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Gesetz des Menschlichen
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eBook345 Seiten5 Stunden

Gesetz des Menschlichen

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Über dieses E-Book

Ausgehend von einem Terroranschlag in Kopenhagen beleuchtet der Thriller "Gesetz des Menschlichen" die diplomatische Szenerie in Dänemark und Griechenland: Nach einem verwüstenden Terroranschlag mitten im Zentrum von Kopenhagen wird der dänische Diplomat Carl Bernstein nach Athen versetzt. Dort begibt sich Bernstein in den Sog komplexer und ineinander verflochtener Ereignisse, die ihn vor den Abgrund seiner eigenen Vergangenheit führen. – Eine tiefgründige und fesselnde Geschichte, die spirituelle Ansätze, detaillierte Skizzen der menschlichen Psyche, sowie gegenwartsrelevante Brennpunkte miteinander verbindet. Lesenswert!AUTORENPORTRÄTJakob Vedelsby ist ein dänischer Schriftsteller, der 1965 geboren wurde und in Kopenhagen lebt. Vedelsby studierte Film und Medien in Kopenhagen bevor er als Journalist und Dokumentarfilmer arbeitete und später Romane schrieb. Bislang hat er fünf Romane veröffentlicht und ist Vorsitzender der Belletristik-Gruppe der dänischen Schriftstellervereinigung. REZENSION"GESETZ DES MENSCHLICHEN ist gut geschrieben – die Sprache fließt und glitzert und macht großes Vergnügen. Der Roman gewinnt geradezu visionäre Züge, die man als brillant bezeichnen muss... fantastische Sprache, pure Lesefreude."Peter Grarup Westergaard , Kristeligt Dagblad-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Feb. 2016
ISBN9788711477472
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    Buchvorschau

    Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby

    Riis

    1

    „Das Gesetz des Menschlichen bedeutet, dass das Leben wie ein Labyrinth wirkt, mit Sackgassen und verschlossenen Türen. Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren.... Das Radiosignal verschwindet mit einem Zischen, wie wenn ein Haar zu Asche verbrennt. „Verdammt, murmelt der Chauffeur und klopft mit dem Finger gegen die blau leuchtende, in Mahagoni eingearbeitete Stereoanlage des Wagens.

    „Nimm dich zusammen, wir müssen Carl Bernsteins Freundin hören, sie ist scheißunterhaltsam...", sagt der Minister und lacht mit zuckenden Schultern.

    „Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir zu lösen versuchen."

    „Ich bin’s nicht, mit dem etwas nicht stimmt", sagt der Chauffeur fast unhörbar.

    „Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir ..."

    „Schalte ab, zum Teufel!" ruft der Minister.


    Ich begnüge mich damit zu lächeln. Ich werde dem Schafskopf nicht noch einmal erzählen, dass Kassandra eine Freundin aus alten Zeiten ist, nicht meine Geliebte. Sie ist lesbisch. Um Himmels Willen. Oder zumindest bi. Ich fasse die Tasche fester und registriere den Duft frisch gegerbten Leders, ein Geschenk von Kassandra, handgearbeitet, ein persönliches Mitbringsel aus Nepal. Man muss aufpassen, wenn der Minister seine gute Laune hat. Die Jovialität pflegt irgendwann zu verebben, und bevor man sich versieht, sitzt man in der Patsche und muss sich in einem der improvisierten Konflikte verteidigen, in die er seine Beamten bringt. Seine nächste Bemerkung könnte sehr gut lauten: ’Warum in aller Welt sollte ich Interesse daran haben, deine Freundin im Radio zu hören?’ – oder: ‚Machst du dich etwa über mich lustig?’. Aus seiner Sicht ist es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ein Emporkömmling wie ich sich nicht zu sicher im Sattel fühlt. Er muss es mir schwer machen und mir demonstrieren, dass der diplomatische Dienst seinen Preis hat, und dass dieser so teuflisch hoch ist, dass nur die Tüchtigsten, Widerstandsfähigsten und Gewissenlosesten durch das ultimative Nadelöhr dringen und den ersehnten Botschafterposten erhalten. Ich habe das Zeug dazu, aber das weiß der Psychopath neben mir nicht.

