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Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5
Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5
Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5
eBook461 Seiten5 Stunden

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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Über dieses E-Book

Das große Finale für Julia Wagner – der fünfte und letzte Teil der fesselnden Krimireihe: Julia verfolgt den sogenannten Zaren, den gerissenen Kopf des Kranich-Geheimbunds, und ihre Lage wird immer gefährlicher. Ganz deutlich zeichnet sich ab, dass die Stränge weit zurück in ihre Vergangenheit laufen. Gleichzeitig stößt Susanne, die zurück in Norwegen ist, auch auf die Spur der Kraniche. Noch einmal müssen die beiden Frauen ihre Kräfte bündeln, um den Kampf zu gewinnen...Eine bis zur letzten Seite spannende Krimireihe, in deren Zentrum die ehemalige Polizistin Julia Wagner steht, die mit ihrem früheren Kollegen Zander so manch rätselhaften und gefährlichen Fall löst.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum15. Okt. 2020
ISBN9788726643107
Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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    Buchvorschau

    Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner - Tanja Noy

    Tanja Noy

    Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

    Für Katja.

    Immer.

    Saga

    Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2017, 2020 Tanja Noy und SAGA Egmont

    All rights reserved

    ISBN: 9788726643107

    1. Ebook-Auflage, 2020

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

    SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

    – a part of Egmont www.egmont.com

    TEIL 1

    1. KAPITEL

    Der Turm der Seelen

    23. Dezember 2010

    Hannover

    16:46 Uhr

    Der Wind pfiff auf eine Art und Weise, wie sie es noch nie zuvor gehört hatten, während nadelspitze Kristalle durch die Luft und ihnen in die Gesichter jagten. Frierend zog Eva sich die Strickmütze etwas weiter über die Ohren und sagte: „Es kommt mir vor, als würden wir uns auf dem Mond bewegen."

    Und da hatte sie nicht unrecht. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie in ihren dicken Jacken und den unförmigen, kniehohen Stiefeln tatsächlich aussahen wie Mitglieder einer Mondlandungsexpedition, hätte ein Abend auf dem kalten Mond vor allem nicht einsamer sein können. Erst sehr weit hinter ihnen war das Glitzern der fernen Lichterkette zu sehen, die Stadt und Leben bedeutete. Vor ihnen schlängelte sich lediglich ein schmaler Weg, kaum breiter als ein Nadelöhr. Das einzige Geräusch - abgesehen vom launischen Wind, der abwechselnd mal drohend und mal melancholisch pfiff - waren ihre Schritte im hohen Schnee. Am dunklen Himmel war nicht ein einziger Stern zu sehen, übrigens auch kein Mond, und allmählich ging ihnen die Puste aus.

    Julia blieb stehen, kniff die Augen zusammen und sah einen Moment lang in den dunklen Himmel. Dann blickte sie wieder geradeaus. Vor ihnen tauchten bereits die unregelmäßigen Konturen des Turms auf, der sich eindrucksvoll über der weißen Schneelandschaft erhob.

    „Ich finde diesen Turm unheimlich", bemerkte Eva, ohne stehen zu bleiben.

    „Es ist ein ganz normaler Turm. Julia setzte sich wieder in Bewegung und folgte ihr. „Im Sommer eine Touristenattraktion und jetzt im Winter eben einsam und verlassen.

    Eva machte ein Geräusch, das nicht zu deuten war. „Es ranken sich jede Menge Gerüchte darum, das weißt du. Es heißt, er sei seit seiner Erbauung das Tor zu einer anderen Welt. Es wird behauptet, er wäre die Heimat aller bösen Geister und …"

    „Hör auf damit, okay? Wir dürfen nicht darauf hereinfallen."

    „Worauf?"

    „Auf solche Legenden. Das ist genau die Art Angst, die die Kraniche schüren. Und gerade du als Wissenschaftlerin glaubst ja wohl an die Macht der Tatsachen und des wissenschaftlichen Beweises. Nicht an solchen Aberglauben."

    Eva schob ihren Schal etwas weiter übers Gesicht, sofort blieben die Schneeflocken in der weichen Wolle hängen und durchnässten sie noch weiter. „Gerade in der Wissenschaft ist nichts unmöglich, Julia. Nur im wissenschaftlichen Sinne unwahrscheinlich. Und nach allem, was wir bereits hinter uns haben …"

    „Es ist nur ein alter Turm. Daran ist absolut nichts Übernatürliches. Können wir es bitte dabei belassen?"

    „Wenn du meinst." Eine unerwartet heftige Windbö erwischte Eva und brachte sie ins Wanken. Mühsam kämpfte sie um ihr Gleichgewicht.

