Selbst bei dieser so kurzen und simplen Antwort verriet mich, wie so oft, mein Akzent. Da man in Brasilien oft lange ansteht, haben die Einheimischen einen Grundvorrat an Themen, über die sie sich mit wildfremden Menschen in diesen Situationen unterhalten können. So geht die Wartezeit schneller vorbei.

    „Ich bin Deutscher."

    „Ah, ja. Meine Nichte hat kürzlich einen Deutschen geheiratet und lebt jetzt in Köln. Sie schwärmt mir immer vor, wie schön es dort sei. Da gibt es auch einen Fußballverein, nicht wahr? Was ist Ihr Verein?"

    „Bayern München."

    „Ja, ja, Bayer!"

    „Nein, Bayern. Bayer ist Aspirin, Bayern ist ein Bundesland mit der Hauptstadt München."

    „Aha. Ich habe mich schon immer gefragt, was der Unterschied ist. Spielen dort gerade Brasilianer?"

    „Ja, Lúcio und Zé Roberto."

    „Sehr gute Spieler. Die sind auch in der Seleção. Wie lange leben Sie schon hier?"

    „Schon lange: zehn Jahre."

    „Zehn Jahre! Dann sind Sie schon Brasilianer. Welchen Verein unterstützen Sie hier?"

    „Fluminense."

    „Uh, Fluminense! Da kommen Sie von so weit her, um für den falschen Verein zu sein!"

    Und schon ist man mitten in einem Gespräch über Vereinsvorlieben, Spieltaktik, Transfermarkt oder die Fußballgeschichte im Allgemeinen. Egal, ob auf der Arbeit, in der U-Bahn oder am Strand, Fußball ist in Brasilien das Gesprächsthema Nummer eins. Jeder hat seinen Lieblingsverein, und jeder hat seine Meinung. Man kann wunderschön ernsthaft darüber reden, gleichzeitig aber auch den Gesprächspartner aufziehen, indem man ihn an die letzte Niederlage erinnert. Fußball ist frei von ernsten Dimensionen wie Religion oder Politik und somit wie geschaffen, um die Wartezeit am Bankschalter zu überbrücken.

    Brasiliens wichtigste Sportart wird aber nicht nur in den Stadien gespielt, sondern wirkt in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident des Landes von 2003 bis 2010, ist ein Meister im Gebrauch der Sportmetaphern. Die unbequeme Frage eines Journalisten nach eventuellen Fehlern seiner Regierung wies er mit dem Satz zurück: „Wir werden nicht den Toren nachtrauern, die wir gestern vergeben haben, sondern uns auf die Tore konzentrieren, die wir morgen erzielen werden. Kurz vor Ende seiner Amtszeit kündigte er dann an, dass er weiterhin die Politik seines Landes zu beeinflussen gedenke: „Eines würde ich als Trainer niemals machen: ein Tor erzielen und mich dann in die Defensive zurückziehen, um auf die Angriffe des Gegners zu warten.

    Diese und andere Metaphern sind legendär. Sie zeigen, wie sehr der brasilianische Alltag „fußballisiert" ist. Auch wenn man sich nicht für Fußball interessiert, entkommen kann man ihm nicht. Der Fußball ist eine allgegenwärtige Kommunikationsplattform. Mit seiner Hilfe werden in einem Land von kontinentaler Größe gesellschaftliche Fragen und Probleme thematisiert und überall verstanden. Diese Kommunikation und ihre Inhalte sind der Gegenstand des vorliegenden Buches.

    Die immense Bedeutung des Fußballs für Brasilien dürfte kaum überraschen: Bekanntlich ist die brasilianische Nationalmannschaft, die Seleção („Auswahl"), mit fünf Titeln Rekordweltmeister. Pelé und Garrincha, zwei der größten Fußballgenies aller Zeiten, wurden hier geboren. Mit ihnen verbinden wir Spielwitz und individuelle Technik, die unser Brasilienbild prägen. Romantisierende Geschichten von kickenden Kindern am Strand, die mit Leichtigkeit die Ballführung erlernen, gehören zu diesen typischen Vorstellungen. Als ob man sich in dem tropischen Paradies nur mit Samba, Strand, Karneval und guter Laune beschäftigen müsse, um ohne Anstrengung ein millionenschwerer Fußballstar zu werden.

    Weltweit findet der Stil der Seleção Bewunderer und begeisterte Fans. Die Brasilianer wissen um die globale Bekanntheit und Beliebtheit ihres Nationalsports, deshalb nennen sie Brasilien gern „Das Land des Fußballs". Dass der Fußball eigentlich in England erfunden wurde, wird dabei schon mal verdrängt.

