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Krokodile im Wannsee
Krokodile im Wannsee
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eBook358 Seiten5 Stunden

Krokodile im Wannsee

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Über dieses E-Book

Tim und Ana aus Mannheim besuchen die neunte Klasse. Gemeinsam boykottieren sie einen Schulausflug nach München. Statt in der Nachbarklasse den Unterricht zu besuchen, starten sie zur alternativen Klassenfahrt nach Berlin! Ein spontaner Entschluss mit Folgen. Die beiden Vierzehnjährigen müssen sich in der Großstadtwelt durchschlagen. Immer wachsam, Abenteuer pur. Zwischen Schrebergarten und Wannsee sind sie schnell zu Hause. Sightseeing und Souvenirs, aber auch Politik und deutsche Geschichte stehen auf dem Programm. Denn eine Klassenreise verpflichtet ... Doch Berlin tut gut und besiegelt die Freundschaft der beiden jungen Ausreißer …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Okt. 2020
ISBN9783837223507
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    Buchvorschau

    Krokodile im Wannsee - Dirk Gollnick

    978-3-8372-2350-7

    I.

    Kein Bock auf München

    Ich erzähle euch von Anas und meiner alternativen Klassenfahrt und wie aus dem Besuch eines Fußballspiels ein großer Trip nach Berlin geworden ist. Doch wo soll ich anfangen? Einen Startpunkt für unsere Unternehmung gab es nicht wirklich. Irgendwie kam eins zum anderen, und plötzlich gab es kein Zurück mehr, sondern nur noch ein weiter. Als hätten wir den „Point of no return" überschritten, wie mein Vater mir vor kurzem anhand eines startenden Flugzeugs beschrieben hatte. Ab einem bestimmten Punkt ist die Geschwindigkeit der Maschine einfach zu schnell, als dass man den Start noch abbrechen könnte. Mein Vater erklärte mir oft solche Dinge, aber ich ging im Internet der Sache meist noch einmal auf den Grund, um auszuschließen, dass er mir Quatsch erzählte.

    Wenn ich so zurückblicke, war Anas und mein Punkt ohne Wiederkehr wohl der, als wir in Mannheim einfach im Zug, der zufällig nach Berlin fuhr, sitzen blieben. Die Entscheidung fiel so spontan, dass wir gar keine Zeit hatten, über irgendwelche Konsequenzen und deren Tragweite nachzudenken. Eins ist mir aber jetzt schon klar: Diesen coolen Trip werde ich niemals vergessen.

    Doch zurück zum Anfang, denn wir sind ja nicht vom Himmel gefallen und zufällig im ICE nach Berlin gelandet. Dort waren wir, weil Ana den Trainer der TSG-Hoffenheim nicht mochte. Deshalb konnten wir nicht zum Fußballspiel nach Sinsheim, was für einen Mannheimer naheliegend gewesen wäre. Aber da wollte Ana einfach nicht hin. Und warum fuhren wir stattdessen zu einem Fußballspiel nach Freiburg? Weil unsere Klasse eine Reise nach München machte und dort zu einem Bundesligaspiel des FC Bayern München ging. Was die vorhatten, wollten Ana und ich auch machen, und deswegen sind wir zu der Partie nach Freiburg gefahren; das war dann der Anfang unseres Ausflugs nach Berlin. Klingt verwirrend. Ja, ist es auch und hat sich einfach so entwickelt.