    „Häng dich bei mir ein", sagte Julia, die ebenfalls Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten.

    Eva griff nach ihrem Arm und hielt sich daran fest. „Und übrigens sage ich als Wissenschaftlerin auch, setzte sie nach ein paar weiteren Metern hinzu, „dass der Schlüssel zu jedem Geheimnis in der Dekonstruktion liegt. Das Ganze muss zerlegt werden, um die Einzelteile zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen Teile sind bedeutungsvoller als das Ganze.

    „Die Einzelteile haben vor einer Stunde noch vor uns auf dem Tisch gelegen, gab Julia zurück. „Drei Schlüssel, ein Medaillon, ein Schwert und ein paar Kinderzeichnungen. Und bis auf das Medaillon gab mir nichts davon eine Antwort.

    „Hast du es bei dir?"

    „Was?"

    „Das Medaillon."

    „Ja."

    „Zeig es noch mal."

    „Jetzt?"

    „Ja."

    Julia blieb stehen und zog das Medaillon mit einem Seufzer aus ihrer Jackentasche. Es war rund, golden und mit allerlei Motiven und Schriftzügen verziert. Stunden hatten sie mit dem Versuch verbracht, es zu öffnen, doch es gab keine erkennbare Möglichkeit. Sie hatten es in alle Richtungen gedreht und nach Ritzen Ausschau gehalten, in die man einen Fingernagel hätte schieben können. Nichts. Das Medaillon war und blieb verschlossen. Was ihnen am Ende weitergeholfen hatte, waren die Gravuren auf dem Deckel. Kreise, Striche, Kreuze und Punkte. Eine Schrift, krakelig und völlig fremd, eine Sprache, die man nicht in der Schule lernte. Nicht Griechisch, nicht Hebräisch, nicht Arabisch. Trotzdem konnte Julia ihre Bedeutung verstehen. Jedenfalls teilweise: Die Engel leiten dich. Und: Seelenturm.

    Sie steckte das Medaillon zurück in die Jackentasche. Den Seelenturm, den Turm der Seelen, hatten sie gefunden. Was jetzt kam, was sie dort erwartete, stand in den Sternen.

    Sie setzten sich wieder in Bewegung und marschierten schweigend ein paar Meter.

    „Und was ist mit dem fürchterlichen Schwert?", fragte Eva dann.

    Julia spürte, wie ihr linkes Auge unwillkürlich anfing unkontrolliert zu zucken. Sie trug es bei sich, in dem großen Seesack, der über ihrer Schulter hing. Das fürchterliche Schwert.

    „Es wirkt ziemlich alt, oder?, fügte Eva hinzu. „Fast so, als käme es aus dem Mittelalter.

    „Vielleicht ist das Absicht. Julia schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: „Auf jeden Fall wollte Sten Kjaer mich damit umbringen. Für einen kurzen Augenblick sah sie die Bilder wieder vor sich, sah sich selbst, sah Kjaer, sah den Kampf mit ihm, bei dem sie ganz auf sich alleine gestellt gewesen war. Er hatte das Schwert. Sie hatte nichts. Und trotzdem hatte sie den Kampf gewonnen.

    „Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass ein Schwert die Seele seines Kriegers in sich trägt, bemerkte Eva. „Und manchmal auch die Seelen derjenigen, die durch das Schwert starben.

    „Wirklich? Das würde bedeuten, dass Kjaer jetzt auf meiner Schulter sitzt. Julia verzog das Gesicht. „Das würde mir gar nicht gefallen.

    „Wie auch immer. Du warst besser als er."

    „Ich weiß nicht, ob ich wirklich besser war. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur mehr Glück."

    Kurze Zeit später hatten sie den Turm erreicht.

    „Wir sind da. Gott sei Dank." Die Erleichterung in Evas Stimme war nicht zu überhören.

    Julia blickte nach oben und spürte, wie ihr Herz zu pochen begann. Sie senkte den Blick wieder und leuchtete mit der Taschenlampe den Eingang des Turms an. Dort verdichtete sich ihr Schein zu einer unruhigen Lache aus Licht. „Lass uns reingehen und es hinter uns bringen."

    Während sie die steilen Steintreppen hinaufstiegen, schien sich das Stöhnen des Windes auf einmal zu verändern. Jetzt hörte er sich plötzlich an wie ein altes Ungeheuer, das aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht war.

    „Mann, das ist wirklich unheimlich", murmelte Eva.

    „Es ist nur der Wind, sagte Julia. „Nur der Wind.

