Backstage: Über Musik, die Flöte und das Leben
Von Peter-Lukas Graf
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Backstage - Peter-Lukas Graf
Rat«
1. FLÖTE
Repertoire
Der Katalog von Bernard Pierreuse weist mehrere tausend Komponisten und eine Unzahl für Flöte geschriebener oder für Flöte transkribierter Werke auf. Trotzdem beklagen wir Flötisten und Flötistinnen uns gerne über die beschränkte Literatur für unser Instrument. Denn was wir vergeblich suchen, sind Original-Kompositionen unter den größten Namen der klassischen und romantischen Periode. Wir sind zwar dankbar für die zufällig entstandenen Auftragswerke Mozarts, für die Beethoven-Serenade, für die Trocknen Blumen von Schubert und für die spät-romantischen Stücke von Carl Reinecke. Aber Mendelssohn, Brahms und Schumann existieren überhaupt nicht im Flöten-Repertoire.
Warum?
Mozart schrieb einmal in einem Brief an seinen Vater, er habe keine Lust, für Flöte zu komponieren. Und Schumann soll auf die Frage, was schlimmer sei als eine Flöte, geantwortet haben: »Zwei Flöten«! Hieraus zu schließen, dass die Komponisten das Instrument nicht mochten, halte ich für falsch. Immerhin haben sie die Flöte im Orchester gerne und wirkungsvoll eingesetzt.
Für das Fehlen von Solo-Literatur gibt es andere Gründe. Im 19. Jahrhundert gab es einschneidende Entwicklungen: Die Konzertsäle und die Orchester wurden größer, aus dem Hammerklavier wurde der moderne Flügel, auch alle anderen Instrumente wurden lauter, und mehrere Versuche wurden unternommen, die Flöte den veränderten Anforderungen anzupassen. Bei diesem Wettbewerb im Flötenbau hat Theobald Böhm den Sieg davongetragen. Den neuen musikalischen Bedürfnissen – größeres Volumen, klangliche Ausgeglichenheit, genauere Intonation – wurde die Böhmflöte am besten gerecht. Sie setzte sich allerdings nur allmählich durch, und die erweiterten Möglichkeiten waren vielleicht damals noch nicht bekannt genug, um Komponisten zum Schreiben für das neue Instrument anzuregen.
Viel maßgeblicher für das Repertoire-Manko scheint mir jedoch der Charakter des Instruments zu sein. In seiner Orchestrationslehre beschreibt Rimskij-Korsakow den Klang der Flöte als »matt und kühl« und empfiehlt sie für Melodien lieblichen oder leichten Charakters, allenfalls in Moll für den Ausdruck von »oberflächlicher Melancholie«. Er hält sie für nicht imstande, Leiden und tiefe Traurigkeit zu charakterisieren. Romantisches Empfinden betont aber genau dies: starke, subjektive, leidenschaftliche Gefühle. In solchem Zusammenhang dachte im 19. Jahrhundert niemand an Flötenspiel. »Flöte« hieß: süße Melancholie (Reigen seliger Geister), Magie (Zauberflöte), Vogelgezwitscher (Cardellino) und virtuose Beweglichkeit (Sommernachtstraum).
Ich wurde neulich gefragt, welche Flötenkonzerte mir die liebsten seien. Während barocke und klassische Stücke für alte Instrumente komponiert wurden, setzen die Konzerte von Reinecke, Ibert und Nielsen die Möglichkeiten der Böhmflöte voraus, das heißt, erweiterte dynamische Skala und Farbigkeit oder musikalisch ausgedrückt: kantables, flexibles Espressivo. Deshalb sind für mich als Flötisten diese neueren Werke die interessanteren, die »dankbareren«.
Transkriptionen
Die Vorstellung von »Flöte« ist von jeher verbunden mit sanfter Lyrik einerseits und vogelgesangartiger Agilität andererseits. Diese für unser Instrument typischen Ausdrucksbereiche manifestierten sich in musikalischen Werken von Gluck bis Debussy, von Vivaldi bis Saint-Saëns und Berio. Niemand möchte den Reigen seliger Geister oder Syrinx von einem anderen Instrument gespielt hören, ebenso wenig wie Il cardellino, Volière und Sequenza 1. Diese Stücke sind von der Flöte inspiriert und für die Flöte komponiert, gleichsam »Flöte pur«.
Im Barock-Zeitalter war Transkription eine gängige Praxis. Manche Kompositionen waren von der Idee und vom Charakter her wenig auf bestimmte Instrumente ausgerichtet und ließen sich ohne musikalischen Verlust in verändertem Klang darbieten. Beispielsweise ist die Allemande der Bachschen Solosonate für Flöte kein typisches Flötenstück und kann ebenso gut, vielleicht sogar besser, auf der Geige gespielt werden.
Je mehr Klangvorstellung und instrumentale Charaktereigenschaften wesentliche Aspekte einer Komposition sind, desto fragwürdiger wird die Transkription. Ein Traversflöten-Spieler wird sich auf Grund der instrumentalen Eigenschaften kaum mit Pagaganinis Capricen beschäftigen. Auf der Böhmflöte ist dies hingegen möglich geworden. Zunehmend erlaubt der hohe spieltechnische Standard der Flötisten, auch Werke zu spielen, die für Violine komponiert wurden, zum Beispiel die Sonate von Franck und die Konzerte von Mendelssohn und Chatschaturjan. Bei solchen Transkriptionen frage ich mich immer: Ist auf der Flöte ein dem originalen Instrument entsprechender Ausdruck möglich? Wenn nicht, ist eine für die Flöte umgestaltete Version musikalisch vertretbar?
Mein Sohn Florian Graf ist bildender Künstler. In einer seiner Ausstellungen zeigte er diverse Skulpturen, die trotz exakt gleichbleibender Form und identischer Proportionen, jedoch dank unterschiedlichem Material, unterschiedlicher Größe und unterschiedlicher Farbe eine jeweils neue, interessante Wahrnehmung eröffneten. Unwillkürlich zog ich den Vergleich zur musikalischen Transkription, bei der wir durch das Erlebnis von typischen Klang- und Charaktereigenschaften eines anderen Instrumentes eine ähnliche Erfahrung machen und einen neuen Bezug zum gleichen Werk gewinnen.
Ein neues Stück?
Zuerst stelle ich fest, um welche Art von Komposition es sich handelt: Ist es ein Solostück? Ist es mehrstimmige Kammermusik? Ist es ein Stück mit Klavier? Ist es ein barockes Stück mit Basso Continuo? Ist es ein Stück mit Orchester? So banal dies klingt – meine Erfahrung mit Studierenden zeigt, dass eine solche Klarstellung nicht immer selbstverständlich ist. Denn Bläser und Streicher neigen dazu, sich sofort und primär für die eigene Stimme zu interessieren und den Blick auf die Gesamtpartitur zu vernachlässigen. Dies ist verständlich und sogar logisch, denn in erster Linie haben sie ihre Einzelstimme zu realisieren. Zum Beispiel müssen sie herausfinden, was prima vista nicht zu bewältigen ist und was technische Arbeit und Zeit erfordert. Dabei besteht Gefahr, die eigene Stimme isoliert, das heißt aus dem musikalischen Zusammenhang gelöst zu betrachten.
Um dies zu vermeiden habe ich mir ein doppeltes Notenpult angeschafft, das eigentlich für Duo-Spieler gedacht und konstruiert ist. Auf der einen Seite liegt meine Flötenstimme, auf der anderen die Partitur. Dies erlaubt mir jederzeit, mittels einer einfachen Drehung des Pultes, die Bedeutung und Funktion meiner