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Der schwarze Sohn Gottes: 16 Fußballgeschichten aus Brasilien
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Der schwarze Sohn Gottes: 16 Fußballgeschichten aus Brasilien
eBook220 Seiten3 Stunden

Der schwarze Sohn Gottes: 16 Fußballgeschichten aus Brasilien

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Über dieses E-Book

16 Autorinnen und Autoren erzählen in dieser einzigartigen Anthologie Geschichten um und über den Fußball in Brasilien. Über die Träume, Hoffnungen und Wünsche, die sich mit ihm verbinden. Über die zauberhafte Magie des Balls, die ihm große brasilianische Spielerpersönlichkeiten wie Arthur Friedenreich, Garrincha, Pelé, Zico, Sócrates oder Ronaldinho zu entlocken vermochten. Über die Unvorhersehbarkeiten eines Spielverlaufs, der Härten, Ungerechtigkeiten und Überraschungen birgt, die nur von den alltäglichen Strapazen des Alltags übertroffen werden. Über sagenhafte Aufstiege und bittere Enttäuschungen, über Mythen, die das Phänomen Fußball wie kaum ein anderes hervorbringt.
Mit Beiträgen von: Mário Araújo, Fernando Bonassi, Ronaldo Correia de Brito, Eliane Brum, Flávio Carneiro, André de Leones, Tatiana Salem Levy, Adriana Lisboa, Ana Paula Maia, Tércia Montenegro, Marcelo Moutinho, Rogério Pereira, Luiz Ruffato, Carola Saavedra, André SantAnna, Cristovão Tezza.
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Kirsten Brandt, Anne Essel, Marianne Gareis, Markus Hediger, Maria Hummitzsch, Wanda Jakob und Michael Kegler.
SpracheDeutsch
HerausgeberAssoziation A
Erscheinungsdatum22. Mai 2014
ISBN9783862416066
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    Buchvorschau

    Der schwarze Sohn Gottes - Assoziation A

    Autoren

    Fußball und Literatur

    Luiz Ruffato

    Als gesichert gilt, dass der Fußball 1894 im Gepäck des englischstämmigen Charles Miller nach Brasilien kam, der von einem Studienaufenthalt in Großbritannien zwei Bälle mitbrachte, um hier seinen Sport ausüben zu können. Das erste Spiel dürfte dann im Herbst 1895 zwischen den Angestellten der Gaswerke und der São Paulo Railway ausgetragen worden sein. Letztere gewannen die Partie mit 4:2. Von da an verbreitete sich der Sport in Brasilien, das den beneidenswerten Titel des fünfmaligen Weltmeisters (1954, 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002) hält, einer der wenigen und unangreifbaren Gründe für brasilianischen Nationalstolz. Es ist so gut wie unmöglich in Brasilien zu leben, ohne sich von den nicht endenden Diskussionen zu diesem Thema anstecken zu lassen, das heute Männer und Frauen gleichermaßen interessiert.

    Brasiliens Literaten jedoch hielten von jeher einen gewissen Abstand zu dem Thema, lehnten es ab, als Hauptmotiv sowieso, ja selbst als Nebenschauplatz. Tatsache ist, dass die Protagonisten unserer erzählenden Prosa sich üblicherweise in Gesellschaftsschichten bewegen, die Fußball nicht als kollektive Manifestation wahrnehmen, entweder weil ihm der Makel eines Werkzeugs der Entfremdung anhaftet oder weil er einem Universum zugerechnet wird, das in unserer Belletristik kaum vorkommt, dem »Volk«, das fast immer »marginal« ist und nie der »Arbeiter«.

    Interessanterweise weckt Fußball dagegen schon seit seinen Anfängen das Interesse der Intellektuellen. Bereits im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eroberte der Fußball, noch mit der Aura eines Sports der weißen, aristokratischen Elite behaftet, die mondänen Kolumnen der Zeitungen und hatte glühende Anhänger wie João do Rio (1881–1921), den der Glamour auf der Zuschauertribüne faszinierte, jenes »vortreffliche Arrangement lebendiger Schönheit«¹, oder Coelho Neto (1864–1934)², ein fanatischer Anhänger des Fluminense Futebol Clube³, doch auch erbitterte Gegner wie Lima Barreto (1881–1922).

