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Winterkater
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eBook227 Seiten3 Stunden

Winterkater

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Über dieses E-Book

Ungewöhnlich lange schon herrscht Winter. Ein Winter, der zudem mit Unheil, Kämpfen und Tod einhergeht. Die Nahrung ist knapp, und deshalb wurde Kater Vidar von "seinen" Menschen auf der Flucht ausgesetzt.
Vidar ist verletzt, halbverhungert und kurz vor dem Aufgeben, als er in der Nacht den Gesang eines fremden Katers hört. Ein Gesang so überwältigend, dass es nur der Winterkater selbst sein kann, der ihn ruft. Er gibt Vidar die Kraft, sich einem neuen Rudel anzuschließen.
Zugleich aber gibt er ihm auch eine schier unlösbare Aufgabe.
Wie kann eine Gruppe kleiner, mäusejagender Katzen es schaffen, in die Geisterwelt zu gelangen und dort jenen Feind zu bekämpfen, der die Jahreszeiten in Fesseln schlug, auf dass es wieder Frühling werden kann?
Einen Feind, der selbst die mächtige Weltenkatze besiegen konnte?
SpracheDeutsch
HerausgeberMachandel Verlag
Erscheinungsdatum28. Sept. 2020
ISBN9783959592994
Winterkater

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    Buchvorschau

    Winterkater - Tina Alba

    Winterkater

    Die Legende von den gefangenen Jahreszeiten und den gefesselten Winden

    Tina Alba

    Buch 11 der Katzenreihe

    Für Sabrina Zelezny, von der ich gelernt habe, Geschichten als etwas Lebendiges zu sehen - als scheue Tiere, deren Vertrauen ich gewinnen muss, damit sie sich von mir erzählen lassen. Und die mich gelehrt hat, mit Worten zu malen.

    Und für Joy Smith Aiken. Auch wenn sie dieses Buch wahrscheinlich nie lesen, noch nicht einmal von ihm wissen wird. Weil mit einer wunderbaren Katzengeschichte aus ihrer Feder damals alles angefangen hat.

    Und für alle Menschen, die Katzen lieben, ihre Unabhängigkeit schätzen, die ihnen eigene Magie bewundern und wissen, dass in jeder Katze ein Heiler steckt.

    Und natürlich für meine wunderbaren Inspirier-Tiere.

    ©Tina Alba 2020

    Machandel Verlag Haselünne

    Charlotte Erpenbeck

    Cover iyurchak alevtina /shutterstock.com

    Illustrationen: Maria Stezhko / Olly-art /shutterstock.com

    1. Auflage 2020

    ISBN 978-3-95959-299-4

    Ein Wort vorweg

    Geschichten sind wie scheue Katzen. Auf samtenen Pfoten kommen sie herangeschlichen und warten darauf, dass ich niederknie und ihnen die Hand entgegenstrecke. Dann nähern sie sich und schnuppern, ich kann ihre feuchten Nasen spüren, das Kitzeln ihrer bebenden Schnurrhaare. Ich höre sie schnurren und verharre reglos, denn ich will sie nicht verscheuchen. Ich will ihr Vertrauen gewinnen und warte, bis sie sich nähern, sich streicheln lassen und schließlich auf meinem Schoß zusammenrollen.

    Da liegen sie nun und erzählen mir, was sie mit sich bringen. Ihre Legenden, ihre Sagen, geboren aus tierischem Instinkt und archaischer Weisheit. Sie sind Katzen, sie sind Verbündete und Freunde des Menschen seit Jahrhunderten.

    Eine Katze zu beobachten, wie sie geht, wie sie da sitzt, so reglos und statuenstill, ist, als würde eine Geschichte zu mir sprechen. Katzen sind fleischgewordene Legenden, Worte mit Fell, Schönheit, eingefangen in Körpern aus Blut und geschmeidigen Muskeln, Geschichten, die sich auf leisen Pfoten nähern.

    Das Land, von dem ich erzählen will, mag es einst gegeben haben oder auch nicht. Die Katzen, die diese Geschichte erzählen, mag es gegeben haben oder auch nicht. Und doch ist ihre Geschichte wahr, denn in jeder Legende steckt ein Körnchen Wahrheit. In jedem Lied, das die Barden singen, in jeder Legende, die sie erzählen, lebt eine Erinnerung.