    „Jetzt ist es völlig tot, sagt der Chauffeur und drückt auf den Knöpfen des Radios herum. Er landet auf einem anderen Kanal, und rhythmisch hämmernde Popmusik trifft uns von allen Seiten, als wären wir Soldaten im Kreuzfeuer. Noch bevor er abschalten kann, ruft der Minister schon: „Das bist du auch, wenn du nicht gleich ausschaltest!

    „Sorry. Ankunft in 25 Sekunden", sagt der Chauffeur nach unten gebeugt in das Mikro an seinem Handgelenk.

    Einmal Soldat, immer Soldat, denke ich und mustere seinen Stiernacken mit den fünf Speckfalten.

    „Es ist lebenswichtig, dass du dich diesmal an alles erinnerst, Legationsrat Bernstein. Wenn wir den Außenpolitischen Ausschuss heute verlassen, ist die Sache gestorben, hast du verstanden?" sagt er in scharfem Ton, ohne mich dabei anzusehen.

    Ich kenne ihn jetzt schon etliche Jahre, aber wir hatten noch nie Augenkontakt. Das wäre zu persönlich, eine Geste, die zweifellos seiner Familie vorbehalten ist – zur Zeit bestehend aus einer zweijährigen Tochter und Ehefrau Nummer drei. Gerüchten zufolge hat er sich mit den Vorgängerinnen überworfen und sieht seine älteren Kinder nicht. Er steht auf hübsche Frauen, Typ Model, die erheblich jünger sind als er. Auch an Kassandra hat er Interesse gezeigt. Sie ist vierzig, sieht aber aus wie dreißig. Man würde nicht darauf kommen, dass sie zuhause zwei achtzehnjährige Söhne hat. Der Minister hat sie einmal in einer Frauenzeitschrift gesehen, in der sie nackt zwischen Birken am Waldrand fotografiert war. Das lange Haar schwebte um ihre Brüste wie schwerelose Seide.

    Ich habe den Minister studiert. Seine Augen hinter den randlosen Brillengläsern sind wässerig, und im Weißen des Augapfels haben sich gelbe Talgablagerungen angesammelt, miteinander verbunden durch dünne, rote Äderchen. Unter den Augen Tränensäcke, auf den Wangen wahre Landschaften aus kleinen, geplatzten Adern. Seine Zähne sind strahlendweiße Implantate, wie sie sie in Hollywood und Washington verwenden. Jetzt springt er aus dem Wagen und ist, mit zwei Sicherheitsbeamten auf den Fersen, schon auf halbem Weg die Treppe hoch, während ich mich noch abmühe, mit der Tasche und einem Stapel von Papieren aus dem Wagen zu kommen. Er öffnet die Tür zum Parlamentsgebäude, Schloss Christiansborg, und trommelt hart gegen die Holztäfelung. Ich beeile mich, ihn einzuholen.

    „Was hat sie noch gleich gesagt, bevor der Idiot da am Radio gefummelt hat? Sein Blick streift den Chauffeur, der gerade auf seinem Handy telefoniert. „War das nicht irgend so ein idealistischer Blödsinn von Gemeinschaft, einem neuen Gesetz?

    „Ich habe es nicht gehört, er hat ja abgeschaltet", murmele ich und schlüpfe hinein. Ich folge dem Minister, vorbei am Wachlokal, hin zur Treppe zum ersten Stock.

    „Das Gesetz des Menschlichen, das war es. „Was zum Teufel ist das? lacht er. „Ich muss sehen, dass ich das durch das Parlament bringe, dann werden wir alle richtige Menschen und gehen in Rente und lassen Dänemark auf dem großen Meer der Gemeinschaft vom Stapel laufen."

    Das Lachen des Ministers geht in einen kratzenden Raucherhusten über. Er schluckt Schleim, runzelt die Augenbrauen. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse in den wenigen Sekunden, die wir brauchen, die steile Treppe hochzusteigen. Nun schweigt er, ist außer Atem.

    Der Minister verfügt über eine bemerkenswerte Fähigkeit, Dinge zu verdrängen. Er ist damit so zufrieden, dass er sie an seine Kinder weitergegeben hat. Es sei die beste Gabe, die er seinen Nachkommen hinterlassen habe, hat er in einem doppelseitigen Porträt in einer Sonntagszeitung erklärt. Es vergeht keine Woche, in der er nicht in den Medien ist. Die Journalisten lieben seinen brutalen Charme, und er ist klar und verständlich in seiner Sprache, dank effektiver Hilfe seiner Pressereferentin und Medienberaterin, deren Rolle er offiziell verachtet.

    Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er gerade jetzt, aufgrund etlicher Minuten mangelnder Nikotinzufuhr, auf einer hauchdünnen Grenze zwischen echter Neugier und einem Ausbruch von Gereiztheit mit unvorhersehbaren Konsequenzen balanciert. Ich schweige, ich darf meine Konzentration nicht verlieren, nicht weitere Fehler begehen. Mein Schnitzer im Außenpolitischen Ausschuss kürzlich, als ich ihm eine falsche Information gab, was dazu führte, dass die Opposition ihn in den Medien als Lügner bezeichnete, haftet wie eine ansteckende Krankheit an mir. Die Kollegen im Außenministerium meiden mich. Ich würde das gleiche tun, denn Fehler sind das größte denkbare Tabu in einer Nullfehlerkultur. Seitdem bin ich unter verschärfter Aufsicht, im System hoch angesiedelte Schlüsselpersonen sind tief enttäuscht von mir, und alle wissen, dass der weitere Verlauf meiner künftigen Karriere bedeutend weniger klar vorgezeichnet ist. Wenn er denn in den Augen anderer überhaupt jemals klar vorgezeichnet gewesen war. Es gibt da ganz sicher immer einen Kollegen, der auf dem Sprung ist, den Platz von einem zu übernehmen. Noch ein Fehler, und ich ende meine Tage als Fachberater oder so etwas in der Richtung, wie die anderen bitteren Schicksale, die das System aussortiert. Es sei denn, man bewirbt sich an anderer Stelle, weg vom Außenministerium, und versucht sein Glück dort. Mit diesem Gedanken spiele ich allerdings nicht mehr. Ich bin inzwischen zweiundvierzig und nähere mich Schritt für Schritt dem Ziel, das, so predigen alle, so gut wie unerreichbar ist. Ich muss noch ein Jahr in Kopenhagen die Zähne zusammenbeißen, dann für drei bis vier Jahre in die Welt hinaus und wieder nach Hause auf einen Posten als ‚Stellvertretender Abteilungsleiter’. Wenn alles gut läuft, werde ich nach einem weiteren halben Jahr per Ernennung durch die Königin zum ‚Vortragenden Legationsrat Erster Klasse’ und damit zum Beamten ernannt, und dann ist der Weg frei zum heiligen Botschafterposten. Amen. Ich habe immer gesagt, dass ich das erreichen will, bevor ich 50 werde. Dann wird auf die dreißig Jahre Schufterei bis zur Bewusstlosigkeit in den nächsten zwanzig Jahren ein gut bezahlter Traumjob folgen. Dann werden die Früchte eines unmenschlichen beruflichen Einsatzes reichlich geerntet werden. Bei diesem Gedanken fühle ich mich, als würde ich schweben, aber nur für kurze Zeit. Ich wage nicht, ihn zu Ende zu denken.

    Irgendetwas stimmt nicht. Die Leute um mich herum führen sich auf wie ferngesteuerte Roboter. Sie kommen aus ihren Büros, bewegen sich mechanisch auf dem Gang herum und halten Handys an die Ohren gedrückt. Sie ähneln verängstigten Hühnern, laufen gegen Wände und gegeneinander, gackern in die kleinen Apparate hinein.

    „Teufel auch! brüllt der Minister, als die Leibwächter vom PET, dem Polizeilichen Nachrichtendienst, ihn unter die Achseln fassen und mit ihm davonlaufen. „Das ist eine Notsituation, beeilen Sie sich, aus dem Gebäude raus zu kommen! ruft mir einer der Beamten zu.

    Ich bleibe mitten auf dem Gang stehen, und sehe sie die Treppe hinunter Richtung Notausgang verschwinden. Die Menschen um mich herum laufen in alle Richtungen. Da ist auch die Pressereferentin und Medienberaterin des Ministers, ihr strammer Hintern ist in einen eng sitzenden, kurzen Rock eingezwängt. Sie schlägt mit der flachen Hand auf ihr Handy.