    Der Autor von Das Traurige Ende des Policarpo Quaresma⁴, Maximalist und Pazifist, sah im Fußball von seiner politischen Warte aus eine »Schule der Gewalt und der Brutalität«⁵ die »auf jede Weise und mit allen Mitteln« zu bekämpfen sei: »Ich kann weder zulassen noch mir vorstellen, dass die Bestimmung der Zivilisation Krieg heißt. Wenn dem so wäre, hätte sie keine Bedeutung. Die Bestimmung der Zivilisation ist der Friede, die Eintracht, die Harmonie zwischen den Menschen. Dafür haben die großen Herzen der Weisen, der Heiligen und der Künstler sich eingesetzt.«⁶

    Anders jedoch als von Lima Barreto befürchtet, gelangte der Fußball in die entferntesten Winkel der Erde und wurde zum populärsten Sport der Welt, dessen Weltverband FIFA heute mehr Mitglieder (208) zählt als die UNO (192). Gleichzeitig hat Fußball die Gesellschaftskolumnen verlassen und seine eigene Abteilung in den Zeitungen bekommen, mit zahllosen Chronisten: von gelegentlichen wie Carlos Drummond de Andrade (1902–1987) oder José Lins do Rego (1901–1957) bis zu professionellen wie Mário Filho (1908–1966), João Saldanha (1917–1990), Roberto Drummond (1933–2001) sowie Nelson Rodrigues (1912–1980), dem Größten von allen. Doch die Begeisterung der Chronisten sprang nie auf Romanautoren und Erzähler über. Fußball blieb fast immer draußen, ausgesperrt aus dem großen Haus der Belletristik.

    Die ersten Berührungen indes waren vielversprechend. 1927 veröffentlichte Alcântara Machado Brás, Bexiga e Barra Funda, einen Band mit Kurzgeschichten, der auch das kleine Meisterwerk »Corinthians 2 × 1 Palestra« enthält. Im Jahr darauf taucht dieser Sport kurz in Macunaíma⁷ von Mário de Andrade (1893–1945) auf. Danach findet er nur noch sporadisch in Romane Einzug: Água Mãe (1941) von José Lins do Rego (1901–1975), O sol escuro (1966) von Macedo Miranda (1920–1975), Crônica do Valente Parintins (1976) von Ewelson Soares Pinto (1926), À saída do primeiro tempo (1978) von Renato Pompeu (1941), Segunda divisão (2005) von Clara Arreguy (1959), O segundo tempo (2006) von Michel Laub (1973). Außerdem widmen sich zwei Erzählbände dem Fußball: Maracanã Adeus (1980) von Edilberto Coutinho (1938–1995) und Contos de Futebol (1997) von Aldir Garcia Schlee (1934).⁸

    Flávio Moreira da Costa (1942) organisierte 1986 die erste brasilianische Fußballanthologie Onze em campo mit Fußballgeschichten von neun Schriftstellern und zwei Schriftstellerinnen. Zwölf Jahre später erlebte das Buch eine erweiterte Neuauflage unter dem Titel Onze em campo e um banco de primeira, in der quasi von der Ersatzbank fünf weitere Autoren, darunter wiederum eine Frau, aufgenommen wurden.⁹ 2006 wurde die Anthologie aus Anlass der Weltmeisterschaft in Deutschland abermals erweitert auf nun 22 Erzählerinnen und Erzähler und unter dem Titel 22 contistas em campo. Noch im selben Jahr erschienen in Brasilien drei weitere Fußballanthologien: Cyro de Mattos (1939) wählte 19 Texte für die von Juca Kfouri eingeleitete Anthologie Contos brasileiros de futebol¹⁰ aus, elf bis dahin unveröffentlichte Texte wurden für den Band 11 histórias de futebol zusammengetragen und Donos da Bola, herausgegeben von Eduardo Coelho, versammelt Fußballtexte unterschiedlicher Genres, darunter Glossen, Kurzgeschichten, Gedichte und Liedtexte.

    Die vorliegende Anthologie nun ist ein weiterer Beweis, dass das Klima der Ablehnung des Fußballs als Thema der erzählenden Literatur sich verändert. Der Band enthält 15 der wichtigsten Namen der zeitgenössischen brasilianischen Literatur, die sich der Herausforderung gestellt haben, bisher unveröffentlichte¹¹ Texte für ein zuerst auf Deutsch erscheinendes Buch beizusteuern.¹² Mit dem Ziel, einige Kostproben der territorialen und kulturellen Komplexität eines so großen und unfassbaren Landes wie Brasilien zu geben, habe ich als Herausgeber mich entschieden, unterschiedliche Generationen zu Wort kommen zu lassen (der älteste Autor ist 62, der jüngste 33), unterschiedliche Regionen (fünf stammen aus dem Südwesten, vier aus dem Süden, zwei aus dem Nordosten, zwei aus dem mittleren Westen, und zwei wurden im Ausland geboren), unterschiedliche Wohnorte (fünf leben in Rio de Janeiro, vier in São Paulo, zwei in Curitiba und die anderen jeweils in Recife, Fortaleza, Brasília und den USA), neun Männer und sechs Frauen. Das Einzige, was mir nicht gelingen wollte, ist eine Balance zwischen der Größe und der Bedeutung der Clubs und ihrer Anhängerschaft unter den eingeladenen Schriftstellern. Flamengo, mit der größten, schönsten und sympathischsten Anhängerschaft in ganz Brasilien, wird, mit Ausnahme von mir, nur von einem Autor als Lieblingsmannschaft genannt, während Botafogo unter ihnen vier Anhänger hat, gefolgt von Fluminense und Atlético Paranaense mit jeweils zwei Anhängern und Coritiba, Palmeira, Vasco, Grêmio, Goiás und Fortaleza mit jeweils einem ...