    In der neunten Klasse sollte eine größere Reise unternommen werden, unser Lehrer wollte mit uns München besuchen. Aus der Klasse hatte dazu erst keiner Bock, aber dann erzählte er uns vom Deutschen Museum und den vielen alten Flugzeugen, die dort zu sehen sind, und schon bröckelte die Schar der Münchenverweigerer um die ersten Jungs ab. Danach schwärmte er vom BMW-Museum, und schon wieder wechselten ein paar mehr Schüler auf seine Seite. Komischerweise fing jetzt auch die Schar der Mädchen an zu wanken, wobei das umso unverständlicher war, denn die stehen normalerweise doch gar nicht so auf Technik und Autos. Als er noch vom Olympiapark schwärmte, hatte er die ganze Klasse in der Tasche – bis auf mich. Wozu besucht man einen Olympiapark, wenn die Olympischen Spiele mehr als 40 Jahre her sind? Wir können uns nicht dran erinnern, weil zu der Zeit selbst unsere Eltern uns noch gar nicht auf dem Radarschirm hatten. Also für mich war das eins der schwächsten Argumente für München. Ich schlug vor (was ich normalerweise nie mache), eine ordentliche Großstadt zu besuchen, also Berlin, London oder Paris, aber doch nicht München. Da wurde unser Lehrer fuchsig. Ob ich denn nicht wisse, wie gefährlich Berlin sei; er könne diese Verantwortung nicht übernehmen. Außerdem seien Auslandsreisen an unserer Schule erst in der Oberstufe zulässig und dann auch nur, um Sprache und Kultur zu vertiefen. Genau in diesem Augenblick entschied ich mich, diese Klassenreise nicht mitzumachen. Das sagte ich aber nicht laut, ich dachte mir nur: „München kann er sich mit mir abschminken." Tatsächlich dachte ich, dass er sich das irgendwo hinschieben könne, aber so was soll ich nicht sagen, das will mein Vater nicht von mir hören, deswegen denke ich es auch möglichst nicht; so kann es mir nicht versehentlich in der Eile rausrutschen. Da ich meinen wöchentlichen Redebeitrag mit dem Alternativvorschlag zur Klassenreise jetzt absolviert hatte, bestand dazu aber keine Gefahr mehr.

    Zur Klassenreise nach München hatte ich keine Lust, weil meine Mutter mit ihrem neuen Mann dort lebt. Ich war ein paarmal zu Besuch in München und hatte alle Sehenswürdigkeiten sicher dreimal abgeklappert und ausgiebig kennengelernt. Jetzt das alles noch mal mit einem besserwisserischen Lehrer durchzuziehen, das wäre gefühlt die schulische Höchststrafe.

    Ich war zehn, als meine Mutter bei uns auszog, oder (besser ausgedrückt) einfach wegblieb. Mein Vater arbeitet für ein IT-Unternehmen, ist dort Chef für Projekte in den USA und dadurch ständig auf Dienstreise. Er ist regelmäßig jeden Monat für mindestens eine Woche weg. Die vielen Dienstreisen gingen meiner Mutter schon immer „auf den Sack, hat sie meinem Vater ständig vorgehalten. Er hat immer zurückgebrüllt: „Aber das Geld, das ich durch die vielen Dienstreisen mit nach Hause bringe, das ist für dich in Ordnung? Und das große Haus, dein Zweitwagen, der Swimmingpool! Normalerweise endeten diese Streitereien mit lautstarkem Türengeknalle durch meine Mutter. Bei der Küchentür sind durch das Zuknallen die Scharniere schon ganz locker, wenn man die Tür zumachen möchte, muss man sie etwas anheben. Mein Vater sagte immer: „Wenn du Türen knallen willst, bitte nicht die Küchentür, die fällt uns sonst noch aus den Angeln." Als meine Mutter die Küchentür nicht mehr zuknallen durfte, war sie irgendwann so fertig mit den Nerven, dass sie zur Kur musste.

    Sie fuhr dann tatsächlich zur Erholung, aber von dieser Kur ist sie nicht mehr zurückgekommen. Sie hat einen Kurschatten kennengelernt. Man nennt die Männer auf der Kur so, und mit dem Kurschatten ist sie gleich von der Kur nach Hause gefahren, also nicht zu ihrem Zuhause, sondern zu seinem. Jetzt ist der Kurschatten nicht mehr ihr Kurschatten, sondern ihr zweiter Mann. Mein Vater ist nicht mehr ihr erster Mann, sondern nur noch ihr Ex. „Nur noch" klingt abwertend; ist es auch, denn wenn man etwas nicht mehr hat (ausgenommen eine Krankheit oder so), ist man schließlich ärmer dran. Sie hat mir einen langen Brief geschrieben, mein Vater hat ihn mit mir durchgelesen, und wir haben darüber gesprochen. Sie habe es nicht ertragen, mich zu verlassen, deswegen sei sie von der Kur gleich weggeblieben. Wir mussten nicht einmal etwas für sie packen, sie hat ganz neu in München angefangen.