    Oben abgekommen befanden sie sich in zwanzig Metern Höhe und unter ihnen breitete sich ein lang gestrecktes weißes Tal aus. Die Häuser am Horizont waren kaum noch auszumachen, lediglich ein paar schwache Lichter waren durch die dichten Schneeflocken zu erkennen. Unheimlich und gleichzeitig wunderschön wirkte der Ausblick, wie aus der Wirklichkeit herausgelöst.

    Eva zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich. „Unter anderen Umständen würde ich Fotos machen und sie mir zu Hause an die Wand hängen. Sie steckte das Taschentuch zurück in die Jackentasche und sah sich um. „Also, wonach könnten wir hier suchen? Nach einer Notiz? Einer Botschaft?

    „Ich weiß es nicht. Ich … Julia stockte. „Hörst du das?

    „Was?"

    „Diese Melodie."

    „Was für eine Melodie?"

    Julia starrte Eva an. „Hörst du es denn nicht?"

    „Nein. Ich höre nichts, nur den Wind."

    Julia stand völlig starr. „Jetzt ist es wieder weg. Ist das dein Ernst? Du hast es wirklich nicht gehört?"

    „Nein, wirklich nicht."

    Langsam schüttelte Julia den Kopf. „Dann habe ich es mir wohl nur eingebildet. Ich bin ja im Moment auch nicht gerade berühmt für meinen klaren Verstand."

    „Was war es für eine Melodie?, wollte Eva wissen. „Hast du sie erkannt?

    „Nein, es war keine … bestimmte Melodie. Es klang so, als ob … Noch einmal schüttelte Julia den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe es mir wohl wirklich nur eingebildet.

    Einen Moment lang sah Eva sie prüfend an. Dann sagte sie: „Okay. Und was jetzt?"

    „Hm. Julia senkte die Taschenlampe und leuchtete den Boden ab. „Ich weiß nicht. Sie leuchtete die Wände ab. „Ich sehe hier beim besten Willen keine Stelle, an der man etwas verstecken könnte. Ich sehe nur festen Stein auf Stein."

    „Aber warum steht dann ‚Seelenturm‘ auf dem Medaillon?"

    „Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt."

    „Zeig es noch mal."

    „Was?"

    „Das Medaillon."

    Julia zog es erneut aus ihrer Jackentasche. Um es besser greifen zu können, zog sie dieses Mal die Handschuhe aus. Sofort traf die eisige Luft ihre nackten Finger und gleich darauf fühlten sie sich schon steif an.

    Und dann geschah etwas Merkwürdiges.  Etwas Unglaubliches. Etwas, was sie niemals geglaubt hätten, wenn sie es nicht selbst gesehen und erlebt hätten: Ein leises ‚Klick‘ war zu hören.

    „Hast du das auch gehört?", fragte Julia tonlos.

    Eva nickte. „Dieses Mal hab ich es auch gehört. Was war das?"

    „Das Medaillon. Ich glaube, der Mechanismus hat sich gerade bewegt."

    In der nächsten Sekunde sprang das Medaillon auf. Julia erschrak so sehr, dass sie es um ein Haar fallen gelassen hätte. „Ach, du …!  Sie starrte auf das geöffnete Schmuckstück. „Das ist … Es ist ein Kompass! Die Nadel zeigt nach Norden. Sie hob den linken Zeigefinger und deutete in die Richtung, in die die Nadel zeigte. „Da. Da vorne muss es sein."

    „Was?", fragte Eva.

    „Das Ziel. Offenbar war der Turm nur eine Zwischenstation." Julia setzte den Seesack ab, öffnete ihn, holte ein Fernglas heraus und hielt es an die Augen.

    „Siehst du etwas?", fragte Eva nach ein paar Sekunden.

    „Nichts. Nur Bäume. Nein, warte … da ist ein Haus! Das könnte es sein."

    „Was meinst du, wie weit es bis dahin ist?"

    „Schwer zu sagen. Ungefähr einen Kilometer."

    „Na dann … Eva war schon an der Treppe. „Los!

    Es wurde ein beschwerlicher Marsch.

    Ein wirklich beschwerlicher Marsch.

    Sie kamen nur mühsam voran, bewegten sich wie zwei Zombies, fielen mehr als einmal fast über ihre eigenen Füße, und die Stöße des eisigen Windes, die weiter unablässig in ihre Gesichter peitschten, waren am Ende kaum noch zu ertragen.

    Doch schließlich erreichten sie das Haus. Ein nicht sehr großes, schmuckloses Gebäude, das alt und schief war, und offenbar nie einen Tupfer Farbe gesehen hatte.

    „Hier möchte ich nicht wohnen, schnaufte Eva. „Hier ist ja weit und breit nichts. Sie wollte weitergehen, doch Julia griff nach ihrem Arm, um sie daran zu hindern.