    Lieber Leser, nehmen Sie dieses Buch als einen Weg, Brasilien kennenzulernen, über eine der größten Leidenschaften seiner Bevölkerung, den Fußball!

    Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler

    1Hora do foot-ball, in: Donos da bola. Rio de Janeiro: Língua Geral 2006, S. 130.

    2Sein Sohn, João Coelho Neto (1905–1979) war als »Preguinho« bekannt, einer der besten Torschützen in der Geschichte von Fluminense und Nationalspieler bei der ersten Weltmeisterschaft in Uruguai 1930.

    3Gegründet am 21. Juli 1902 von Oscar Cox, der den Fußball nach Rio de Janeiro brachte.

    4Deutsch von Berthold Zilly, Zürich: Ammann, 2001.

    5Lima Barreto: Toda crônica, hg. v. Beatriz Resende und Rachel Valença, Rio de Janeiro: Agir 2004, Bd. II, S. 526.

    6Ebd., Bd. II, S. 343.

    7Deutsch von Curt Mayer-Clason, Frankfurt: Suhrkamp 1982.

    8Nach der 2:1-Niederlage gegen Uruguay bei der Weltmeisterschaft 1950 beschloss der brasilianische Fußballverband, das damals verwendete weiße Trikot auszumustern und schrieb einen landesweiten Wettbewerb für ein neues Trikot aus. Der junge Aldyr Garcia Schlee gewann diesen Wettbewerb mit seinem Entwurf des berühmten kanariengelben Trikots, der mutatis mutandis bis heute offiziellen Kleidung der brasilianischen Nationalmannschaft ist.

    9Deutsch: Anpfiff aus Brasilien. Elf auf dem Platz, Frankfurt: TFM 2006.

    10Deutsch: Samba Goal. Elf Geschichten aus Brasilien, München: dtv 2013.

    11Mit zwei Ausnahmen: Casquinha war nicht der, für den wir ihn hielten von Mário Araújo und Mein kleiner kubanischer Freund von Flávio Carneiro sind bereits andernorts erschienen, wurden aber für diese Anthologie umgeschrieben.

    12Auf Wunsch des Verlages hat Luiz Ruffato kurz vor Drucklegung auch die eigene Geschichte Ein Tor der Worte für diesen Band zur Verfügung gestellt.

    Casquinha war nicht der,

    für den wir ihn hielten

    Mário Araújo

    1.

    In der Küche weinte ein Mann: Casquinha war gestorben. Der Mann hatte das Buch Casquinha war nicht der, für den wir ihn hielten noch nicht gelesen. Casquinha war der berühmte Fußball-Star. »Der Weltgrößte«, laut der Zeitschrift Isto É Esporte. »Der Weltgrößte«, schrieb auch 11 Freunde. »Der Weltgrößte«, wie die Przeglad Sportowy unaufhörlich auf Polnisch betonte. »Der Weltgrößte«, wie die Gazzetta Dello Sport unermüdlich auf Italienisch behauptete. Tatsache ist, dass das Buch, geschrieben von einem bis dato unbekannten, jedoch sehr aufmerksamen Journalisten namens Édson Hipólito, zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erschienen, aber bereits gedruckt war und darauf wartete, das Land zu überschwemmen.

    Ein paar Wochen später war das sensationelle Buch auf dem Markt und erzählte, in Buchhandlungen und Kiosken würdevoll in vorderster Front platziert, Casquinhas Leben. Hätte der Mann seine Küche verlassen und wäre auf die Straße gegangen, hätte er es in jeder Buchhandlung entdeckt.