    Ihr neuer Mann ist Beamter, die machen angeblich keine Dienstreisen. Mein Vater meint, die arbeiten auch nicht, aber das hat er nur gesagt, weil der Beamte jetzt seine Frau, also meine Mutter, hat. Als ich nämlich einmal in München zu Besuch war, fuhr Klaus, so heißt ihr neuer Mann, jeden Morgen zur Arbeit. Zuerst mit dem Fahrrad und dann mit der S-Bahn, und abends kam er wieder zurück. So ist das, wenn man Beamter ist. Deshalb hat meine Mutter auch ein Auto den ganzen Tag über für sich, und das ganz ohne Dienstreisen. Ich sollte den neuen Vater nicht mit Papa anreden, sondern mit Klaus, seinem Vornamen. Das finde ich immer noch etwas komisch. Erwachsene sind entweder Papa, Mama, Oma oder Opa. Und wenn sie das nicht sind, werden sie mit „Herr, „Frau oder was auch immer angeredet, aber nicht mit dem Vornamen. Da bin ich ganz konservativ; so werden die Leute bezeichnet, die nicht allen modernen Quatsch mitmachen. Vornamen sind reserviert für meine Kumpels aus der Schulklasse oder aus dem Sportverein, jedoch nicht für Erwachsene. Ich würde Klaus lieber mit „Herr Müller ansprechen, aber das mag meine Mutter nicht, und Herr Müller will das auch nicht. Also spreche ich ihn möglichst nie an. Ich glaube, ihm ist das auch ganz recht so. Ich sage zu meinem Vater immer „Vadder. „Vati oder „Papa sagen mag ich nicht, das sagen nur Babys, „Vater klingt auch so kindlich, und „mein Alter will ich nicht sagen, schließlich bin ich mit meinem Vater nicht verheiratet oder so. Deswegen habe ich irgendwann mit „Vadder angefangen, und ihn hat es nicht gestört. Den Vadder hatte ich mal auf einer Postkarte vom Maler Zille aus Berlin gesehen, da haben die Kinder immer von ihrem Vadder gesprochen, und das habe ich ausprobiert und bin schließlich dabei geblieben. In der neuen Familie wurde Klaus von seinen beiden Jungs mit „Papa angeredet. Die waren gleichzeitig auch noch meine beiden neuen Brüder, aber nur zur Hälfte, weil für mich Klaus nur Klaus ist und nicht auch noch Papa. Zu ihnen ist nicht viel zu sagen, sie sind zehn und elf Jahre jünger als ich. Die paar Male, die ich bei ihnen war, habe ich auf sie keinen nennenswerten Eindruck gemacht. Sie auf mich aber auch nicht. Sie sind eben wie kleine Kinder, der Jüngere heißt Benjamin, was wohl als Zeichen gemeint ist, „jetzt ist Schluss mit Kindern, der Ältere heißt Alexander. Sie beanspruchen meine Mutter stark, und wenn ich bei ihnen bin, hat sie nur Zeit für mich, wenn meine Halbbrüder im Kindergarten sind, also vormittags. So habe ich vieles von München schon gesehen, aber entweder mit kleinen Kindern im Kinderwagen oder hastig am Vormittag. Also ist es wohl für jeden verständlich, dass mich München als Klassenreiseziel wirklich nicht vom Hocker reißt. Beim letzten Besuch bei meiner Mutter hat Alexander irgendwann gefragt: „Was will der denn schon wieder hier? Ich hatte gerade das Wohnzimmer verlassen und war auf dem Weg zur Toilette. Gehört habe ich nicht mehr, was meine Mutter antwortete, aber ich meine, man braucht mich da nicht wirklich. Also werde ich in Zukunft auf Besuche in München verzichten. Ich habe das meinem Vater erzählt, und der hat mir zugestimmt. Ich könne selber entscheiden, wie ich das mit München zukünftig handhabe. Und schon lange vor der Klassenreise hatte ich mich entschieden: „München tu ich mir nicht mehr an." Mein Vater meinte noch, wenn mich die Mama mal wiedersehen wolle, würde er ein Treffen irgendwo in der Mitte zwischen Mannheim und München vorschlagen. Das klingt für mich wie bei zwei verfeindeten Staaten, die sich auf neutralem Boden treffen, um Gefangene auszutauschen oder einen Waffenstillstand auszuhandeln, aber so schlimm war meine Beziehung zur Mama dann doch nicht. Bei meinem Vater war das schwieriger zu beurteilen. Sie telefonierten nie, sondern hauten sich nur ihre Statements mittels WhatsApp um die Ohren. So war mein Verhältnis zu München zum Zeitpunkt der Klassenreise etwas gestört, also reduziert auf WhatsApp-Niveau bei meinen Eltern.