    Während Fußballfans auf der ganzen Welt verwundert registrierten, dass die FIFA Länder wie die USA, Korea oder Katar als Austragungsorte für Fußball-Weltmeisterschaften auswählt, freute sich jedermann über die Vergabe der WM 2014 nach Brasilien. Es scheint, als ob das Weltturnier in seine Heimat zurückkommt. Die Brasilianer sehnen sich danach, endlich wieder eine WM organisieren zu dürfen. Die letzte fand hier 1950 statt. In andere Länder zu reisen, um dort die eigene Nationalmannschaft zu unterstützen, ist für die meisten Brasilianer unerschwinglich. So hoffen die einheimischen Fans, 2014 endlich einmal ein WM-Spiel live im Stadion miterleben zu können. Die Austragung der WM wird von der Bevölkerung massiv unterstützt. Insofern überrascht es auch nicht, dass der ehemalige Präsident Lula eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Bewerbung des Landes spielte.

    Obwohl Brasilien weltweit als „Land des Fußballs gilt, weiß man in Europa nur wenig über den regionalen Fußball im Land, seine nationale Liga, die Vereine, deren Anhänger und lokale Geschichten. Einer der ersten deutschsprachigen Berichte aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Thema stammt aus dem Jahr 1956 und wurde von Anatol Rosenfeld im Jahrbuch des Hans-Staden-Instituts São Paulo veröffentlicht. Spätere Veröffentlichungen konzentrierten sich auf die Nationalmannschaft. So beispielsweise Karin Sturm und Carsten Bruder in ihrem Buch „Zwischen Strand und Stadion – Das Fußballwunder Brasilien oder Gerd Fischer und Jürgen Roth in „Ballhunger – Vom Mythos des brasilianischen Fußballs". Die Stärke des Werkes von Fischer und Roth ist die Dokumentation der Brasilianer, die schon in Deutschland gespielt haben.

    Die Konzentration auf die Nationalmannschaft endete mit Alex Bellos’ Werk „Futebol – Die brasilianische Art zu leben". Der Engländer berichtet in seiner auch ins Deutsche übersetzten Reportagesammlung direkt aus der lokalen Fußballszene in Brasilien. Dieses Werk, dessen Erstveröffentlichung aus dem Jahr 2002 datiert, war eine wichtige Inspiration für das vorliegende Buch. Seit der Recherche von Bellos ist jedoch viel Zeit vergangen, in der eine Menge passiert ist. 2002 dachte noch niemand daran, dass Brasilien jemals wieder Austragungsort einer Fußballweltmeisterschaft werden könnte. Der nationale Fußballverband CBF war tief zerstritten mit der Regierung Lula, und die Stadien befanden sich in beklagenswertem Zustand.

    Das hat sich geändert. Heute zählt Brasilien als Teil der BRICGruppe zu den aufstrebenden Wirtschaftsmächten, denen man ohne Weiteres die Durchführung von Sportgroßereignissen zutraut. Auf diese Veränderungen will das vorliegende Buch eingehen und dabei besonders auf Verbindungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und Brasilien eingehen.

    Anhand folgender Themen soll ein möglichst reales Bild des Fußballs, wie er in Brasilien gespielt, gesehen, und gelebt wird, dargestellt werden:

    Migration

    Brasilien ist ein Einwanderungsland und der Fußball ein Importprodukt. Die ersten brasilianischen Vereine waren eng mit ethnischen Kolonien verbunden. So ist der älteste Klub des Landes, der Rio Grande SC, deutschen Ursprungs. Die aktuellen Erstligavereine Palmeiras und Vasco da Gama haben italienische beziehungsweise portugiesische Wurzeln. Das Vereinsleben wurde zu einem Abbild des brasilianischen Melting-Pots, mit all seinen Konflikten und Lösungsversuchen. Ein besonderes Augenmerk soll in der Berichterstattung auf den südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul gelegt werden, wo in erster Linie deutsche und italienische Migranten siedelten. Eine Bahnlinie in das uruguayische Montevideo bedrohte dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einheit der Region, und die Gründung einer regionalen Fußballmeisterschaft wurde als geeignetes Mittel gesehen, um die lokale Identität zu stärken.

    Brasilianischer Stil und Identität

    Die Mischung der Ethnien ist heute ein wichtiger Bestandteil der brasilianischen Nationalidentität und findet auch im Fußball ihren Ausdruck. Historisch ist das allerdings noch komplexer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aufgrund einer fehlerhaften Auslegung der Fußballregeln der Körperkontakt in Brasilien komplett verboten. Das war der Ursprung des verspielten und leichten Spielstils in Brasilien. Heute bieten vor allem Weltmeisterschaften eine Gelegenheit, die Lage der (Fußball-)Nation öffentlich zu diskutieren. Während der WM 2010 wurde der damalige brasilianische Nationaltrainer Dunga einer europäischen Spielweise bezichtigt. Das führte zu einer erregten öffentlichen Debatte, bei der Dunga die Nerven verlor und sich öffentlich mit Journalisten anlegte. Den Spielern wird ebenfalls häufig vorgeworfen, sie würden sich nicht mehr brasilianisch fühlen und hätten sich an europäische Vereine und Firmen verkauft.