    „Das Hotel Danmark ist in die Luft gesprengt worden, ruft sie im Vorbeilaufen, bleibt dann abrupt stehen und dreht sich um. „Oh Gott, Ihre Freundin! Ihr Mund öffnet und schließt sich, und sie tritt einen Schritt näher zu mir. „Ich hoffe nicht ... ich muss den Minister finden." Dann ist sie in der Menschenmenge verschwunden.

    Ich sehe das Redemanuskript des Ministers, mit dem ich heute Morgen ganz früh fertig geworden bin. Es schwebt auf den Boden zu, bekommt wieder Auftrieb und erhebt sich wie ein kraftvoller Schwanenkörper, bevor es gegen die Wand prallt und jäh zu Boden fällt. Ich sinke auf einen hellblauen Rokokostuhl an der Wand, betrachte die Uhr über der Tür zum Sitzungsraum des Außenpolitischen Ausschusses. Es ist 12.54 Uhr.

    Kassandras Radiosendung endet in sechs Minuten. Ich kann sie direkt vor mir sehen, wie sie vor den Panoramafenstern des Studios steht, die auf die Kopenhagener Seen hinaus gehen, sie hält ihren Mund dicht an das Mikrofon und lächelt dem Hörer zu, der in der Sendung telefonisch zu ihr durchgekommen ist. Das Studio befindet sich in einer Suite im zweiten Stock des neu gebauten Hotels. Sie beantwortet gerade seine Fragen. ‚Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren’, sagt sie, und dann dreht der Chauffeur am Autoradio, dann kommt die Information, dass ein technisches Problem aufgetaucht sei, dann Popmusik, dann Stille.

    Ich gleite hinein in den Strom von Menschen und komme hinaus in die Ridebane-Anlage hinter Schloss Christiansborg, suche mein Handy, es ist nicht in meiner neuen Tasche, die ist mir abhanden gekommen... hier habe ich es ja. Ich weiß nicht, warum ich zu laufen beginne, ich laufe ansonsten überhaupt nicht mehr. Ich würde gern wieder mit dem Laufen anfangen, ich hätte die Laufschuhe kaufen sollen. Meine glänzenden schwarzen Schuhe klicken auf der Straße, Jackett und Krawatte wehen beim Laufen. Jetzt stolpere ich und stürze mit meinen hundert Kilo und knapp zwei Metern schwer hin, mein rechter Arm schrammt über den Asphalt. Ich rappele mich wieder auf und laufe weiter, stürze zu einem Taxi und werfe mich auf den Rücksitz.

    „Hotel Danmark", sage ich.

    „Das geht nicht. Haben Sie nicht von der Explosion gehört?"

    „Ich zahle den doppelten Preis."

    Ganz tief in meinem Innern, wo immer das auch sein mag, weiß ich, dass ihr nichts passiert ist. Vielleicht ist es mein Unterbewusstsein, was diese Frage, die in meinem Kopf herumkreist, mit einem ‚Sie ist okay, ganz ruhig’ beantwortet. Jetzt biegt das Taxi auf die Busspur ein, und die lange Schlange von Autos verschmilzt zu einem einzigen zusammenhängenden Fahrzeug, das gegen den potenten deutschen Diesel keine Chance hat. ‚Sie ist ein Überlebenstyp, Carl’. Ich schaue auf meine Hände. Ich habe sie gefaltet. Wer verdammt noch mal ist das, der mir fortgesetzt sagt, Kassandra sei tot? Ist es meine Vernunft? Kassandra pflegt zu sagen, Vernunft ist eine Zwangsjacke, die jemand erfunden hat, um Kreativität und Schaffensfreude zu unterdrücken. ‚Stell dir vor, alle Menschen würden nach dem Sublimen streben?’ Kassandras Stimme ist in meinem Kopf, sie setzt mir zu, um mit meinen Träumen einen Kompromiss zu schließen, um Vernunft über Gefühl zu setzen, und wenn ich sage, dass mein Traum faktisch ein Job als Botschafter sei, glaubt sie mir nicht, denn ich sei zu etwas Größerem geschaffen. ‚Größeres?’ sage ich und sehe in die braunen Augen, die vor Erregung fast schwarz sind. ‚In meiner kleinen Welt wird es nicht größer als ein Botschafterposten’, sage ich, und sie lacht mich aus, meint, es mangle mir sowohl an persönlichem Ehrgeiz als auch an Ehrgeiz, etwas für die Welt zu tun, und sie fragt, ob es für mich noch etwas anderes gäbe, als nur materiellen Wohlstand anzuhäufen. Doch, ich möchte schon gern etwas leisten, was über die Eindrücke hinausgeht, die ich bei den Menschen hinterlasse, mit denen ich zu tun habe, aber ich weiß nicht, wie.