    Madalena klammerte ein paar Unterhöschen an die Wäscheleine und nahm andere dafür ab. Sie betrat die Wohnküche, in der seit einigen Tagen ihr Mann herumlag, den Blick starr ins Leere gerichtet oder höchstens noch auf die Brotkrümel auf dem Tisch. So ging das seit Casquinhas Tod, der ein natürlicher Tod gewesen war. Dem Mann fehlte einfach eine Arbeit, deshalb bestand sein Leben darin, nachts zu schlafen und tagsüber herumzuliegen, außer wenn er beschloss, diese bescheidenen Tätigkeiten in umgekehrter Reihenfolge zu verrichten. Wer ihn an jenem tragischen Todestag in der Küche beobachtet hätte, wäre von der raumfüllenden Feuchtigkeit, die dieses Bild verströmte, beeindruckt gewesen. Die Wände des Hauses weinten, strömten einen feinen, nicht enden wollenden Regen aus, gleich dem Mann, der in nervösen Zuckungen weinte und schwitzte. Natürlich würde sich die Lage irgendwann wieder normalisieren und der Alltagsroutine Platz machen. Das erhoffte sich zumindest Madalena, und so kam es auch. Madalena dachte: »Jetzt hast du dein ganzes Leben so zugebracht, hast immer nur rumgehangen, warst ständig in irgendwas gefangen, was auch immer was auch immer das war, und hast ihn bewundert, aber was bringt dir das jetzt?«

    Madalena stellte sich lediglich vor, dass sie das sagte. Es gab Tage, an denen sie viel nachdachte, und manchmal gab es sogar Gelegenheiten, das zu äußern. Doch diesmal sagte sie nichts, sondern ging mit ihren Unterhöschen, die auf die Begegnung mit dem Bügeleisen warteten, hinaus.

    Hinter seiner Ladentheke machte sich ein tüchtiger Buchhändler – Schnauzbart, kariertes Hemd, nach Lavendel duftend – an die Arbeit. Rechenmaschine, Block, Bleistift: Erste Auflage zwanzigtausend, im ersten Monat verkauft. Der Laden hatte hundert Exemplare bekommen – in einer Woche nachbestellen, nicht warten, bis alle verkauft sind, mindestens weitere fünfzig bestellen – und dann die zweite Auflage abwarten, die dritte und so weiter.

    Der Mann überlegte, was er mit dem Erlös für seine Familie kaufen könnte, schließlich war er alleiniger Besitzer der Buchhandlung – er und seine dicke Gattin. Ein Surfbrett für den Jungen, dachte er, eine Flasche Chivas, ein neues Handy, ein Laufband, ein neues Fläschchen Lavendelduft.

    Aber worum geht es eigentlich in diesem Buch, was ist es, das die Leute, die es lesen, Ahs und Ohs ausstoßen und sich in Gruppen zusammenfinden lässt, die, erstaunt über so viel nackte Wahrheit, zu diskutieren und zu kommentieren beginnen?

    Die Menschen in diesem Land lieben es, sich endlose Geschichten über Casquinha, den Fußballstar, zu erzählen, wenn sie zufällig miteinander ins Gespräch kommen. Das war schon immer so. Manche waren sogar bei seinen Spielen dabei, die Jüngeren haben Videoaufzeichnungen gesehen, jedenfalls haben sie alle auf irgendeine Art das Phänomen Casquinha erlebt, das nun die Fachzeitschriften und lokalen Zeitungen füllt. Sie berichten auch über das, was sie in Meine Geschichte, der alten, aus Casquinhas Feder stammenden Biografie, gelesen haben, die in einige andere Sprachen übersetzt wurde, darunter Tschechisch, Rumänisch, Englisch, Schwedisch und Sowjetisch. In die Sprachen jener Länder also, denen Casquinha unermüdlich im Schweiße seines Trikots eine Niederlage zugefügt hat – grr! – im Schweiße seiner Füße – grrrr! – im Schweiße seines Antlitzes, und mit seiner Begabung, den Gegner auszuschalten.

    2.