    Spielerausbildung und -handel

    Brasilien scheint ein unerschöpfliches Potenzial an jungen und talentierten Fußballspielern zu haben. Doch auch wenn das brasilianische Spiel oft durch Leichtigkeit gekennzeichnet ist, müssen die jungen Talente viele Qualen und Risiken auf sich nehmen. Ihr Traum ist eine Profikarriere in Europa. Dabei bleiben jedoch viel mehr Spieler auf der Strecke, als man oft annimmt. Überraschenderweise sind die großen Klubs in Brasilien schlecht auf den internationalen Spielerhandel eingestellt. In den letzten Jahren entstanden sogar diverse neue Vereine, die weder Titel gewinnen noch aufsteigen wollen, sondern sich durch den Spielerhandel finanzieren möchten und damit Erfolg haben. Häufig wechseln Spieler aus dem brasilianischen Hinterland zu unterklassigen Vereinen in Europa. So waren beispielsweise die inzwischen aufgelösten Prignitzer Kuckuck Kickers aus der Brandenburger Landesliga einer der größten Importeure brasilianischer Fußballer in Deutschland. Der Spielerhandel ist das entscheidende Thema zum Verständnis des brasilianischen Fußballs.

    Frauenfußball

    Während männliche Spieler von der großen Karriere träumen können, werden ihre weiblichen Kollegen von Verband, Presse und Öffentlichkeit vernachlässigt. Schon in jungen Jahren nehmen sie große Strapazen und soziale Vorurteile in Kauf. Unter äußerst prekären Bedingungen haben sich in den Vororten der großen Städte dennoch Frauenmannschaften gebildet, die aber noch immer um Anerkennung ringen. Der Fußballverband hat große Schwierigkeiten, einen nationalen Ligabetrieb auf die Beine zu stellen. Angesichts dessen muten die Erfolge der brasilianischen Frauen-Nationalmannschaft wie Wunder an.

    Indianerfußball

    Eine andere Gruppe der Ausgeschlossenen sind die Indianer. Sie führen eine Art Eigenleben in der brasilianischen Gesellschaft, denn sie werden in Reservaten abgegrenzt, in denen sie sogar eigene Gesetze haben. Auch sie spielen Fußball und sind dabei inzwischen gut organisiert. Es gibt nicht nur Indianermeisterschaften, sondern auch eine Indianerolympiade, die von der Regierung unterstützt wird. Trotzdem haben es Spieler aus diesen Ethnien schwer, in die Profimannschaften zu kommen.

    Fans

    Kaum etwas hat mich in Brasilien mehr beeindruckt als der Besuch eines Fußballstadions. Das Spiel wird dort zur Party. Doch auch in Brasilien gibt es Probleme durch rivalisierende Fangruppierungen und marode Stadien. Das Land musste schon viele Todesopfer bei Fußballspielen beklagen. Im Vorfeld der WM ergriff die Regierung Maßnahmen für einen sichereren Stadionbesuch. In deren Folge entstanden neue Fangruppierungen, die sich individualisieren und neue Ausdrucksformen finden; erstaunlicherweise mit argentinischem Einfluss.

    Politik

    Im Jahr 2010 fanden in Brasilien Wahlen statt, bei denen u. a. die ehemaligen Nationalspieler Romário und Roberto Dinamite ins Parlament gewählt wurden. Dies zeigt, dass der Fußball ein Sprungbrett für eine politische Karriere sein kann. Im Parlament spricht man von der „Ballfraktion". Zudem hat der nationale Fußballverband CBF einen beträchtlichen Einfluss auf politische Entscheidungen.

    Religion

    Jeder Fußballfan kennt die Bilder jubelnder brasilianischer Fußballstars, die sich ihr Trikot vom Leib reißen und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Jesus liebt dich" präsentieren. Die Verbindungen zwischen den großen Religionen und Fußball sind in Brasilien vielfältig. Weit weniger bekannt ist, dass es in dem tropischen Land eine Vielzahl anderer Religionen gibt, die alle auch im Fußball gelebt werden.

    Presse

    Fußball wäre nur halb so schön, wenn man nicht ausgiebig über ihn diskutieren könnte. Brasilianer verstehen sich perfekt in der Kunst des Fußballtratsches. An Sonntagen muss jeder Fernsehsender einen runden Tisch im Programm haben, an dem alte Männer stundenlang über Fußball reden. Doch auch qualitativ sehr bedeutende Schriftsteller sind am Thema interessiert und haben ein beachtenswertes Werk abgeliefert. Die brasilianische Sportpresse-Landschaft unterscheidet sich allerdings fundamental von der europäischen.