    „Ich hab’s doch gesagt, murmelt der Fahrer und zeigt auf die Polizeiabsperrung. „Jetzt sitzen wir fest.

    Ein durchdringender Gestank nach Chemie hängt in der Luft, und ich sehe die Ruine und den Rauch, die ein gespenstisches, zum Himmel gerichtetes Bauwerk bilden. Jetzt begreife ich, dass sie weg ist, verschwunden wie ein Haar, das zu Asche verbrennt.

    Ohne Kassandra bin ich nur ein halber, frei schwebender Mensch, ich taumele durch die Gänge, die Straßen, die Felder, die Wolken, fürchte den Hass und Groll der ganzen Welt, Messer und Kugeln, die Stürme von der blendenden Sonne, die Herden von Opfern in tristen Räumen ohne Notausgänge und alle kranken Schicksale, die freigiebig Hoffnungslosigkeit und Leid austeilen. Ohne Kassandra falle ich zu Boden. Jetzt falle ich.

    Als ich weggehe, sitzt sie am Frühstückstisch in ihrem weißen Bademantel und redet mit Robert und Albert. Ich schwenke meine neue Ledermappe und werfe ihr drei Kusshände zu. Heute ist mein Geburtstag. Sie haben mich mit Gesang und frisch gebackenen Milchbrötchen, Ei, Schinkenspeck und Mangosaft geweckt. Wir sehen uns an, während sie langsam ihre Hand zum Mund führt. Jetzt zischt eine Kusshand heran, wie eine Feuerfliege in der Nacht, und ihr Blick verschwindet in den Himmel über Kopenhagen.

    Ich begegnete Kassandra während des Jurastudiums. Anfangs glaubte ich, aus uns beiden sollte etwas Festes werden, aber sie hatte andere Pläne. Kassandra war alles, was man sich wünschen konnte. Schnell, lustig, liebevoll, warm, großherzig, originell, hübsch. Ihresgleichen gab es nur eine. Ich glaubte schon, dass sie Interesse an mir zeigte, und erhielt dafür die Bestätigung, als ein Kommilitone ein Fest in der Prachtvilla seiner Eltern am Øresund gab. Spät am Abend folgte ich ihr ins Haus auf eine der Toiletten, was sie ungeheuer lustig fand. Plötzlich waren wir nackt und umarmten uns, ich setzte mich auf das Toilettenbecken, und sie glitt auf mich. Die Füße fest auf den Boden gestemmt, bewegte sie sich auf und ab, und als sie kam, biss sie mich in die Schulter. Dann sank sie auf meine Oberschenkel und schmiegte ihre Wange an meine Brust. ‚Ich weiß gerade, wie es ist, ein Baby im Bauch der Mutter zu sein’, sagte sie. ‚Und wie ein Vogel im Wind, ein Gepard in der Ebene, ein Bär mit einem zappelnden Lachs zwischen den Zähnen. Wenn ich gut zuhöre, habe ich Zugang zu Antworten auf alle Fragen, weil ich aus all dem geschaffen bin, was jemals existiert hat.’ Ich küsste sie auf den Rand ihrer Oberlippe und dachte, ich hätte die Liebe meines Lebens gefunden.

    Einige Wochen später, nachdem ich täglich versucht hatte, sie telefonisch zu erreichen, hörte ich, dass sie das Jurastudium aufgegeben habe und mit einem Typen namens Martin Fisch nach Indien gereist sei. Ich reagierte nicht wie sonst üblich, wenn man mit mir Schluss gemacht hatte, und ich dann in einen Zustand des Unglücklichseins mit momentanen Selbstmordgedanken und psychosomatisch bedingten Atembeschwerden versank. Stattdessen wurde mein Organismus von einer nicht vehement dominierenden existentiellen Unruhe ergriffen, begleitet von einem fortdauernden Gefühl der Unwirklichkeit. Ich war nicht imstande, im Jetzt zu sein, meine Gedanken bewegten sich ständig hin und her. Ich stellte mir vor, wo ich sein würde, und wie mein Leben morgen zur gleichen Zeit oder in genau einem Jahr aussehen würde. Ob ich Herzrhythmusstörungen bekommen würde, wenn ich das Licht ausmachte um einzuschlafen. Ob ich im Bett liegen, mir den Puls messen und mir selbst versichern würde, dass das Herz schon seine Arbeit tun wird. Aber keine abgrundtiefen Löcher, keine depressionsähnlichen Sümpfe, kein schreiendes Opfer der Umstände und eines schlimmen Schicksals. Offiziell waren wir kein Paar, nicht einmal inoffiziell, und als ich drei Monate später von ihr eine Postkarte bekam mit dem Text ‚Ich liebe Dich, Carl Bernstein’, wurde mir klar, dass unsere Liebe von jeglicher Beschränkung frei war und Bestand haben würde, ungeachtet, mit wem wir zusammen wären und was wir tun würden.