    Ich bin in Passa Quatro in Minas Gerais geboren und habe ein Leben geführt, wie es alle Jungs in einer solchen Kleinstadt führen. Ich war bereits das vierte Kind der Familie, drei weitere sollten noch folgen, eine Familie von beachtlicher Größe, aber nicht ganz so beachtlich war das, was mein Vater als Maschinist und Heizer bei der Eisenbahn verdiente. Meine älteren Geschwister fingen früh an zu arbeiten, um meine Eltern zu unterstützen, während ich mein goldenes Zeitalter erlebte und von allen Seiten verwöhnt wurde, natürlich auch deshalb, weil ich noch gar nichts anderes tun konnte als spielen. Mein Vater spielte einen klassischen Mittelstürmer beim Sportverein von Passa Quatro, den es heute nicht mehr gibt, er spielte mittelmäßig, war eine Zeit lang nur Ersatzspieler, doch Fußball war sein Leben, und das hat er an seine Kinder weitergegeben, insbesondere an mich, der ich noch klein war. Draußen auf der Straße gab es eine Horde Kinder mit einem Ball aus Lumpen oder auch aus Leder, sie rannten sich gegenseitig über den Haufen auf dem unebenen, holperigen Gelände – und ich mittendrin, schmächtig, taumelnd, weil ich diesem Gerangel noch nicht gewachsen war. Und so ging das den ganzen Tag, bis es Nacht wurde. Ihr hättet meine Mutter sehen sollen, wie sie mich immer gerufen hat, am Spielfeldrand stand sie und brüllte: »Casquinha! Casquinha!«, sie brüllte so laut, dass mir die Ohren wehtaten, unaufhörlich brüllte sie, bis es ihr schließlich gelang, mich zu schnappen und mir fast die Ohren abzureißen. Wir zogen um nach Mococa im Bundesstaat São Paulo, und ich musste mir meine Zeit zwischen Schule und Fußball aufteilen. Da hättet ihr Dona Amália sehen sollen, wie sie mich jeden Tag von der Haustür aus an meine Hausaufgaben beorderte. Dann musste ich anfangen zu arbeiten, als Schuhputzer auf dem zentralen Platz, um meine Eltern zu unterstützen, und so wurde meine Zeit dreigeteilt – doch am stärksten schlug mein Herz für den Fußball. Wir zogen um nach Campinas, ebenfalls im Bundesstaat São Paulo, und obwohl ich schon groß war, wurde ich von meinem Bruder Zeca an die Hand genommen und einem Fußballclub vorgestellt. Der Trainer dort sah mich an und erkannte auf Anhieb, dass mein Adamsapfel vor Nervosität zuckte. Die Arbeit als Schuhputzer vernachlässigte ich etwas, weil das Training mir alles abverlangte und ich mich voll darauf einließ, doch dass ich zur Schule ging, darauf bestand die ganze Familie. Irgendwann durfte ich dann spielen, in den letzten fünfzehn Minuten eines Freundschaftsspiels, und schoss gleich zwei Tore, es war ein Spiel, bei dem es so aussah, als würde meine Mannschaft 1:2 verlieren, doch ich drehte mit meinen beiden Toren das Spiel in ein 3:2. Von da an war ich immer dabei und schoss von an in allen Spielen Tore und wurde schließlich zum Torschützenkönig der Meisterschaft gekürt, mit einer nie dagewesenen Trefferzahl. Ich wurde ausgezeichnet. Damals habe ich an eure Eltern gedacht, an mein Land, an die Armen in meinem Land, zu denen auch meine Eltern zählten, und kurz darauf wurde ich in die Nationalmannschaft berufen und bestritt mein erstes Spiel, schoss ein paar Tore und durfte als Ersatzspieler an der WM teilnehmen. Doch dann verletzte sich Lelé, ein Stammspieler und mein großes Idol, bei einem der entscheidenden Spiele, und ich sollte für ihn einspringen, was eine riesige Herausforderung für mich war. Meine Oberschenkelmuskulatur war nicht hundertprozentig in Ordnung, aber ich sage euch, und das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit, dass ich aufs Spielfeld lief, mich zu unserem Masseur umdrehte und ihm zweimal zuzwinkerte.

    Ich weiß nicht, was dann mit mir passiert ist, weiß nur, dass meine Beinmuskeln bei diesem Zwinkern hart wie Stein wurden. In der zweiundzwanzigsten Spielminute der zweiten Halbzeit dieses entscheidenden Spiels lag die brasilianische Nationalmannschaft zwei Tore zurück, und ich nahm einen scheinbar verlorenen Ball an, zog an einem Spieler vorbei, zog an zwei weiteren vorbei, zog an noch einem vorbei, der mir einen Schlag versetzte, was ich aber nicht beachtete – steinharte Muskeln – ich umspielte den Torwart und schoss das Tor, das meine Mitspieler wieder aufbaute. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Fußballtröten bereits ihre Sympathien für unsere Mannschaft und die magischen Füße von Casquinha zum Ausdruck gebracht, und der Ball landete auf wundersame Weise noch dreimal im gegnerischen Netz.

    Ich habe viel geweint nach diesem Spiel im Land dieser riesigen Gringos, habe an mein Land gedacht, an die Kinder in meinem Land, an die Minderheiten in meinem Land, an die saftig grünen Wälder in meinem Land, an die Armen in meinem Land und daran, wie man ihnen am besten helfen kann.

    Es heißt,

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