    „Was ist?"

    „Die Tür ist offen."

    Eva runzelte die Stirn. „Was kann das bedeuten?"

    „Es bedeutet, dass du erst einmal hier stehen bleibst. Julia griff nach ihrer Pistole. „Ich meine es ernst, Eva. Du bleibst genau hier stehen und bewegst dich nicht von der Stelle.

    Als Eva nickte, setzte sie sich in Bewegung. Pistole und Taschenlampe im Anschlag, drückte sie mit der Schulter die Tür auf und betrat das Haus.

    Es schien niemand da zu sein. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe sah Julia jedoch, dass der Raum, der offenbar als Wohn- und Esszimmer diente, völlig verwüstet war. Die Möbel waren zerbrochen, Regale umgekippt, die Holzböden teilweise herausgerissen, die Schränke auseinandergenommen.

    Wer immer hier gewütet hatte, hatte wirklich alles zerstört.

    Vorsichtig machte Julia einen weiteren Schritt in das Haus hinein. Es war so kalt, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte. Vor ihr auf dem abgenutzten Teppichboden befand sich etwas, das aussah wie Erbrochenes, das festgefroren war. Sie machte zwei weitere Schritte, und während sie über eine zerbrochene Lampe stieg, nahm sie aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde ein hässliches Gemälde mit Engeln wahr, das an der Wand hing. Es bestand aus fürchterlich bunten Farben und die Engel wirkten wenig Vertrauen einflößend. Das Einzige hier drinnen, was nicht zerstört worden war.

    Es war wirklich nur der Bruchteil einer Sekunde, und vielleicht hätte Julia mehr darauf geachtet, wenn sie nicht im nächsten Moment mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe die gegenüberliegende Wand angeleuchtet – und Eva, die in der Tür stand, nicht aufgeschrien hätte.

    Aus Evas Gesicht war alle Farbe gewichen. Zitternd lehnte sie sich an den Türrahmen.

    Julia hätte das auch gerne getan, aber da wo sie stand, gab es nichts zum Anlehnen. Was sie sah, drehte ihr den Magen um: Ein toter Körper, der offensichtlich an die Wand genagelt worden war. Der Körper eines Mannes. Er hing dort, mit ausgebreiteten Armen, wie Jesus am Kreuz, und seine offenen Augen starrten ins Leere.

    Eva begann zu husten und hektisch in der Jackentasche nach ihrem Asthmaspray zu suchen.

    Julia sah sie an. „Kriegst du einen Anfall?"

    Husten und Röcheln war alles, was sie zur Antwort bekam. Evas Kopf war jetzt nicht mehr blass, sondern hochrot. Als sie das Spray gefunden hatte, umklammerte sie es mit beiden Händen und inhalierte tief. Dann überfiel sie ein weiterer Hustenanfall, und einen Moment lang dachte Julia, Eva würde ersticken, aber dann bekam sie sich wieder in den Griff. Das Röcheln blieb, aber der Atem wurde wieder gleichmäßiger. Noch einmal inhalierte sie. Dann setzte sie an: „Waren das …? Das waren die … Kraniche, oder? Nur die Kraniche können … so etwas tun!"

    Julia antwortete nicht darauf. Sie machte einen Schritt auf die Leiche zu und blieb dann wieder stehen. Sie wusste, dass sie sie nicht berühren durfte, ebenso wie sie aus ihrer Erfahrung als Polizistin wusste, dass dieser Mann schon lange tot war, dass er schon seit vielen Stunden so an der Wand hing und dass hier nichts mehr zu machen war. Ebenso wie sie wusste, dass sie so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden mussten. Trotzdem machte sie noch einen weiteren Schritt und stellte fest, dass sich der erste Eindruck bestätigte: Der Mann war tatsächlich an die Wand genagelt worden. In seinen Händen steckten große Zimmermannsnägel. Zuvor allerdings hatte er noch eine Kugel in die Stirn bekommen. Aus dieser rann ein dünner Blutfaden, der zu glitzernden Eiskristallen gefroren war.

    „Wir müssen die Polizei rufen", sagte Eva.

    „Nein, gab Julia zurück. „Wir müssen von hier verschwinden.

    „Julia, wir können doch nicht …!"

    „Wir können nichts mehr für ihn tun."

    „Mag sein. Trotzdem kommt es mir nicht richtig vor, einen Mann zurückzulassen, der an die Wand genagelt wurde wie Jesus Christus."

    Julia ging zu Eva, fasste sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. „Wir können nichts mehr für ihn tun. Und wenn das tatsächlich die Kraniche waren, dann sollten wir uns auf gar keinen Fall länger als nötig hier aufhalten."