    Ich will euch also eine Geschichte erzählen. So, wie ich sie berichte, hat sie mir ein Kater erzählt. Sein Fell ist schwarz wie die Nacht, auf seiner Brust trägt er ein Büschel weißer Haare, das wie ein Schneestern in der Dunkelheit funkelt. Dieser Kater ist ein Barde, ein Legendenbewahrer, einer, der die Geschichten seines Volkes weiter trägt von Generation zu Generation, auf dass sie nicht vergessen werden. So, wie der schwarze Kater sie mir erzählt hat, will ich sie euch weitergeben, die Geschichte vom Winterkater. Auf samtenen Pfoten nähert sich die Geschichte, und wenn wir alle ganz still sind, können wir sie hören im Atem der Winde, im Schnurren der Katzen, im Tritt ihrer weichen Pfoten, die in unserem Leben Spuren hinterlassen.

    Diese Geschichte ist für den Kater, der sie mir eingeflüstert hat. Den mit den weichen Pfoten, dem schwarzen Seidenfell und den wunderbaren Zauberaugen, die grün sind und dann doch wieder gelb, je nachdem, wie das Licht sich gerade bricht in den Gedanken und Rätseln dieser Welt.

    Möge der Zauber der Katzen euch mitnehmen in die Welt des Winterkaters.

    Der viel zu lange Winter

    Sein Reich war das des Schnees, des Eises und der Kälte. Ihm gehörte der Nordwind, der die klammen, kühlen Flocken brachte und das Land mit einem weißen Tuch bedeckte, unter dem es schlief. Bis zur Tag-und Nachtgleiche. So war es immer gewesen. Immer. Bis heute. Er war Ymir. Eis leuchtete aus seinem blauen Blick, und wo er ging, gefror der Boden. Unter seinen breiten, pelzigen Pfoten knirschte der Firn. Schneeflocken tanzten in seinem Atem, setzten sich auf sein silbergraues Fell und klammerten sich an die Pinselhaare seiner großen Ohren. Was der Winterkater berührte, wurde zu Frost, was er anblickte, erstarrte in eisiger Unbeweglichkeit.

    Ymir kauerte sich auf den eisverkrusteten Felsen und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Schneeflocken tanzten in der Luft wie Insekten, wirbelten um den mächtigen grauen Kater. Seine Krallen gruben sich in knisterndes Eis und leise knirschenden Schnee. Ymir fühlte die Kälte, die der Nordwind ihm unter seinen dichten Pelz blies. Instinktiv sträubte er das Fell und kniff die Augen zusammen. Wo ist er? Wo bleibt Asmo? Er hätte schon längst hier sein müssen. Ymir hob den Kopf, blinzelte erneut und maß den Stand der sinkenden Sonne. Die Frühjahrs-Tag-und-Nachtgleiche war verstrichen, ohne dass Asmo gekommen war, um seinen Platz einzunehmen. Ymirs Schnurrhaare zitterten, als er den Wind wieder und wieder prüfte. Nein, er konnte nichts riechen von der Süße des Frühlings, nichts vom Duft der Schneeglöckchen und Krokusse, nichts von der Ahnung eines fernen Sommers. In der Luft hing nur der kalte Geruch von Schnee und Frost. Der Nordwind lachte, als er in Ymirs seidigen Pelz fuhr. Um Ymir herum war nichts als weiße, endlose Weite. Frost, der die Berge überzog, Schnee, der auf ihren Gipfeln in kaltem, klarem Sonnenlicht glitzerte. Diese Sonne brachte keine Wärme, kein Leben, ihr Licht war so silbern und kühl wie das ihrer Nachtschwester Mond, die bald ihren Platz am winterblassen Himmel einnehmen würde. Ymir hob die Nase, öffnete sein Maul und witterte, schmeckte die Luft. Er roch nichts als den Nordwind und den feuchten Schnee, den dieser Wind brachte, während seine Nase sich nach dem Duft des Frühlings sehnte, der ihm sagte, dass er bald würde ausruhen können.

    Ymir brauchte die seltsamen Zähltafeln der Zweibeiner nicht, um zu wissen, dass der Frühling schon lange überfällig war. Längst hätten Firn und Eis weichen müssen, längst hätte das erste zarte Grün sich aus dem Boden wagen sollen. Schon lange hätten die Zweibeiner ihr Frühjahrsfest feiern und dem Frühlingskater ihre Lieder singen sollen. Stattdessen kauerten sie wie geprügelte Hunde in ihren Behausungen aus Holz und Lehm, hockten um ihre Feuer herum und erzählten einander Schauergeschichten. Andere stritten sich mit ihren Rudelgeschwistern um die immer magerer werdenden Vorräte und diese seltsamen funkelnden Steine, die sie so liebten, und das kalte Erz, aus dem die krallenlosen Menschen sich Krallen bauten.

