Nachtgesichter
Von Vanessa Glau
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Über dieses E-Book
Vanessa Glau
Vanessa Glau ist in den österreichischen Bergen zu Hause, studierte Japanologie und dann Translation in Wien und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin für Literatur und Videospiele. Sie hat seit 2017 mehrere Kurzgeschichten in den Selfpublisher-Anthologien von Nikas Erben veröffentlicht, "Nachtgesichter" ist ihr erster Roman.
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Buchvorschau
Nachtgesichter - Vanessa Glau
Inhaltsverzeichnis
Ballonblume
Weide
Mondwinde
Reis
Kiefer
Lilie
Chrysantheme
Lotus
Steinsamen
Kirschbaum
Sakaki
Epilog
Glossar
Ballonblume
Bunte Lichter auf der Rainbow Bridge: Der Puls der Weltstadt umspülte mich, öffnete sich vor mir und schlug hinter mir wieder zusammen. In den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos, den Smartphone-Displays der Passanten und den beleuchteten Hochhäusern an beiden Ufern konnte ich ihn beinahe sehen, diesen Puls.
Spüren sowieso, jede Stunde jedes einzelnen Tages, die ich namenlos unter diesen Millionen verbrachte. Auch ich war ein gesichtsloser Salaryman gewesen, hatte mich jeden Morgen in die Bahn gequetscht und im Großraumbüro bis zur Erschöpfung gearbeitet. Davor hatte ich an einer mittelmäßigen Uni Klassische Literatur studiert, um viel lesen zu können. Mein Leben war dahingeplätschert wie ein Bach in den Bergen, bis zur Kündigung.
Ich lehnte mich vor und sah in den dunklen Fluss hinab. Selbst die Wellen spiegelten nur einen Schatten wieder, in dem ich mein Gesicht nicht erkennen konnte. Ich war wie alle anderen, konnte mich nicht einmal in meiner Einsamkeit besonders fühlen. Nach einer Weile lehnte ich mich wieder zurück und atmete tief durch. Wenn ich etwas brauchte, dann einen Spiegel, in dem ich mich selbst sah, und zwar kristallklar. Nur durfte ich diesen Spiegel nicht in Tokio suchen, der Stadt, die mich seit zwanzig Jahren beherrschte und an jeder Ecke mit neuen Reizen lockte. Die meinen Kopf mit sanfter Hand niederdrückte, bis ich als einer unter vielen in der Menge ertrunken war. Sie verstand es, mich abzulenken und meine Wahrnehmung einzufärben. Ein einziges Mal hatte ich mich gesehen und verstanden gefühlt, vor vier Jahren von einer Fremden in meinem Stammcafé.
Aber in diesem Moment und auf dieser Brücke wollte ich mich dauerhaft an die Wahrheit binden.
»Das Leben, das ich kenne, das kann doch nicht alles sein. Ich will mehr«, murmelte ich in den Verkehrslärm hinein. »Ich werde gründlich danach suchen. Ich verspreche, nicht aufzugeben und meinem Ziel treu zu bleiben, egal, wie viele Hindernisse ich überwinden muss.«
Ich verspürte den wundersamen Drang, eine Glocke zu läuten und in die Hände zu klatschen, um die Götter auf mein Gelöbnis aufmerksam zu machen. In Tokio gab es unzählige Schreine der acht Millionen Gottheiten, versteckt zwischen Hochhäusern und Einkaufsstraßen. Die meisten Menschen gingen blind daran vorbei, aber das alte Japan war noch nicht aus der Metropole verschwunden.
Ich riss meinen Blick vom Wasser und den bunten Lichtspiegelungen los, um einen zerknitterten Brief aus der Tasche zu ziehen. Zum hundertsten Mal las ich die Worte, die wie eine Botschaft aus einer beinahe vergessenen Welt zu mir gekommen waren.
Sehr geehrter Herr Yanagihara,
dieser Brief kommt bestimmt sehr überraschend
für Sie. Erlauben Sie mir, mich kurz
vorzustellen: Ich bin Tadayuki Abe, der ältere
Bruder Ihres Vaters Nakamaru. Ich bedaure
zutiefst, nicht früher Kontakt zu Ihnen
aufgenommen zu haben. Wenn Sie mir einen Teil
Ihrer Zeit schenken, würde ich gerne erklären,
warum dieser Brief Sie ausgerechnet jetzt
erreicht. Ferner möchte ich Ihnen dringend raten,
sich auf Ihre Wurzeln zu besinnen und sich
nicht länger von Ihrer Familie zu distanzieren.