    Deswegen war für mich von Anfang an klar: Die Klassenreise nach München findet leider ohne mich statt. Ob das für meinen Vater auch so klar war, wollte ich nicht unbedingt mit ihm diskutieren. Ich trug den Reisetermin in den Familienkalender ein, gab die Zettel mit der Information an die Eltern über die Fahrt und das Bezahlen aber nicht an meinen Vater weiter. Der hat auf Arbeit ziemlich viel um die Ohren; deswegen erledige ich den schulischen Papierkram immer für meinen Vater und lege ihm die Sachen nur noch zum Unterschreiben vor. Wenn er meine Termine wissen will, muss er in der Küche im Familienkalender nachsehen. Die Daten der Klassenreise hatte ich eingetragen, aber nicht in meiner Spalte, sondern in der allgemeinen Terminspalte, wo der Schornsteinfeger drinsteht oder die Wartung der Heizung. Auf dem Anmeldeformular kreuzte ich folgenden Punkt an: Mein(e) Sohn/Tochter kann leider an der Klassenreise nicht teilnehmen. Direkt darunter stand dann der überflüssige Satz: Mir ist bekannt, dass mein(e) Sohn/Tochter während der Zeit am Unterricht in der Nachbarklasse teilnehmen muss. Auch das kreuzte ich an, kann ja nicht schaden, aber bei der Unterschrift schrieb ich nur Ort und Datum hin, richtig schön groß über die ganze freie Fläche. Das musste genügen; mal sehen, dachte ich, wie sorgfältig Herr Hoffmann, unser Klassenlehrer, seine eigenen Formulare liest und überprüft.

    Jeden Monat ist mein Vater für eine Woche auf Dienstreise in den USA. Die Klassenfahrt fiel genau auf seine monatliche Dienstreisewoche, also würde das gar nicht groß auffallen, wenn ich daheim wäre und nicht auf Klassenreise, falls er zufälligerweise wieder daran denken sollte. Ich erinnerte meinen Vater nicht daran, so gab es keinen Stress zwischen uns, ob ich an der Fahrt teilnehmen müsste oder nicht.

    An einem der nächsten Tage fragte mich Herr Hoffmann mitten in der Stunde vor allen anderen Mitschülern, warum ich denn nicht mit auf die Klassenreise komme. Eine gute Ausrede hatte ich mir blöderweise noch nicht überlegt, deswegen schob ich erst mal alles auf meinen Vater: „Mein Vater erlaubt mir nicht, mit nach München zu kommen, er sagt, das sei zu gefährlich." Etwas lahm war die Ausrede schon, aber mehr fiel mir so schnell beim besten Willen nicht ein. Ich hätte mir eine bessere Ausrede eben vorher zurechtlegen sollen. Normalerweise mache ich das. Auch bei Antworten überlege ich mir die Sätze meistens schon vorher. Dadurch bin ich immer etwas langsam, doch ich bleibe beim Sprechen nicht hängen und blamiere mich nicht.

    „Soso, meinte mein Lehrer, „aber der Herr schlägt alternativ Berlin, London oder Paris als mögliche Ausweichziele vor. Die Klasse lachte. Ich nicht. Ich hätte mich eben in der letzten Stunde nicht so weit aus dem Fenster lehnen sollen. Daraufhin fragte er Ana, eine Mitschülerin, warum auch sie denn nicht mit auf die Klassenreise komme.