    Damit griff sie nach Evas Hand und zog sie mit sich aus dem Haus.

    2. KAPITEL

    „Kennen Sie die Geschichte vom Hörnermann?"

    Norwegen

    Noch lange danach würde Edda Holmen sich an diesen frühen Abend erinnern. Ebenso, wie sie die vergangenen Tage nicht vergessen würde. Mitte Dezember hatte eine bittere Kälte eingesetzt und die Temperaturen waren immer weiter gefallen. Dann, vor drei Tagen, stiegen die Temperaturen wieder bis auf null Grad an und brachten starke Schneefälle über das Land. Eine Schicht Schnee fiel auf die nächste, sodass die Räumdienste in Dauerbetrieb inzwischen für einen zwei Meter hohen Haufen gefrorenen Schnees an den Straßenrändern gesorgt hatten.

    So hatte der Winter auch an diesem frühen Abend alles fest im Griff. Auch Eddas Peugeot, der wirklich nicht zu den neuesten Errungenschaften der Welt gehörte. Während der Wind die dichten Schneeflocken gegen die Windschutzscheibe trieb, war die Heizung mal wieder ausgefallen. Die Scheiben beschlugen ständig und sie musste mehrmals mit einem Taschentuch eine freie Sichtfläche wischen, während sie dem schmalen Band folgte, das einer der Schneepflüge auf der Straße hinterlassen hatte. Da sie keine Handschuhe trug, waren ihre Hände schon ganz taub und ihre Füße prickelten schmerzhaft. Zu all dem kam noch, dass die Helligkeit der Scheinwerfer nicht so total war wie sonst, es war eher eine Art Dämmerlicht, hell an den Rändern und in der Mitte nichts als weiße Flocken.

    Edda stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie war müde. Sie wollte ins Warme. Sie wollte sich in die Badewanne legen, auftauen und irgendwie zur Ruhe kommen. Den Plan, sich an den Computer zu setzen und zu arbeiten, den sie am Morgen noch geschmiedet hatte, verwarf sie wieder. Darauf verspürte sie nicht mehr die geringste Lust.

    Als sie zehn Minuten später endlich vor dem bescheidenen Haus ihres Onkels anhielt, dessen Zufahrt ebenfalls hinter einem meterhohen Schneehaufen verborgen lag, atmete sie erleichtert durch.

    Kaum hatte sie den Wagen verlassen, peitschte ihr ein eiskalter Wind ins Gesicht. Ein weiterer Windstoß riss ihr die Jacke auf und ließ sie bis ins Mark frösteln. Frierend und bibbernd zog Edda den Reißverschluss der Jacke zu und eilte zum Haus. So schnell es ihr mit ihren tauben Fingern möglich war, schloss sie auf, und als sie eintreten wollte, erfasste der Wind die Tür und knallte sie gegen die Innenwand. Eilig griff sie nach der Tür und schloss sie hinter sich.

    Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft, es herrschte vollkommene Stille.

    Während sie sich auf den direkten Weg ins Badezimmer machte, zog Edda die Jacke aus. Vor dem Waschbecken blieb sie stehen, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Dann drehte sie den Hahn auf und hielt die eiskalten Hände unter heißes Wasser. Schließlich setzte sie sich auf den Toilettendeckel und rieb sich über die brennenden Augen. Die Müdigkeit ergriff immer weiter von ihr Besitz. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie das Baden verschieben, sich stattdessen einen Tee kochen und ins Bett legen.

    Sie erhob sich wieder, verließ das Badezimmer und ging in die Küche. Licht machte sie keins an, das Licht der Laterne vor dem Fenster genügte. Sie ließ gerade Wasser in einen Topf laufen, als plötzlich das Licht anging.

    Mit einem Ruck drehte sie sich um und machte erschrocken einen Satz zurück. „Jesus Christus! Was in aller Welt machst du hier?"

    „Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken."

    „Betrachte mich als zu Tode erschreckt." Eddas zitternde Hand lag auf ihrem klopfenden Herzen. „Du kannst doch nicht einfach hier herumschleichen wie ein Gespenst! Warum hast du nicht gleich auch noch Huh! geschrien?"

    „Entschuldige", sagte Susanne noch einmal.

    „Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?"

    „Ich habe einen Schlüssel, schon vergessen? Jo hat ihn mir gegeben, bevor ich nach Deutschland geflogen bin."

    „Oh, ja. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Mensch, Süße … Komm, lass dich umarmen. Edda legte die Arme um Susannes Hals und drückte sie herzlich. „Ich bin wirklich froh, dich zu sehen, auch wenn ich das nächste Mal eine andere Begrüßung vorziehen würde. Seit wann bist du schon hier?