    Deshalb konnte es nicht verwundern, dass sie Jahre später anrief und mich aufforderte, in das freie Zimmer in der Wohnung einzuziehen, in der sie seit ihrer Scheidung mit ihren drei Jahre alten Zwillingen wohnte. Sie fühlte sich auch von Frauen angezogen, und ihr Ex-Mann Martin Fisch war längst zurück nach Jütland zu seiner Jugendliebe gezogen, war in eine rechte Partei eingetreten und hatte eine Blitzkarriere in der Kommunalpolitik und im Parlament gestartet. Das würde ich selber mit größtem Vergnügen....

    Was jetzt? fragt der Taxifahrer.

    „Zurück nach Christiansborg."

    Er fährt durch eine schmale Straße zwischen hohen, braunen Mehrfamilienhäusern und biegt nach links in die Amagerbrogade ein. Das Mobiltelefonnetz ist zusammengebrochen, und ich kann zu den Zwillingen nicht durchkommen. Ich runde den Preis auf und bezahle, steige vor Schloss Christiansborg aus und zeige einem Polizisten in Kampfuniform meinen Ausweis. Er weiß von nichts. Er willigt ein, mir in den ersten Stock zu folgen, aber die Tasche ist nicht da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Der Polizist zeigt mir den Weg zu einem Raum im Keller, wo sie in der Ecke liegt, zusammen mit anderen vergessenen Gegenständen. Auch das Rennrad des Ministers steht dort. Neugierige Finger haben sich an meiner Tasche zu schaffen gemacht, und meine Papiere befinden sich nicht in der üblichen Ordnung. Auf meinen diesbezüglichen Kommentar erhalte ich keine Antwort. Dann gehe ich hinaus zu meinem Fahrrad, lege die Tasche auf das Lenkrad und fahre heimwärts, passiere die Brücke über den Kanal und registriere aus dem Augenwinkel die Menschenmassen in Nyhavn. Die Temperaturen liegen heute bei 20 Grad. Ich radle in den Hof in der Amaliegade und laufe über die Küchentreppe hoch. Albert und Robert sitzen vor dem Fernseher und weinen. Ich setze mich zwischen sie auf das Sofa.

    Das Weinen entsteht in der Tiefe meiner Lungen, braust durch den Hals herauf und aus dem Mund heraus, und in dem Moment beginnen die Zwillinge zu schreien. Wir halten uns umfasst, und sie reißen und zerren an meiner Kleidung, meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, ich hole Luft, bekomme aber keinen Sauerstoff. Sie rufen nach ihrer Mutter, sie soll nach Hause kommen, heulen ihre Jungvogelmünder in aufgelösten Gesichtern mit brennenden Augen, die nichts sehen. Ich schnappe nach Luft und halte sie mit aller Kraft fest.

    2

    Ich befreie mich aus dem beengenden Anzug und ziehe mir stattdessen Jeans und ein kurzärmeliges Hemd an, entferne kleine Steinchen und Erde von der Hautabschürfung an meinem Arm, betupfe die Wunde mit lauwarmem Wasser und lasse sie an der Luft trocknen. Es gibt Überlebende, sagen sie im Fernsehen, aber nicht in dem Teil des Hotels, in dem Kassandra gearbeitet hat. Alle Fernsehkanäle zeigen die gleichen, vom Helikopter aufgenommen Bilder des siebzig Meter hohen intakten Gebäudes, das verschont geblieben ist, da anscheinend mehrere Sprengladungen nicht wie geplant gezündet haben, und zoomen die Stelle heran, wo das flachere Nebengebäude mit Konferenzräumen, Büros und Rundfunkstudios gestanden hatte. Es hat sich in einen Berg aus verbogenem Stahl und rauchenden Mauerbrocken verwandelt.