    Sportgroßereignisse

    Brasilien wird in den nächsten Jahren die beiden wichtigsten und größten Sportereignisse der Welt ausrichten: 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft und 2016 die Olympischen Sommerspiele. Schon seit Ende des 20. Jahrhunderts investiert das Land in diese Veranstaltungen. So war Rio de Janeiro 2007 Gastgeber der Panamerikanischen Spiele. Das letzte Sportgroßereignis Brasiliens fand zuvor im Jahr 1950 statt, als man für die Fußball-Weltmeisterschaft das Maracanã-Stadion baute. Fragen, die sich daraus ergeben, sind beispielsweise: Was führte zu diesen verstärkten Investitionen in Sportgroßereignisse? Was verspricht man sich davon? Wie wird sich das Gesicht der brasilianischen Städte dadurch verändern? Welchen Einfluss haben diese Events auf den Sport, die Politik und das nationale Selbstverständnis?

    In Bezug auf den Fußball, wie auch auf den Mythos Brasilien im Allgemeinen, beherrschen viele Vorurteile unsere Vorstellungen. Das liegt einerseits an den Brasilianern selbst, aber auch an den europäischen Beobachtern. Im Jahr 2000 feierte Brasilien seinen 500. Geburtstag. Dabei wurde seiner Entdeckung am 22. April 1500 durch die Flotte des portugiesischen Seefahrers Pedro Alvares Cabral gedacht. Freilich ließ man dabei aus den Augen, dass indianische Stämme schon seit mehreren Tausend Jahren hier siedelten. Mit der Ankunft der Europäer begann eine über 300 Jahre andauernde Kolonialzeit. Unzählige Migranten aus Europa kamen ins Land, und Millionen Afrikaner wurden hierher verschleppt, um als Sklaven auf den Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen zu schuften.

    Vor allem die exotisch anmutende Ethnienvielfalt weckte das Interesse europäischer, besonders deutscher Forscher, Reisender oder Abenteurer. Diese hinterließen zahlreiche Reisebeschreibungen, die fleißig an dem Mythos Brasilien strickten. Der erste war vermutlich der 1525 im hessischen Homberg geborene Hans Staden. Als Söldner reiste er mehrfach nach Brasilien, um dort portugiesische Siedler in ihrem Kampf gegen Indianer zu unterstützen. Was ihm dort geschah, darum ranken sich Legenden. Angeblich wurde er von kannibalischen Indianern gefangen genommen, entging aber dem Tod, als er dem Häuptling während einer Epidemie versprach, ihn mit überirdischem Beistand zu retten. Der Häuptling überlebte und so auch Hans Staden. Seine Erlebnisse wurden 1557 unter dem dramatischen Titel „Warhaftige Historia und Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen" veröffentlicht.

    Fast 300 Jahre später stattete der österreichische Außenminister Fürst von Metternich anlässlich der Vermählung von Maria Leopoldine, Tochter von Kaiser Franz I., mit dem portugiesischen Thronfolger und zukünftigen Kaiser von Brasilien, Dom Pedro I., eine groß angelegte Brasilienexpedition österreichischer und bayerischer Wissenschaftler aus. In dem 14-köpfigen Forscherstab befanden sich nicht nur Botaniker, Zoologen und Mineralogen, sondern auch Landschaftsmaler, die alles Interessante festhalten sollten. Gemeinsam machte sich die Gruppe 1817 auf den Weg. Allerdings zerstritten sich die Mitglieder rasch und trennten sich. Auf österreichischer Seite sammelte der Naturforscher Johann Baptist Natterer anschließend eine enorme Menge an Tierpräparaten und ethnografischen Artefakten, die bis heute in Wiener Museen bewundert werden können. Er bereiste fast jeden Winkel Brasiliens und kehrte erst 1835 in seine Heimat zurück.

    Auf bayerischer Seite taten sich besonders der Konservator Johann Baptist Ritter von Spix und der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius hervor. Die beiden bereisten Brasilien bis 1820 im Auftrag des bayerischen Königs Maximilian I. Ihre Forschungen gingen weit über den zoologisch-botanischen Auftrag hinaus. Auch sie brachten eine große Sammlung an ethnografischen Objekten der Indianer nach München, wo sie den Grundstock des dortigen Völkerkundemuseums bildeten. Gemeinsam verfassten sie zudem die Trilogie „Reise nach Brasilien", die zwischen 1823 und 1831 erschien.

    Gerade der Kontakt mit den indianischen Ureinwohnern Brasiliens faszinierte nicht nur die Forschungsreisenden, sondern auch die europäischen Leser ihrer Werke. Von Martius sagte selber, dass er in eine unbekannte Welt aufbrach und dachte, er würde eine unberührte Kultur finden, die noch nicht von modernen Einflüssen verschmutzt ist. Nach seiner Reise revidierte er dieses Bild vom „edlen Wilden" jedoch. Von Martius fand die Indianer nun eher abstoßend und bezeichnete sie als kulturloses Volk, das seine Geschichte vergeudet habe.