    „Seit etwa einer Stunde. Susanne erwiderte die Umarmung. „Ich hab geklopft, aber es hat niemand aufgemacht. Also bin ich rein und hab gewartet. Noch einmal: Entschuldigung.

    Edda ließ sie wieder los und betrachtete sie einen Moment lang. „Wieso hast du nicht vom Flughafen aus angerufen und Bescheid gegeben, dass du wieder in Norwegen bist?"

    „Ich hab‘s versucht, aber die Leitung war tot."

    „Wirklich? Edda ging in den Flur und hielt sich den Telefonhörer ans Ohr. „Tja. Hm. Muss am Wetter liegen.

    „Ich war schon froh, dass ich überhaupt noch einen Flug bekam, sagte Susanne. „Hübscher Baum übrigens.

    „Was für ein Baum? Was meinst du?"

    „Den Christbaum im Wohnzimmer."

    „Oh. Ja, der. Er ist riesig. Ich frage mich, wie Jo es schaffte, den Baumschmuck an den oberen Zweigen anzubringen. Edda betrachtete Susanne noch einmal ausgiebig. „Deine Verwandlung irritiert mich immer noch. Als Susanne, die Punkerin, hab ich dich kennengelernt, und an Claudia Müller, die elegante Geschäftsfrau, hab ich mich noch nicht gewöhnt.

    „Ich hab mich selbst noch nicht daran gewöhnt. Susanne ließ sich in der Küche auf einen Stuhl sinken. „Vermutlich werde ich das auch nie. Aber jetzt sag mir bitte, wie geht es Jo?

    Edda griff wieder nach dem Topf, in den sie vorhin Wasser hatte laufen lassen. „Er liegt im Krankenhaus."

    „Ja, das sagtest du bereits am Telefon. Auch, dass er einen Herzinfarkt hatte. Ich wollte aber wissen, wie es ihm inzwischen geht?"

    Edda stellte den Topf auf eine Herdplatte, schaltete sie ein und drehte sich wieder zu Susanne um. „Die Ärzte hoffen, dass er bald wieder aufwacht. Wir müssen einfach abwarten. Sie griff nach zwei Tassen. „Aber natürlich wird er wieder aufwachen. So boshaft ist Gott nicht. Er wird mir Jo nicht wegnehmen. Jo wird ewig leben.

    „Natürlich wird er das."

    Das Licht begann zu flackern. Beide sahen hinauf zur Deckenlampe.

    „Das hört gleich wieder auf, sagte Edda. „Liegt auch am Wetter.

    „Du hast am Telefon gesagt, er hätte es heraufbeschworen. Wie hast du das gemeint?"

    Edda hob die Hände in die Höhe. „Ich glaube, er hat auf eigene Faust Nachforschungen angestellt. „Nachforschungen? Was für Nachforschungen?

    „Über Sofie Dale."

    „Wer ist das?"

    Es dauerte zwei oder drei Sekunden, dann begann Edda zu erzählen…

    48 Stunden zuvor.

    Hätte Jo Holmen die Kneipe nur ein klein wenig früher wieder verlassen, dann wäre er Claas Mok gar nicht mehr begegnet. Hätte er sich nicht noch ein Bier bestellt und wäre nicht noch etwas sitzen geblieben, dann wäre vermutlich alles ganz anders gekommen. Hätte er die Kneipe an diesem Abend erst gar nicht betreten, sondern wäre zu Hause in seinem Bett geblieben, ja, dann wäre ihm einiges erspart geblieben.

    Aber es war Jos chronischer Schlaflosigkeit zu verdanken gewesen, dass er an jenem Abend noch einmal aus dem Bett gestiegen und in die Kneipe gegangen war. Dort hatte er zwei Bier getrunken. Und das hätte es sein sollen. Er hätte wieder gehen sollen. Aber da das Schicksal dem Menschen immer einen Schritt voraus ist, hielt es just an diesem Abend etwas für Jo bereit.

    Er war also sitzen geblieben und hatte sich noch ein drittes Bier bestellt. Als die Tür geöffnet wurde, hatte er den Kopf gehoben und beobachtet, wie ein Mann hereinkam, der Prototyp eines lieben, älteren Onkels: Anfang sechzig, mit vollkommen weißen Haaren, rotgesichtig und mit einem nicht zu übersehenden Bäuchlein unter dem viel zu dünnen Mantel. Der Mann war so unscheinbar, dass niemand sonst in der Kneipe Notiz von ihm zu nehmen schien. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und sah sich dann um. Es war kein Tisch mehr frei, aber gleich neben Jo stand noch ein leerer Stuhl.