    Wenn es finanzielle Gründe seien, so könne man sicher eine Lösung finden, war sein testweiser Versuchsballon bei Ana. Wie nett vom Lehrer, vor der ganzen Klasse jemanden vorzuführen, ging es mir noch durch den Kopf. Der Gedanke mit dem Geldmangel war nicht ganz abwegig. Ana trug immer zu große, etwas abgetragene Jungsklamotten. Mit dem Stil war sie unter den Mädchen die totale Außenseiterin, und bei den Jungs kam sie auch nicht besonders gut an, obwohl sie gar nicht so schlecht aussah. Wenn sie von jemandem wegen ihrer Klamotten aufgezogen wurde, dann tat sie immer so, als ob sie es nicht hörte.

    „Private Gründe", war ihre knappe, nichtssagende Antwort.

    „Auch über private Gründe kann man jederzeit reden", meinte Herr Hoffmann salbungsvoll. Aber auf seine unausgesprochene Aufforderung, diese privaten Gründe zu offenbaren, kam keine Antwort. Ich fand es ein bisschen seltsam vom Lehrer, jemanden vor der Klasse aufzufordern, private Gründe genauer auszubreiten. Wozu sind sie privat, damit dann jeder die Gründe kennt und mit der ganzen Welt durchhecheln kann? Aber manche Lehrer sehen ihre Klasse nur als ein großes Individuum. Also für die gibt es nur den Lehrer auf der einen Seite und die Klasse auf der anderen. Wobei ich als Individuum in der Klasse auch niemals groß in Erscheinung trat, ich hielt mich normalerweise gerne zurück. Doch unser Lehrer musste natürlich noch mal nachlegen, wobei er Ana direkt belaberte. Mich hätte es als den zweiten Fahnenflüchtigen genauso gut treffen können, aber ich hatte Glück.

    „Am Geld soll es wahrlich nicht scheitern, wiederholte er sich, diesmal nur mit anderen Worten, aber kein bisschen diplomatischer oder einfühlsamer. Er starrte Richtung Ana. Was sie tat, weiß ich nicht, dazu hätte ich mich umdrehen müssen. Irgendwann begann eines der Mädchen, in seiner Ecke zu kichern. Da wurde mir der Nervenkrieg zwischen Ana und ihm doch zu bunt. Ohne mich groß zu melden, platzte ich in die angespannte Stille hinein: „Privat bedeutet meiner Meinung nach, dass man nicht öffentlich darüber reden will.

    Das war sicher nicht sehr originell, aber es löste die angespannte Situation in der Klasse, und die Stunde ging ohne Reisegedöns weiter. Zwei hatten sich geoutet, dass sie nicht nach München mitkommen wollten, Ana und ich. Nach der Stunde spurtete ich gleich los, um außer Reichweite meines Lehrers zu gelangen, weil ich weder über private Gründe noch über vorhandenes oder nicht vorhandenes Geld mit ihm reden wollte. Als ich durch die Klassentür lief, kam ich an Ana vorbei.

    „Danke für deine Hilfe", meinte sie. Ich hatte nichts von ihr erwartet, deswegen war ich schon halb an ihr vorbeigestürzt, ehe ich mitbekam, dass sie mich gemeint hatte. Ich wusste auch gar nichts zu erwidern, sondern wollte nur schnell weg.

    „Komm, lass uns hier verschwinden, ehe Herr Hoffmann rauskommt und sich uns dann wirklich privat vorknöpft, denn ich kann auf ein Gespräch mit ihm verzichten."

    „Ich auch", war ihre Antwort, aber was anderes hatte ich auch nicht erwartet. So stürzten wir gemeinsam vor den anderen Schülern der Klasse dem Ausgang zu. Ich war schon aus der Schule raus und halbwegs vom Schulgelände runter, als sie immer noch in meinem Kielwasser hinter mir herlief. Viel zu besprechen war ja nicht mehr, nachdem wir unserem Klassenlehrer erfolgreich entkommen waren. Etwas irritiert war ich schon, dass Ana die ganze Zeit hinter mir herkam.