    Am 7. September 1822 beendete der portugiesische Thronfolger Pedro die Kolonialzeit in Brasilien, indem er sich vom Mutterland Portugal lossagte und den brasilianischen Kaiserthron als Pedro I. bestieg. 1838 gründete sein Nachfolger Pedro II. das brasilianische Institut für Geografie und Geschichte mit dem Ziel, die nationale Identität zu definieren und zu stärken. Es wurde ein Wettbewerb ausgelobt, den von Martius mit der Arbeit „Wie man die Geschichte Brasiliens schreiben sollte" gewann. In diesem Werk befasst er sich auch ausführlich mit den verschiedenen Ethnien in Brasilien: den Indianern, aber auch den Afrikanern und den Europäern. Seine rassistischen Schlussfolgerungen heben die Verdienste der europäischen Siedler hervor und beschuldigen die anderen Ethnien, ein Hindernis für den Fortschritt zu sein.

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten dann die Völkerkundler Brasilien für sich. Die berühmteste Reisedokumentation dieser Zeit „Durch Central-Brasilien: Expedition zur Erforschung des Schingú" (1886) stammt von dem deutschen Ethnologen Karl von den Steinen: Er klassifizierte die Indianerstämme und beschäftigte sich insbesondere mit ihren Sprachen. Dabei war von den Steinen viel weniger von Vorurteilen belastet als von Martius. Er betrachtete die Indianer weiterhin als Naturvölker, die sich in reiner und unbescholtener Weise von der Natur inspirieren lassen würden.

    Das Verbot der Sklaverei 1888 führte zu landesweiten Aufständen bei Großgrundbesitzern und beim Militär. Ein Jahr später, am 15. November 1889, wurde durch die Ausrufung der Republik die Kaiserzeit beendet. Unterbrochen nur durch die Diktatur von Getulio Vargas (von 1937 bis 1945) und die Militärdiktatur (von 1964 bis 1985), ist Brasilien seitdem eine Republik.

    Während der Regierungszeit von Präsident Getulio Vargas kamen zwei wichtige europäische Intellektuelle unter verschiedenen Umständen, aber mit ähnlichen historischen Vorzeichen nach Brasilien: der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig und der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss. Beide sollten typischen Missverständnissen aufsitzen, die zwischen Brasilianern und ihren europäischen Beobachtern häufig entstehen.

    Im Falle von Stefan Zweig sollten diese Missverständnisse tragische Konsequenzen haben. Zweig war vor den Nazis nach Brasilien geflohen, wo er als berühmter Autor begeistert empfangen wurde. Nach den Erfahrungen im rassistischen Deutschland war er beeindruckt von der scheinbar friedlichen Form, in der die verschiedenen Ethnien in Brasilien zusammenleben. Aufgrund seines Ruhmes hatte er Zugang zu Präsident Vargas und bat diesen, mehreren Deutschen und Österreichern jüdischer Abstammung Asyl zu gewähren. Vargas war jedoch in erster Linie Politiker und somit wenig an ethischen Fragen interessiert. Deshalb versprach er Zweig, seiner Bitte nachzukommen, wenn dieser ein Buch über Brasilien schreiben würde.

    Zweig ließ sich auf den Deal ein und veröffentlichte 1942 „Brasilien – ein Land der Zukunft", eine aus heutiger Sicht naive Beschreibung des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Rassen in Brasilien. Er dachte, damit würde er gut bei der brasilianischen Leserschaft ankommen, täuschte sich aber. Denn alles, was er positiv darstellte, hassten die alphabetisierten Brasilianer: Sie wären lieber ein weißes, europäisches Land gewesen.

    Vargas unterdessen war vor allem am Kriegsausgang interessiert, denn er wollte sich alle Kooperationsoptionen mit den möglichen Siegermächten offenhalten. Deswegen kam er den Bitten Zweigs nach Asylgewährung für einige Bekannte nicht nach. Und als Vargas dann 1944 an der Seite der Alliierten schließlich doch gegen Nazideutschland in den Krieg zog, war es für Zweigs Freunde zu spät. Ja, es war sogar für Zweig selber zu spät, denn nachdem er die Ausweglosigkeit seiner Lage und das politische Kalkül Vargas erkannt hatte, nahm er sich 1942 in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Er war einem folgenschweren Irrtum aufgesessen und hatte den versteckten brasilianischen Rassismus nicht rechtzeitig erkannt.

    Im Gegensatz dazu zeigte Lévi-Strauss wenig politisches Engagement und hatte auch nie Zugang zum Präsidenten. Aber auch er schildert 1955 in seinem Buch „Traurige Tropen" die Turbulenzen der 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts, die ein europäischer Jude umschiffen musste, um nach Brasilien zu kommen. Zudem gesteht er, zunächst eine sehr verklärte und romantische Vorstellung von Brasilien gehabt zu haben. So trat er eine Stelle als Lehrbeauftragter an der Universität São Paulo an, in dem Glauben, an den Wochenenden in die Vororte fahren zu können, um Indianerstämme zu erforschen. Das erwies sich als Irrtum, denn São Paulo war schon damals eine Metropole, und die nächsten Indianerdörfer befanden sich mehrere Tagesreisen entfernt.