Sprechen Sie diesbezüglich auch mit Ihrer
Großmutter Eriko, falls es notwendig sein sollte.
Darauf folgten einige elegante Worte, die mich zum Tee einluden, ohne etwas zu erklären, und die Adresse eines Shinto-Schreins in Asakusa. So kryptisch der Brief auch war, er öffnete meinen Blick für die Familie meines Vaters, über die meine Großmutter nie ein Wort verloren hatte. Auch über den Tod meiner Eltern hatte sie nie gesprochen. Als ich ihr den Brief gezeigt hatte, hatte sie geseufzt. »Ich kann dir nichts mehr verbieten. Tu, was du für richtig hältst.«
Ich strich mit einem Finger über die Adresse, als könnten sich die Linien vor meinem inneren Auge zum tatsächlichen Ort zusammenfügen. Der Schrein in Asakusa rief mich in das alte Japan zurück, in dem sich junge Adelige in prachtvollen Kimonos den Vollmond ansahen, Liebende einander Gedichte über die Kirschblüte und den Tau im Herbstgras schickten. Jetzt würde ich selbst die Glocke zum Gruß läuten und meine Fragen an die Gottheit richten, die den Menschen seit Urzeiten Trost spendete.
Ich steckte die kalten Hände in die Jackentaschen und schlenderte in die Stadt zurück. Nach wenigen Schritten verschlangen die U-Bahn und die Menschenmassen mich aufs Neue. Am nächsten Tag aber würde ich mein Gelöbnis als Waffe schwingen, um die Illusion zu durchstoßen und dahinter die lebendige, atmende Wahrheit zu finden. Ich würde meinen Onkel aufsuchen.
Das Torii, das den Eingang des Schreins markierte, ragte im typischen leuchtenden Rot über mir auf und zeigte die Grenze zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter und Geister an. Ich blieb davor stehen und holte tief Luft. Beinahe hätte ich den Schleier ertastet, der den heiligen Boden von der restlichen Stadt trennte, und spürte sachten Widerstand. Nachdem ich das Tor passiert hatte, hallten meine Schritte aber weiterhin auf soliden Steinplatten wider und das Zirpen irdischer Grillen misshandelte meine Ohren.
Wenigstens der Großstadtlärm war hinter mir zurückgeblieben. Als hätte ich einen zu schweren Mantel abgeschüttelt, richtete ich mich auf und atmete freier. Neben dem kurzen Weg zum Schrein, der mit mehreren Nebengebäuden überraschend weitläufig war, wuchsen büschelweise Ballonblumen und ihre violetten Blüten begrüßten mich nickend und hüllten mich in ihren Duft ein.
Am überdachten Temizuya blieb ich stehen und wusch mir die Hände: Zuerst die linke, dann die rechte, dann nahm ich einen Schluck in den Mund und goss das restliche Wasser aus der Schöpfkelle über meine Hände aus. Seit dem Brief bedeutete mir dieses alte Ritual wieder etwas und ich reinigte nicht nur meinen Körper, bevor ich weiterging. Vor dem Hauptgebäude stockte ich, um nach den richtigen Worten für ein Gebet zu suchen. Als ich den Kopf wandte, entdeckte ich einen Mann in Priesterkleidung, der an der Ecke eines Nebengebäudes stand und meine Unschlüssigkeit beobachtete.
Der Mann hielt sich kerzengerade und bedachte mich mit dem milden Blick eines Älteren, der gelernt hatte, den Jüngeren vieles zu verzeihen. Perlweiße Strähnen durchzogen seine langen schwarzen Haare. Ich hielt dem Blick seiner kohleschwarzen Augen nur einen Augenblick lang stand, bevor ich mich verbeugte.
»Du bist Nakamarus Sohn, nicht wahr?«
»Ja.« Ich verbeugte mich erneut, um mein Gefühl der Beklommenheit zu verbergen. Jetzt, da ich dem Briefeschreiber gegenüberstand, brachte ich kaum ein Wort heraus. Dieser Mann war viel solider und stärker, als ich mir den Bruder meines Vaters vorgestellt hatte. Er war eine Eiche, daneben fühlte ich mich wie ein in der Brise wild schwankender Haselstrauch.