    „Willst du noch etwas?", fragte ich sie schließlich, was sicher nicht sehr höflich klang und auch nicht höflich gemeint war.

    „Warum fährst du eigentlich nicht mit nach München?"

    „Keinen Bock, außerdem bin ich kein Fan von Bayern München. Nur um mal ein Fußballspiel gesehen zu haben, muss ich nicht unbedingt gleich nach München fahren. Doch mit der Antwort gab sie sich nicht zufrieden, Mädchen lieben keine kurzen Antworten, habe ich die Erfahrung gemacht. Bei meiner Mutter war das auch immer so, obwohl sie kein Mädchen mehr ist. Die fragte mich immer genauestens aus, wenn ich mal „keinen Bock als Antwort gab. Bei meinem Vater ist das einfacher, der will keinen Bock nicht gefühlsmäßig aufgeschlüsselt haben. Meistens akzeptiert er das, nur wenn es um das Fußballtraining geht, komme ich bei ihm damit nicht durch. Da muss ich schon ein gebrochenes Bein haben, damit kein Bock als Begründung genügt.

    „Du bist nur zu faul", sagt er immer und schickt mich los, wobei er das normalerweise nicht ausspricht, sondern schreibt. Wenn ich nicht zum Sport will und er nicht da ist, muss ich meinem Vater das per Mail schreiben und um Erlaubnis fragen. Bei Mails von mir hat sein Handy eine besondere Melodie, und zwar von Mozart diese Für-Elise-Dudelei. Wenn sein Telefon damit startet, weiß er, dass ich ihn anrufe, und dann nimmt er immer sofort ab und antwortet mir. Deswegen gehe ich lieber gleich zum Fußballtraining, das ist einfacher als ein langwieriges SMS-Duell.

    „Sport ist wichtig", sagt er immer, selber macht er aber kaum Sport, weil er ständig im Büro rumhängt. Sein Sport sind Meetings, und von denen lässt er sich nur durch Elise ablenken.

    „Jetzt aber mal wirklich, fing Ana wieder an, „warum fährst du nicht mit? War zwar privat, aber ihr konnte ich es ohne Bedenken sagen; in der Klasse würde sie es auch nicht groß breittreten, weil sie keinen hatte, dem sie es hätte erzählen können. Außerdem interessierte es keinen, warum ich nicht nach München mitfuhr.

    „Es ist privat, fing ich an, „München kann nichts dafür, dass ich es nicht mag, aber da wohnt meine Mutter mit ihrem neuen Mann und ihren zwei neuen Kindern, also das sind meine Stiefbrüder, aber noch ganz klein, und deswegen habe ich absolut keinen Bock auf München und die ganze Umgebung. Beim letzten Mal, als ich da war, habe ich mir geschworen, nicht mehr hinzufahren, und Schwüre soll man nicht ohne große Not brechen.

    „War es denn so schlimm?, fragte sie gleich nach. „Du bist doch auf Klassenreise und nicht bei denen!

    „So schlimm war es nicht, aber das ist eine Familie, in die ich nicht reingehöre. Wenn ich dort bin, fühle ich mich immer wie ein Fremdkörper, und dazu habe ich keine Lust mehr."

    „Du musst die doch nicht besuchen."

    „Wenn ich in München bin, erfährt das meine Mutter, und da kann ich mich um einen Besuch nicht herumdrücken. Außerdem kenne ich das meiste von München schon, was jetzt als Programm durchgezogen wird, also kann ich mir das sparen. Eine Frage ist die beste Methode, um eigene Antworten zu beenden, und deswegen drehte ich den Spieß erst mal um: „Aber warum willst du nicht nach München?

    „Ist auch privat, meinte Ana und schaute so schräg von unten zu mir auf, „muss nicht groß rumerzählt werden.