    Ein Sprecher erzählt mit schriller Stimme die Geschichte vom Terror in Dänemark, der seinen Anfang nahm, als eine Tageszeitung Karikaturen des Propheten der Muslime veröffentlicht hatte. Dadurch hatte sich Dänemark in der muslimischen Welt unbeliebt gemacht und war für militante Muslims zum Ziel des Terrors geworden. Seitdem haben die dänischen Geheimdienste eine der Öffentlichkeit nicht bekannte Zahl von Terrorangriffen abgewehrt, aber heute war es schief gegangen. Ein Universitätsprofessor stellt fest, dass das Hotel Danmark vermutlich deshalb zum Ziel gewählt wurde, weil die Sicherheitsmaßnahmen begrenzt gewesen waren, und die Terroristen viele Menschen auf einmal treffen konnten. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es sich um eine Selbstmordaktion handelt, sondern dass die Sprengung mit Hilfe eines Handys ferngesteuert wurde. Ich schalte um auf CNN, wo man ebenfalls live vom Ort des Geschehens berichtet.

    „Dänemark – Hans Christian Andersens idyllisches Märchenland in Skandinavien – wurde heute morgen kurz vor neun Uhr Ortszeit von dem schlimmsten Terroranschlag gegen ein westliches Land seit Nine Eleven getroffen. Ein für alle Mal hat menschliche Brutalität den rosafarbenen Firnis und die romantische Unschuld von diesem kleinen Königreich abgeschlagen, das wie die anderen skandinavischen Länder bisher im großen und ganzen von den Grausamkeiten verschont geblieben war, die den Alltag der übrigen Welt schon lange prägen."

    Ich drehe den Ton leiser, als das Telefon läutet. Es ist Donald, mein direkter Vorgesetzter im Außenministerium, der fragt, wo ich bleibe. Es sei Krisensitzung in der Antiterroreinheit.

    „Das Land befindet sich in der ernstesten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg, und du machst frei. Ich erwarte, dich in einer halben Stunde zu sehen." Der Hörer wird aufgelegt.

    Ich habe ihm kürzlich erzählt, dass Kassandra nach einer Reihe von Jahren als Produktionsleiterin schließlich ihre eigene Rundfunksendung bekommen hat, und dass diese von den Studios im Hotel Danmark aus gesendet wird, aber er kann natürlich nicht wissen, ob sie im Moment der Sprengung an ihrem Arbeitsplatz war. Donald ist kein Typ für Small Talk. Er hat es durch das Nadelöhr geschafft und kann sich ‚Vortragender Legationsrat Erster Klasse’ nennen; er kann seinen Botschafterposten bereits riechen, und nichts soll dazwischenkommen.

    Aber ich gehe nicht zur Arbeit, ich fahre mit den Zwillingen zum Rigshospital, dem Zentralkrankenhaus. Dort hat man im Erdgeschoss ein Krisenzentrum eingerichtet, mit kleinen, durch Vorhänge abgeschirmten Boxen, mit jeweils einem Schreibtisch und zwei Stühlen, und wir bekommen einen Krisenpsychologen zugeteilt. Ich sage nichts, jetzt geht es erst um die mentale Wiederherstellung der beiden Jungen, und ich lausche ihren tränenerstickten Fragen und Gefühlsentladungen und den wohlgemeinten Ratschlägen des Psychologen, und das Ganze verschmilzt zu brummenden, gellenden, flüsternden, zischenden, schreienden Stimmen, bis mir plötzlich klar ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, dass Kassandra tot ist, und dass sie die Konsequenzen nicht überschauen können. Ich kann es auch nicht. Aber jetzt bin ich an der Reihe.