    Lévi-Strauss konnte aber Mittel auftreiben, um eine monatelange Forschungsreise ins Innere Brasiliens zu organisieren. Das Ergebnis wurde unter dem bereits genannten Titel „Traurige Tropen" in französischer Sprache veröffentlicht und gilt heute als Klassiker der anthropologischen Literatur. Detailliert stellt er vier verschiedene Indianervölker vor und beschreibt, wie unterschiedlich deren Kulturen sind. Schon der Titel des Buches signalisiert, dass der Autor vom Untergang dieser Kulturen überzeugt ist und ihnen nachtrauert.

    Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Traurige Tropen" hatte sich die öffentliche Wahrnehmung in Brasilien geändert. Man war inzwischen stolz auf seine sogenannte Rassendemokratie, in der angeblich alle Bürger unabhängig von der Hautfarbe den gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen und Kultur haben. Trotzdem erfuhr Lévi-Strauss’ Buch zunächst wenig Aufmerksamkeit unter urbanen Gruppen, die Brasilien als modernes und zukunftsorientiertes Land definierten. Für sie waren im Urwald lebende Indianer weiterhin ein Symbol der rückständigen Teile des Landes.

    Heute gehört Brasilien zu den wichtigsten Wirtschaftsnationen der Welt. Gemeinsam mit Russland, Indien und China bildet man die BRIC-Gruppe der neuen ökonomischen Mächte. Die heimische Wirtschaft exportiert in erster Linie Metallwaren, Erdölprodukte und Agrarerzeugnisse wie Soja und Fleisch. Brasilien hat ein ausgeprägtes und starkes kulturelles Leben mit international bekannten Schriftstellern (Machado de Assis, Paulo Coelho), Musikern (Caetano Veloso, Ivete Sangalo), bildenden Künstlern (Hélio Oiticica, Vik Muniz), Architekten (Oscar Niemeyer) und Kinoregisseuren (Fernando Meirelles – City of God, José Padilha – Tropa de Elite). Zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Landes zählen neben den schon genannten Pelé und Lula auch Sozialwissenschaftler wie Paulo Freire, Gilberto Freyre und Roberto DaMatta.

    Mit seinen 8.500.000 km² ist Brasilien etwa 24-mal so groß wie Deutschland. Es gibt immense regionale Unterschiede in Fauna und Flora, Küche, Aussprache des Portugiesischen und Kultur. Im Allgemeinen wird Brasilien in fünf Makroregionen geteilt.

    Die Nordregion umfasst die sieben Bundesländer des Amazonas-Regenwaldes. Es handelt sich um den Bereich mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte; die Fortbewegung kann oft nur auf dem Wasser- oder Luftweg bewältigt werden. Ein Großteil der hier lebenden Menschen hat eine indianische Physiognomie. Typisch für die regionale Küche sind tropische Früchte mit wohlklingenden indianischen Namen wie Açai und Cupuaçu, Süßwasserfische aus dem Amazonas und die gelbliche, saure Manioksauce Tucupi. Die Region ist bei der WM 2014 durch Manaus, die Hauptstadt des Bundeslandes Amazonas, vertreten.

    Der Mittelwesten wird bei der WM durch die Bundeshauptstadt Brasilia und seine futuristische Architektur repräsentiert. Die Landeshauptstadt wurde in den 1950er Jahren von Rio de Janeiro nach Brasilia verlegt, um der dortigen Infrastruktur auf die Beine zu helfen. Die drei Bundesländer des Mittelwestens haben große Bedeutung durch ihre riesigen Weidelandschaften und Sojaplantagen, die in der lokalen Steppe ideale Bedingungen finden. Cuiabá wurde nach Brasilia als zweiter WM-Standort der Region ausgewählt, um das dortige Feuchtgebiet Pantanal und seine Artenvielfalt touristisch zu erschließen. Die kulinarischen Spezialitäten konzentrieren sich auf Süßwasserfische, Wild und Backwaren.

    Der Nordosten ist eine der bevölkerungsreichsten Regionen, die schon vor Längerem vom Tourismus entdeckt wurde. Namentlich die WM-Städte Salvador, Recife, Natal und Fortaleza sind für ihre Strände berühmt. Die Steppen des Hinterlandes indes werden regelmäßig von Dürreperioden geplagt. Regionale Spezialitäten sind getrocknetes Fleisch mit Maniok und Kürbis. Im Gegensatz dazu findet man in den Küstenstädten die besten Seefrucht- und Meeresfischgerichte des Landes. Salvador in Bahia ist bekannt für seine großen afrikanischen Einflüsse in der Küche, in der Musik und beim Tanz.