    „Mache ich nicht", sagte ich und schaute ihr dabei direkt in die Augen, auch wenn ich dadurch Herzrasen bekam. Warum ich immer Herzrasen bekomme, wenn ich Mädchen direkt in die Augen sehe, weiß ich nicht, denn normalerweise passiert mir das nur beim Lügen, dann aber auch bei meinen Eltern und anderen Erwachsenen. Bei Mädchen bekomme ich das Herzrasen immer, wenn ich sie direkt ansehe, sogar wenn ich sie nicht anlüge. Scheint so ein Naturphänomen bei Blickkontakt zwischen Mädchen und Jungs zu sein. Muss ich bei Gelegenheit mal googeln, ob es dazu etwas gibt. Aber trotz Herzrasens sah ich Ana fest in die Augen.

    „Also, mein Vater, fing sie an, „der muss jetzt in der nächsten Zeit für ein paar Tage ins Krankenhaus, der Termin steht noch nicht fest, aber es wird in der Zeit um die Klassenreise sein, und da will ich nicht wegfahren.

    „Ist es was Schlimmes?", fragte ich, ohne sie anzusehen. Irgendwie verbinde ich mit Krankenhaus immer schlimme Sachen, wobei das natürlich Quatsch ist. Meine Mutter ist die Einzige aus der Familie, die mal in ein Krankenhaus musste. Zweimal sogar, das war zur Geburt von meinen beiden Brüdern, und das kann man nicht als schlimme Sache bezeichnen, und heil rausgekommen ist sie auch beide Male.

    „Nein, schlimm kann man es nicht nennen, aber irgendwann mal notwendig. Er hat schon, seit ich denken kann, Probleme mit der Leiste, das kommt vom schweren Tragen der Fässer. Das ist inzwischen ein richtiger Leistenbruch geworden, und sein Arzt hat ihm jetzt die Pistole auf die Brust gesetzt, dass er es endlich machen lässt."

    Was ein Leistenbruch ist, wusste ich so in etwa, da brauchte ich nicht nachzufragen. Wenn ich es genauer wissen wollte, gab es ja immer noch Google. Aber das mit den Fässern war mir nicht ganz klar.

    „Wieso muss er denn Fässer tragen?" Eine etwas blöde Frage, sie rutschte mir einfach so raus, aber ich kenne keinen, der Fässer trägt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, warum man so etwas machen sollte.

    „Mein Vater hat ’ne Kneipe, meinte Ana leicht genervt, „und dort wird, wie das in Kneipen so üblich ist, Bier getrunken, und das kommt normalerweise aus Fässern. Wenn die geliefert werden, muss man die leeren Fässer zum Wagen transportieren und die vollen irgendwie in den Keller der Kneipe. Man trägt die Fässer nicht, aber alleine fürs Bewegen braucht man schon etwas Kraft. Ich schaffe das nicht. Bei der Arbeit hat sich mein Vater den Bruch geholt, und der hat sich mit der Zeit immer mehr verschlimmert. Früher hat ihm mein Bruder geholfen, aber der ist jetzt seit einem Jahr weg, und seitdem muss er die Fässer wieder selber hin und her schieben.

    „Ach so, schon wieder so eine megablöde Antwort von mir, aber um meine Sprachlosigkeit etwas zu überdecken, fragte ich Ana: „Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast, wo ist der denn, wenn er nicht mehr da ist?

    „Bei der Bundeswehr, war ihre Antwort, und da ich sie, weiterhin ohne eine Idee einer einigermaßen sinnvollen Erwiderung, erstaunt ansah, ergänzte sie: „Er ist dort freiwillig, für zwölf Jahre und jetzt schon seit knapp einem Jahr. Darauf wusste ich erst recht nichts zu sagen. Also zum Bund zu gehen und das gleich für zwölf Jahre, das war für mich wie zum Mond mal eben übers Wochenende jetten, weit außerhalb jeder Vorstellung. Mein Vater war zwar beim Bund gewesen, das mussten die früher alle, davon hat er jedoch nie viel erzählt. Es gab irgendwo ein paar Fotos, aber bis auf ein Wappen von der Einheit, bei der er gewesen war, gab es sonst nichts, was an die Zeit erinnerte. Dieses Wappen hängt versteckt in seinem Arbeitszimmer an der Seitenwand des Aktenschrankes; wenn man es abnimmt, kann man auf der Rückseite lesen, woran es erinnern soll. Ich muss mir das Ding mal wieder ansehen und nachlesen, wo mein Vater gewesen war.