    „Sie werden früher oder später in einen Zustand geraten, in dem Sie Zorn verspüren, wenn Sie an die Verstorbene denken. Das ist ganz natürlich, und es ist wichtig, dass Sie Ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Jegliche Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die weinen, schreien, schimpfen und über die Dinge sprechen, am besten durch die Krise kommen", sagt der bärtige Mann, und ich versuche, seinen Blick hinter den verschmierten Brillengläsern aufzufangen. Ich bin dankbar, dass es Menschen wie ihn gibt, die Energie investieren, um anderen zu helfen. Er hätte ja auch Immobilienhai werden können, Börsenspekulant oder ein böswilliger Banker, den Blick starr auf nichts anderes als den jährlichen Bonus gerichtet, ein roher und rücksichtsloser Kapitalist. Der Blick des Psychologen flackert, die Situation zeigt Wirkung bei ihm, auch er hat Gefühle, selbst wenn er gelernt hat, sie zu kontrollieren, aber so viele Leben, die zu gleicher Zeit über dem Dunkel des Abgrunds hängen, bilden eine gewaltige Kraft, die selbst die solidesten Fundamente zum Bersten bringen können. Ich nicke schnell, will ihm sagen, dass mein Organismus von einer erdrückenden Zwangsjacke der Sinnlosigkeit umschlossen wird, aber die Worte verdorren in meinem Mund. Dann will ich ihm sagen, dass ich am meisten an Albert und Robert denke, die mitten im Abitur stehen und morgen ihre schriftliche Dänisch-Prüfung haben. Ich weiß nicht, ob sie das schaffen, oder ob ich veranlassen kann, dass ihre Prüfungen verschoben werden. Ihr Vater, Martin Fisch, muss wohl auch einbezogen werden. Ja, das ist der von der Dänemark-Partei, sie sehen ihn selten, und für die Jungen bin ich wohl mehr ihr Vater als er, aber trotzdem. Der Psychologe sieht mich fragend an. Martin Fisch wird viel zu tun bekommen. Egal wer hinter der Terroraktion steckt, sie wird noch stärkeren Hass gegen das Unbekannte hervorrufen, seine Sache wird explosionsartig Zuspruch erfahren, und Dänemark wird fremdenfeindlicher werden. Für Martin Fisch eine traumhafte Situation. Jetzt beuge ich mich über den Tisch.

    „Muss ich ihre Leiche identifizieren?"

    „Nach meinen Informationen befand sie sich unmittelbar über einer der Sprengladungen", sagt der Psychologe so leise, dass ich mich anstrengen muss, ihn zu verstehen.

    „Bedeutet das, dass es nichts zu identifizieren gibt?"

    Er nickt schwach, nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen.

    Vor dem Fernsehbildschirm an der Wand im Foyer ist eine Menschenmenge zusammengeströmt. Die Hände der Jungen halten meine Unterarme fest umklammert. Einem Krankenträger gelingt es, den Ton lauter zu stellen, und wir bleiben stehen und hören dem Sprecher zu. Er berichtet, dass eine bislang unbekannte Terrorgruppe namens ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ auf einem Video, das den Nachrichtenagenturen zugespielt wurde, die Verantwortung für die Bombensprengung in Kopenhagen übernommen hat. Auf dem Bildschirm taucht ein Mann auf, das Gesicht mit einem Halstuch maskiert, und trägt seine Botschaft in perfektem Englisch vor.


    Wir sind die von der Menschheit ausgesandten Krieger. Wir sind eure Brüder und Schwestern, wir leben unter euch, wir sprechen eure Sprache und arbeiten zusammen mit euch. Wir sind Menschen wie ihr, die sich über Grenzen der Religion und Politik hinweg zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus zusammengefunden haben, der unsere gemeinsame Erde unbewohnbar macht und einen wirtschaftlichen Morast geschaffen hat, der Millionen von Menschen aus Haus und Heim vertreibt. Die Aktion in Kopenhagen ist nur die erste von weiteren, die der globalen Krankheit ein Ende bereiten sollen, deren Symptome Egoismus und Materialismus auf Kosten der Gemeinschaft sind. Die Aktion in Kopenhagen hat zwölf einflussreiche Wirtschaftsbosse ausgelöscht, die im Hotel Danmark versammelt waren, um Pläne für die zukünftige Ausbeutung der armen Bevölkerungen in der Welt zu schmieden. Wir bedauern zutiefst die unschuldigen Opfer und trösten uns damit, dass sie in einem notwendigen Krieg gefallen sind.


    Wir schieben die Fahrräder, als wir den Peblinge-See entlang gehen, und setzen uns dann auf eine Bank unter einem blühenden Kastanienbaum. Ich sitze

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