    Der Mann kam auf ihn zu. „Ist der hier noch frei?" Er hatte eine sonore Stimme und sprach leise.

    Jo nickte und forderte ihn mit einer Geste auf, neben ihm Platz zu nehmen.

    Nachdem der Mann den Stuhl herangezogen und sich gesetzt hatte, fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. Dann bestellte er Wodka beim Wirt, ehe er in Jos Richtung sagte: „Furchtbares Wetter."

    „Ja."

    „Das wird ein weißes Weihnachten."

    „Ja."

    Schweigen.

    Dann: „Mein Name ist Claas Mok."

    „Jo Holmen."

    Der Wirt brachte den Wodka.

    Dann folgte wieder Schweigen.

    Sie saßen einfach nur da und starrten in ihre Gläser.

    Schließlich sagte Mok: „Ich schätze, ich geh langsam meinem Ende entgegen."

    Jo sah auf.

    „Ich rede vom Tod, mein Freund. Mok drehte das Wodkaglas zwischen seinen Fingern. „Davon, dass ich meinem Ende entgegengehe.

    „Na ja, meinte Jo, „das tun wir alle.

    „Ja, das ist wohl richtig. Mich bestürzt nur, dass ich jetzt ein alter Mann bin und es nicht geschafft habe."

    „Was?"

    „Das ist eine lange Geschichte."

    „Ich hab Zeit."

    Mok betrachtete Jo einen Moment lang. „Wollen Sie es wirklich wissen?"

    „Ja."

    „Also, wenn Sie es wirklich wollen … Mok hielt den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe, „dann brauchen wir mehr Wodka. Er winkte dem Wirt und bestellte eine ganze Flasche.

    Der Wodka brannte in Jos Kehle, lief langsam seinen Körper hinab, bis er sich irgendwo in seinem Magen wie eine glühende Kugel entfaltete.

    „Sind Sie verheiratet?", fragte Mok.

    „Nein."

    „Also haben Sie auch keine Kinder."

    „Nein. Aber ich hab eine Nichte. Edda."

    „Sie hängen an ihr?"

    „Ja."

    „Ja. Natürlich. Mok beugte sich nach vorne. „Vielleicht ist das die größte Herausforderung unseres Lebens. Die zu beschützen, die wir lieben.

    „Vielleicht." Jo wartete ab, worauf das hier hinauslief.

    Mok lehnte sich wieder zurück. „Ich bin verheiratet. Seit einunddreißig Jahren. Ich habe eine Tochter, auf die ich sehr stolz bin und die ich sehr liebe. Und natürlich liebe ich auch meine Frau."

    „Natürlich. Was wollten Sie erzählen?"

    „Genau. Der Fall, den ich nie lösen konnte. Mok nickte langsam. „Es war 1995. Das Mädchen hieß Sofie Dale. Es war siebzehn Jahre alt, als es spurlos verschwand.

    Jo zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber.

    „Sofie lebte in Ålesund, redete Mok weiter. „Bei ihren Pflegeeltern. Ich war damals einer der ermittelnden Beamten. Wir haben nach dem Mädchen gesucht, es aber nicht gefunden. Irgendwann wurde die Suche eingestellt und alle Versuche, sie später noch einmal aufzunehmen, wurden abgewiesen. Mok hob den Blick und sah Jo in die Augen. „Noch heute bin ich verbittert darüber, wie es damals gelaufen ist, aber andererseits macht mich genau das noch sicherer."

    „Sicherer worin?"

    „Dass ich Sofies Entführer kenne. Nein, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, wer sie sind."

    „Wer?"

    Mok verengte die Augen etwas. „Kennen Sie die Geschichte vom ‚Hörnermann‘?"

    Jo, der immer noch nicht wusste, wohin das hier führte, sagte: „Jeder Norweger kennt die Geschichte. Der Hörnermann war ein finsterer Geselle, ein Teufel, der irgendwo auf einem Berg wohnte und fand, dass es zu viele gute Menschen auf der Welt gäbe und dass man etwas dagegen tun müsse. Also zog er sich eine gut organisierte Armee heran, die damit begann, alles auszulöschen, was dem Hörnermann nicht in den Kram passte. Damit war vor allem das Gute gemeint. Er wollte das Gute ausrotten."

    Mok seufzte. „Ja, das ist die Geschichte."

    „Und was hat das mit Sofie Dale zu tun?"

    „Eine kluge und berechtigte Frage. Mok sah Jo wieder in die Augen. „Was, wenn es den Hörnermann tatsächlich gäbe?

    „Nehmen Sie mich gerade auf den Arm? Das ist eine uralte Legende, weiter nichts."