»Komm herein. Ich werde Tee für uns zubereiten.«
Tadayuki Abe verschwand um die Ecke des Gebäudes. Ich folgte ihm zu einem schlichten Wohnhaus, das hinter dem Schrein lag. Er öffnete die Schiebetür und wies mit der Hand hinein. In einem schwach nach Binsen duftenden Zimmer, das bis auf einen niedrigen Tisch und eine Kalligrafie über Regen und den Mond in der Nische leer war, setzte ich mich höflich auf die Fersen und Tadayuki bot mir ein Tablett mit einigen Keksen an. Im Sitzen verneigte er sich und ich beeilte mich, die Geste zu erwidern.
Dann bereitete er vor meinen Augen den Tee zu. Die Art, wie er mit dem Tee und der Schale umging, verriet zwar keine Meisterschaft, aber doch Respekt vor dem Handwerk und der Kunst des Tees. Während ich die sparsamen Bewegungen beobachtete und den ungesagten Worten lauschte, die in der Luft hingen, stieg Sehnsucht in mir auf. Ich hatte eine andere Welt betreten, die jenseits der modischen, endlos vernetzten Metropole lag.
Tadayuki passte den genauen Moment ab, an dem er den Tee mit einem kleinen Bambusbesen fein genug geschlagen hatte, wischte unsichtbare Spritzer vom Rand und reichte mir die Teeschale. Ich nahm sie mit einer angedeuteten Verbeugung entgegen und führte sie mit beiden Händen zum Mund, wie ich es einmal bei einer Vorführung gesehen hatte.
Der erste Schluck erfreute.
Der zweite beglückte.
Der dritte stürzte in reine Seligkeit.
Ich genoss den Geschmack, bis er von meiner Zunge gewichen war, und gab die Schale zurück. »Ein köstlicher Tee.«
Tadayuki bedankte sich mit einem Nicken. Während er die Utensilien säuberte und sorgfältig wegräumte, kam mir die Erkenntnis, dass mein Onkel ein Praktizierender, wenn nicht sogar ein Meister der Teezeremonie sein musste. Neben den Schreingebäuden hatte ich einen kleinen Pavillon gesehen, der einen guten Ort für Teezeremonien abgeben würde.
Nachdem er alles weggepackt hatte, setzte er sich wieder. »Ich hoffe, es hat dir keine großen Umstände bereitet, so kurzfristig zu kommen. Es tut mir leid, falls der Brief zu vage formuliert war.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es geht wohl um Dinge, die besser persönlich besprochen werden sollten, richtig?«
Tadayuki nickte. »Es ist eine Schande, dass du in all den Jahren nichts über unsere Familie und deine Vorfahren in Erfahrung bringen konntest. Meiner Meinung nach sollte jeder Mensch seine Wurzeln kennen, bevor er sich der Zukunft zuwendet und entschlossen voranschreitet.«
Ich dachte an mein Versprechen auf der Brücke zurück. Ich war immer noch fest entschlossen, gerade weil ich noch nicht alle Antworten gefunden hatte.
»Unsere Familie stellt schon seit Generationen die Priester für diesen Schrein«, sagte er. »Momentan sind jedoch nur meine Tochter Tomomi und ich für ihn und diese Gemeinde da. Wir sind unterbesetzt und wären sehr dankbar für ein weiteres Paar Hände.«
Der zweite, möglicherweise ehrlichere Grund für den Brief. Ich bewunderte die Aufrichtigkeit dieses Mannes. Wie befreiend musste es sein, mit klarem Blick und offenem Herzen zu leben! Aber ich hatte ja selbst beten wollen, anstatt über die Gebete und Wünsche anderer Besucher zu wachen. »Ich verstehe nicht ganz. Bitten Sie mich, als Priester zu arbeiten? Welche Aufgaben wären damit verbunden?«
Tadayuki winkte ab, die erste lockere Bewegung, die ich von ihm sah. »Vorerst würdest du nur aushelfen. Putzen, Amulette verkaufen, bei Veranstaltungen assistieren und Ähnliches. Wir sind nicht nur Priester der Gottheit Inari, sondern bieten in diesem Viertel auch Unterstützung bei Problemen, die übernatürlichen Ursprungs sein könnten. Danach richten sich unsere Pflichten.«