    Am berühmtesten dürften die drei südöstlichen WM-Städte Rio de Janeiro, São Paulo und Belo Horizonte sein. Es handelt sich um die wirtschaftlichen Zentren des Landes. Während die ehemalige Hauptstadt Rio de Janeiro mit ihren Stränden und dem Regenwald ein Touristenparadies ist, überrascht die industrielle Megametropole São Paulo als Betonwüste mit intensivem kulturellen Leben. Hier kamen Anfang des 20. Jahrhunderts Millionen Migranten aus Europa, Japan und arabischen Ländern an. Die verschiedenen Gruppen übten allesamt Einfluss auf die regionale Küche aus, wobei Steak mit Reis und Bohnen am beliebtesten ist. Belo Horizonte ist berühmt für seine deftigen Eintöpfe.

    Schließlich wurden mit Porto Alegre und Curitiba zwei Städte aus dem gut erschlossenen Süden als WM-Spielstätten ausgewählt. Nachfahren von Migranten aus Italien und dem deutschsprachigen Raum prägen hier das Straßenbild. Das Klima ist vergleichbar mit dem Italiens, und während der WM, die im brasilianischen Winter stattfindet, kann es durchaus kalt werden. Die kulturellen Einflüsse des Nachbarn Argentinien sind unübersehbar, und so nennen sich die Einwohner des südlichsten Bundeslandes Rio Grande do Sul auch „Gaúchos", trinken Mate und sind berühmt für ihre Grillspezialitäten. Namentlich der deutsche Einfluss treibt im Süden Brasiliens manchmal interessante Blüten, die von Europa aus gesehen kurios anmuten.

    Da es unmöglich ist, Brasilien in all seinen Einzelheiten vorzustellen, müssen zwangsläufig Schwerpunkte gesetzt werden. Ich möchte daher einige geschichtliche Entwicklungen des Landes nachzeichnen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Verbindungen zu Deutschland legen. Unter diesem Aspekt ist vor allem das Bundesland Rio Grande do Sul an der Grenze zu Uruguay und Argentinien interessant. Begeben wir uns also auf eine kleine Zeitreise zu den Anfängen der europäischen Besiedlung dieser Region.

    Ein deutscher Fußballmissionar

    BRASILIENS FUSSBALLWURZELN LIEGEN IN RIO GRANDE UND HABEN DEUTSCHEN URSPRUNG.

    Seit Stunden schon ziehen weite, flache Weidefelder am Busfenster vorbei. Kühe und Pferde muten wie gesprenkelte Farbkleckse auf dem auslaufenden Gelbgrün der südbrasilianischen Pampa an. Nur hin und wieder wird dieses Bild von vereinzelten Bauminseln unterbrochen. Nicht tropischer Regenwald, sondern europäisch erscheinende Nadelbäume prägen das Landschaftsbild. Zwischen ihnen stehen einige Mandarinenbäume, die jetzt im Juli volle Frucht tragen und so mit lustigen orangenen Punkten Farbakzente setzen. Die Natur erinnert eher an Norditalien oder die ungarische Puszta.

    Auf Spurensuche in Rio Grande do Sul

    Ich habe mich auf eine fast archäologische Suche begeben. Ich will die Anfänge des brasilianischen Fußballs ausgraben. Wie allgemein bekannt ist, wurde dieser heute so urbrasilianisch anmutende Sport von den Engländern erfunden. Doch wann hat man in Brasilien zum ersten Mal gegen den Ball getreten? Um diese Frage zu klären, muss ich mich in den äußersten Süden des Landes begeben. Ganz in der Nähe Uruguays im Bundesstaat Rio Grande do Sul liegt die kleine Hafenstadt Rio Grande mit knapp 200.000 Einwohnern. Von der Landeshauptstadt Porto Alegre sind es fast fünf Stunden Busfahrt. Rio Grandes Sport Club, ein von Deutschen gegründeter Fußballverein, gilt als der älteste aktive seiner Art in Brasilien. Was hat ausgerechnet Deutsche gegen Ende des 19. Jahrhundert in dieses abgelegene Städtchen getrieben? Und wie war es möglich, dass sie einen Fußballklub gründeten? Bisher hatte ich immer gedacht, Engländer seien die Fußballmissionare gewesen.

    Die Bewohner des brasilianischen Südens haben den Ruf, etwas eigen zu sein. Sie werden, wie ihre Nachbarn in Argentinien, Gaúchos genannt, und auch ihre Bräuche sind sehr ähnlich. Auf der Straße sieht man Männer mit Ponchos, Lederhüten und kniehohen Reiterstiefeln. Es ist normal, dass jemand sein Matetrinkgefäß, mit Trinkrohr und Thermoskanne, unter den Arm klemmt und mit sich führt. Selbst der hier gesprochene Dialekt erinnert stark ans Spanische.