    „Das denken Sie. Sagt Ihnen der Name ‚Zaren‘ etwas?"

    „Nein. Wer soll das sein? Ein Russe?"

    „Kein Russe. So nennen sie ihn."

    „Wer? Wer nennt ihn so?"

    Mok griff wieder nach seinem Glas und trank einen Schluck Wodka. „Wann sind Sie geboren, Jo?", wollte er wissen, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte.

    „1946."

    „Da war der Krieg schon vorbei."

    „Ja."

    „Dann haben Sie die Nazis nicht mehr kennengelernt."

    „Nein." Allmählich stellte Jo sich ernsthaft die Frage, ob der Mann nicht ein bisschen durcheinander war. Vielleicht hatte er zu Hause schon Wodka getankt. Reichlich Wodka.

    „Ich hab 1972 bei der Polizei angefangen, sprach Mok indessen weiter, „und in den Jahren habe ich unzählige Schicksale gesehen. Ich habe Jahre damit verbracht, im Dreck und Elend anderer Leute rumzuwühlen. Aber nichts und niemand hat mich so sehr mitgenommen wie der Zaren.

    „Aber warum?, fragte Jo. „Wer ist das?

    „Der Zaren ist der vermutlich gefährlichste Mensch auf dieser Erde. Ich hab es leider nicht geschafft, ihn aufzuspüren und auszuschalten. Weil es verdammt noch eins nie auch nur einen einzigen Beweis gab. Ich weiß, dass es ihn gibt, aber der Mann ist total … verschwommen. Ein Schatten, ein Gespenst. Man kommt nicht an ihn heran, so sehr man es auch versucht."

    Jo richtete sich etwas auf. „Wie kommen Sie darauf, dass er der gefährlichste Mensch auf dieser Erde ist, wenn man doch nichts über ihn weiß?"

    Mok lächelte dünn. „Vielleicht beflügelt er gerade deshalb so sehr meine Fantasie. Wenn ich ihn mir vorstelle, dann sehe ich eine Fantasiefigur vor mir, ungefähr so, wie wir ihn als Kinder in den vielen Comics gesehen haben: Hut bis über die Augen, schwarzer Mantel bis zum Boden und ein Gesicht mit dämonischen Zügen. Trotzdem ist er keinem Comic entsprungen. Er ist ganz real und niemand, niemand, hat so viele Menschen auf dem Gewissen wie er."

    Sie sahen sich an.

    „Ich bin davon überzeugt, dass die Männer des Zaren Sofie entführt haben", redete Mok weiter.

    „Die Männer …?"

    „Sein Heer, seine Streitmacht. Genau wie beim Hörnermann. Sie nennen sich ‚Kraniche‘."

    Jo begann, in seinen Taschen nach einer Zigarette zu suchen.

    Mok beugte sich wieder nach vorne. „Während meiner Jahre bei der Polizei sind unzählige Menschen verschwunden, die nie wieder auftauchten. Auch nicht ihre Leichen. Und interessanterweise immer nur Menschen, die niemand vermisste oder über deren Verschwinden sich niemand Gedanken machte. Obdachlose, zum Beispiel. Von heute auf morgen, einfach weg. Und nie wieder aufgetaucht."

    „Und Sie meinen, diese Menschen wurden alle von den Kranichen entführt?"

    „Ja."

    „Sofie Dale auch?"

    Mok nickte.

    „Aber warum? Warum sollten diese Vögel Menschen entführen? Wozu?"

    „Hmmm, brummte Mok. „Das weiß ich eben nicht. Aber ich weiß, dass ich recht habe.

    Jo blickte skeptisch.

    „Ich verstehe, dass Sie Vorbehalte haben, setzte Mok hinzu, „aber glauben Sie mir, ich bin kein Spinner. Ich bin alt und erschöpft, aber kein Spinner. Leider kann ich es nicht mehr beenden, denn ich werde bald tot sein. Er drehte den Kopf und seine Augen streiften in der Kneipe umher, so als suche er diesen Mann, den er „Zaren nannte, zwischen den anderen Gästen. Dann sah er Jo wieder an. „Der Zaren muss ausgeschaltet werden. Er ist ihr Gehirn. Wenn es ihn nicht mehr gibt, dann gibt es auch die Kraniche nicht mehr.

    Irgendwo in Susanne kreischte etwas. Sie versuchte, ihre Zunge dazu zu bringen, Worte zu bilden, aber sie war zu spröde, bewegte sich nur klickend in ihrem Mund. Es brauchte ein paar Anläufe, ehe sie sagen konnte: „Mein Gott, Edda … Wenn dieser Mok tatsächlich auf den Spuren der Kraniche war …" Sie brach ab.

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