    „Dann wohnt der auch nicht mehr bei euch?"

    „Nein, nachdem er die Schule geschmissen hat und nur noch bei uns in der Kneipe rumhing, gab es irgendwann bloß noch Zoff zwischen meinem Vater und ihm. Ohne Schulabschluss wollte ihn keiner zur Ausbildung nehmen, mein Vater wollte ihn auch nicht in der Kneipe haben, da ist er dann zur Bundeswehr abgehauen. Früher haben wir immer alles zusammen gemacht. Wir haben den Tag über im Hinterzimmer der Kneipe zusammengesessen, und er hat mir bei den Hausaufgaben geholfen. Aber ihm half das natürlich überhaupt nicht, seinen eigenen Schulabschluss hinzukriegen. Weil er jetzt weg ist, habe ich wenigstens ein eigenes Zimmer."

    „Vermisst du ihn?", fragte ich, denn es klang schon etwas trotzig, dieses – „jetzt habe ich wenigstens mein eigenes Zimmer ..."

    „Ja", war die etwas gereizt klingende Antwort von ihr, dabei fragte ich nur, damit das Gespräch nicht so belanglos versiegte. Weil ich nichts mehr zu sagen wusste und nicht noch mehr genervte Antworten auf meine Fragen erhalten wollte, meinte ich:

    „Tschüss dann, ich hab’s eilig, ich muss noch zum Sport", und ich beschleunigte meine Schritte.

    Dieses Gespräch fand etwa einen Monat vor der Klassenreise statt, danach sprachen Ana und ich nicht mehr miteinander. Aber jeden Morgen, wenn ich in die Klasse kam, grüßte ich sie mit einem Nicken oder knappen „Hallo", und nach der Schule sagte ich „Tschüss" zu ihr. Das war zwar keine große Kommunikation, aber schon mal hundert Prozent mehr als mit den anderen Mädchen in der Klasse. Irgendein weiteres klärendes Gespräch über unseren Klassenreiseboykott suchten weder der Lehrer mit uns noch ich oder Ana mit ihm.

    Viel Kontakt zu Mädchen oder anderen Jungs habe ich nicht, ich war nur noch im Fußballverein, dort hatten sie in unserer Altersklasse keine Mädchenmannschaft. Also in den anderen Jahrgängen gab es auch keine Mädchenelf, es fanden sich einfach nicht genug Aktive. Die wenigen, die kicken wollten, machten bei den Jungs mit. Bei den Kleinen spielten noch fünf oder sechs Mädchen in jeder Altersklasse, es wurden aber pro Jahr immer weniger, und bei uns waren nur noch zwei übrig geblieben. Andere Vereine hatten gar keine Mädchen mehr in ihren Mannschaften. Mir ist aufgefallen, dass die beiden letzten Mädchen immer gemeinsam eine Mannschaft verlassen. Das ist so ein Naturgesetz, das noch von keinem Forscher entdeckt wurde, obwohl es doch sehr offensichtlich ist.

    Die beiden letzten Mädchen bei uns in der Mannschaft waren Birgit und Susanne. Birgit war klein und rundlich, sogar einen ganzen Kopf kleiner als ich, und man bekam immer mit, wo sie gerade war, weil sie ständig kreischte oder quasselte. Dort also, wo es am lautesten zuging, war immer irgendwo Birgit. Sie wurde „Biggi gerufen, zu mehr kam man bei ihr nicht. Die andere nannten alle nur „Sanne, das hatte sich so ergeben, auch wenn sie nicht ständig redete. Sie stellte das genaue Gegenteil von Biggi dar, war sogar etwa größer als ich, und sie hatte schon einen Freund, den Tommi aus unserer Mannschaft. Tommi hieß eigentlich Tom O. Bingert. Das war auch so etwas Seltsames mit diesem Tom. Alle nannten ihn entweder „Tommi oder „Tom O. Bingert, als ob es noch viele andere Toms gegeben hätte, die man nur durch ihr Mittelinitial unterscheiden kann. Das war aber nicht so, ich kannte nur diesen Tommi. Aber das hatte

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