    Der Bus nähert sich Rio Grande und der Mündung des Flusses, welcher der Stadt ihren Namen gab. Die Landschaft ändert sich nun ein wenig. Man sieht schon die ersten Seen und Flussarme, die alles in ein riesiges Sumpfgebiet verwandeln. Zwischen den Schilfblättern und den Seerosen blitzt immer wieder die sich im Wasser spiegelnde, tiefstehende Wintersonne. Draußen ist es schneidend kalt, ganz unbrasilianisch. Vereinzelt sieht man auf den Inseln Schweine oder Schafe, die in voller Wolle stehen. In wenigen Wochen werden sie geschoren. Das Bild wird jedoch bestimmt von unzähligen Vögeln, die von dem Nahrungsreichtum des Feuchtgebietes angezogen werden. Ich sehe Störche, Reiher, Schnepfen und viele kleine Schwärme von Vögeln, die Pirouetten drehen. An fast jedem Strommast kleben die aus Lehm gebauten, charakteristischen Nester des João-de-barro, des Rosttöpfers bzw. Lehmhans.

    Eine mächtige geschwungene Brücke führt über die Sümpfe auf die Halbinsel von Rio Grande. Kurz nach den ersten Häusern erblickt man auf der rechten Seite das grün-gelb-rot gestrichene Stadion des Sport Clubs. Von Weitem leuchtet die riesige stolze Inschrift der Tribünenrückseite: „Erster Fußballverein Brasiliens!" Ich bin am Geburtsort des brasilianischen Fußballs.

    Der Bus setzt seine Fahrt fort durch die enge Hauptstraße. Vorbei an bunten kleinen Reihenhäusern aus dem 19. Jahrhundert, wie sie auch in Uruguay gang und gäbe sind, geht es zum Busbahnhof. Das historische Zentrum mit seinen beeindruckenden Gebäuden erzählt von vergangenen Tagen, in denen der Hafen von Rio Grande einer der wichtigsten Brasiliens war. Die Stadt hatte eine Zollstation, eine Bücherei und ein Theater. Unternehmer, die mit ihren Im- und Exportaktivitäten zu Geld gekommen waren, bauten sich kleine Paläste. Heute wirkt alles etwas heruntergekommen und verlassen. Es gibt kein Gebäude, von dem nicht der Putz bröckelt.

    Hotel Paris in Rio Grande: Hier übernachtete schon Kaiser Pedro II.

    Das Hotel Paris, in dem ich residiere, fügt sich nahtlos ein. Man sagt, dass hier schon Pedro II., der Kaiser Brasiliens, übernachtet habe. Ich betrete das zweistöckige Gebäude im portugiesischen Kolonialstil durch mächtige Holztüren. Die Lobby des Hotels, in deren Mitte ein funkelnder, schwerer Kristallleuchter hängt, ist eine weiträumige Eingangshalle mit schweren, barocken Möbeln. Links und rechts führen verschnörkelte Holztreppen hinauf zu den Zimmern. Am Ende der Lobby öffnet sich eine weitere Holztür zu einem Innenhof mit Pflanzentöpfen und Mosaikboden.

    In meinem Zimmer stelle ich fest, dass das Hotel offenbar in der Kaiserzeit stehen geblieben ist. Es gibt weder Heizung noch warmes Wasser, und die Zimmerwände sind fast fünf Meter hoch. Kommende Nacht soll die Temperatur auf zwei Grad fallen, da könnte ich eine Modernisierung mit Einbau einer Heizung also durchaus vermissen. Aber irgendwie passt alles zusammen: die prunkvolle Schale, der bröckelnde Putz und das durchgelegene Bett. Genauso wie Rio Grande.

    Deutsche Einwanderer in Rio Grande

    1739 begannen die Portugiesen, ihre kolonialen Ansprüche in Stein zu meißeln, und gründeten eine Stadt, indem sie eine Verteidigungsanlage auf der Halbinsel bauten, um die Angriffe der Spanier abzuwehren. Der Ort war strategisch wichtig, da er geschützt in einer Flussmündung lag, die sich zu einer riesigen Lagune öffnete (die heute bis nach Porto Alegre reicht), und zudem den Bau eines Hafens mit direktem Zugang zum Meer ermöglichte. Rio Grande wurde später auch die erste Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul.

    Die Wirtschaft des Staates konzentrierte sich von Anfang an auf die Landwirtschaft, wobei der bergige Norden vom Ackerbau und der flache Süden von der Viehhaltung lebte. Rio Grande wurde schnell zu einem wichtigen Zentrum für die Versorgung Brasiliens mit Fleisch und Fellen. Während die großen Rinderherden auf den Fazendas in der brasilianischen Pampa den Reichtum brachten, musste das nördlichere Gebirge allerdings erst noch erschlossen werden. Dazu warb die portugiesische Regierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Einwohner der Azoren an, die diese Arbeit übernahmen.

    Nach der Unabhängigkeit Brasiliens im Jahr 1822 trieb Kaiser Pedro I. in mehreren südlichen Bundesstaaten die Besiedlung und die landwirtschaftliche Nutzung voran, um die nationale Einheit zu stärken. Ab 1824 wurden in Deutschland und später auch

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