Ich musste an Onmyoji denken: Priester-Berater, die am historischen Kaiserhof für Weissagung und das Übernatürliche zuständig gewesen waren. Sie hatten das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang, zwischen Himmel und Erde wahren sollen. Diese Traditionen waren mir so fremd wie der Grund eines Koi-Teichs und ich hatte wie alle meine Altersgenossen gedacht, dass sie ausgestorben waren. War dieses Geheimnis die Antwort auf meine Gebete? Ich wollte es herausfinden. »Bedeutet das, Sie treiben böse Energien aus?«
»Wir wahren das Gleichgewicht zwischen der Menschenwelt und der Welt der Götter und Geister.« Tadayuki lächelte leicht. »Wie gesagt, vorerst solltest du den Schrein und die mit der Priesterschaft verbundenen Pflichten kennenlernen. Alles Weitere hat Zeit.«
»Warum gerade jetzt?«, fragte ich. »Hat es etwas damit zu tun, dass Großmutter nie von Ihnen spricht?«
Tadayukis Gesicht blieb ausdruckslos. »Du bist erwachsen und es war ein günstiger Zeitpunkt. Zu Erikos Verhalten kann ich nichts sagen.«
»Warum nicht? Mein Vater war Ihr Bruder!«
Er wandte den Blick ab und das Wohlwollen schwand aus seiner Stimme wie der letzte Sonnenstrahl an einem Herbstabend. »Der Grund betrifft nicht nur dich und mich, daher steht es mir nicht zu, darüber zu sprechen. Nun, wie lautet deine Antwort?«
Ich senkte den Blick, damit der gelassene Shinto-Priester nicht mehr in meinem Gesicht las, als ich preisgeben wollte. »Wissen Sie, nach dem Schulabschluss bin ich nur aus oberflächlichem Interesse heraus an die Uni gegangen und habe mich ziellos treiben lassen. Ich habe in einem angesehenen Unternehmen gearbeitet und konnte mich doch nicht an dem Leben erfreuen, das ich mit eigenen Händen gestaltet hatte. Da fiel mir auf, dass ich meine sogenannten Entscheidungen immer auf fremden Ansichten und Erwartungen aufgebaut hatte.« Ich sah auf. »Jetzt will ich herausfinden, was ich mir wünsche, was ich brauche. Dazu gehört ein Ort, der mir nicht egal ist, an dem ich anerkannt und gebraucht werde. Diese Gesellschaft drängt einen zur Konformität, aber es muss noch eine andere Art zu leben geben, oder?«
»Glaubst du, du könntest eine Lebensweise finden, die dir zusagt, wenn du deine Zeit hier mit uns verbringst?«
»Ja, das glaube ich.« Ein weiteres Mal verneigte ich mich, bis meine Stirn beinahe den Boden berührte. »Bitte nehmen Sie mich als Aushilfe auf. Ich möchte diesen Schrein und meine Familie kennenlernen.«
Tadayuki besiegelte die Vereinbarung mit einem Nicken.
Wir besprachen meinen ersten Arbeitstag, angemessene Kleidung und wann ich am Schrein sein sollte. Außerdem umriss Tadayuki grob, welche Veranstaltungen und Termine in den nächsten Wochen auf dem Plan standen. Als ich mich schließlich verabschiedet hatte und mit der Bahn vierzig Minuten nach Hause zurückfuhr, sehnte ich mich in den Umkreis seiner Gelassenheit zurück. Nicht nur der köstliche Tee, auch der klare Blick meines Onkels hatte mich von innen heraus gewärmt.
Ich begrüßte die Arbeit, die Tadayuki mir gab, denn die Umgebung des Schreins mit seinen Fuchsstatuen und leuchtend rotem Torii hüllte mich jeden Morgen ein wie ein belebender Regenschauer. Mit der Zeit kehrte ich zu der inneren Ruhe zurück, die ich durch die Kündigung und mein rastloses Umherwandern in der Stadt verloren hatte. Nach zwei Wochen fand ich mich im und um den Schrein herum zurecht, hatte alle Gänge geschrubbt, jeden Zentimeter des Geländes gefegt, kannte den Zweck jedes Zimmers und hatte zu allen Dachgiebeln hinaufgesehen. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass die alten Holzgebäude zusätzliche Ecken und Winkel besaßen, die sich meiner Neugier noch entzogen. Mit dem handfesten Teil des Schreins war ich vertraut, an seinen Mysterien hatte ich nicht einmal gekratzt.
Meine Cousine Tomomi bekam ich fast jeden Tag zu Gesicht. Als Tadayuki uns an meinem ersten Arbeitstag vorgestellt hatte, hatte sie lediglich ein frostiges