    Ymir hob seine Hinterpfote und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr, wie immer, wenn seine Gedanken auf der Suche nach einen Plan zu wandern begannen. Sein buschiger Schweif peitschte und wirbelte lockeren Schnee auf. Er war der Winterkater, einer von vier Boten der Geisterwelt, die der Welt den Wechsel der Jahreszeiten brachten. Er kannte es nicht anders, wusste keine andere Lösung, er konnte nur warten, bis sein Bruder Asmo kam, um seinen Platz einzunehmen und den Frühling zu bringen, so wie Asmo auf Siw, die Katze des Sommers, warten würde, wenn es an der Zeit war. Und Siw würde herrschen, bis sie Platz machen musste für Gefion, mit der Herbst, Ernte und frohe Feste kamen.

    Etwas war nicht richtig in diesem Jahr.

    Noch nie hatte Asmo sich verspätet.

    Unschlüssig scharrte Ymir im Schnee. Sollte er ungehalten sein, weil sein kleiner Bruder seine Pflichten missachtete? Wo steckte der getigerte Jungspund mit den grasgrünen Augen, unter dessen Pfoten das Leben spross, sobald er an Ymirs Stelle das Land durchstreifte? Ymir wusste, dass die Zweibeiner bereits Opfer gebracht hatten, um den Frühling zu rufen. In jeder der Ortschaften, die Ymir auf seiner Wanderung durchstreift hatte, hatte er den Duft frischen Blutes auf den Opfersteinen gerochen, war ihm das Aroma verbrannter, getrockneter Blumen des vorangegangenen Jahres in die Nase gestiegen. Gaben, die Asmo niemals verschmähen würde.

    Doch Asmo war nicht gekommen, obwohl warmes, dampfendes Blut das Eis auf den Steinen weggetaut und die Asche der Blumen den Schnee grau gefärbt hatte. Er war nicht erschienen, obwohl die Zweibeiner ihre Lieder gesungen hatten, um ihn zu rufen, Weisen, die so alt waren wie das Land selbst und so ursprünglich wie die Gesänge seiner Katzen, die die gefrorenen Wälder durchstreiften wie Schatten aus frostigem Nebel. Ymir stieß in einem resignierten Schnurren den Atem aus, der vor seinem Maul eine Wolke formte und als feiner Eisnebel zu Boden sank. Je länger Ymir gezwungen war, durch das Land zu wandern, umso länger würde dieser viel zu lange Winter dauern. Er legte den Kopf in den Nacken und sang seinen Ruf in die hereinbrechende Nacht. Wenn die Menschen Asmo nicht herbeisingen konnten, dann vermochte er es vielleicht.

    Doch sein Rufen verklang in der Stille sanft fallender Schneeflocken. Nur einige streunende Katzen antworteten ihm. Ymir hatte diese Wilden gesehen, dicht bepelzte, langhaarige Geschöpfe mit Eis im Fell, die unter ihrer Wolle ausgezehrt, mager und hungrig waren. Ymir bohrte die Krallen in den Schnee und verfluchte sein Schicksal. Er konnte nichts tun, nur sein Lied konnte er singen und hoffen, dass Asmo ihn hörte und kam. Denn erst wenn Asmo in der Welt der Lebenden wandelte, konnte er zurück in die Welt der Geister – erst, wenn Asmo sie verließ, würde Ymir den Übergang finden. So war es immer gewesen und so würde es immer sein. Zu versuchen, die Mauer zu durchbrechen, würde einem Frevel gleichkommen. Dennoch …

    Ymir kniff die Augen zusammen und schüttelte sich. Frevel hin oder her, er hatte keine andere Wahl. Mit geschlossenen Augen sammelte er seine Gedanken, verwandelte sie in eine scharfe Kralle und kratzte an den Schleiern, die die Welten von Sterblichen und Geistern voneinander trennten. In seinen Ohren knirschte und schrillte ein Ton wie von Vogelkrallen auf einer Eisfläche, als seine Kralle auf eine Mauer aus schwarzem Frost traf. Ymir erstarrte. Es fühlte sich falsch an. Diese Wand durfte nicht hier sein, nicht diese Kälte, nicht diese Schwärze.

    Zurück, Winterkater! Du hast hier nichts verloren! Bleibe, wo du hingehörst, und sieh die Schönheit deines ewigen Firns!

    Ein Dorn formte sich aus der eisig schwarzen Mauer, stieß beinahe in Ymirs Brust. Mit einem Schrei fuhr er zurück, starrte mit aufgerissenen Augen und gesträubtem Fell auf ein Stück schwarzen Eises, das er angeekelt von seinen Krallen schleuderte. Was war das? Ich weiß, ich hätte es nicht versuchen dürfen, aber das … das kenne ich nicht … Ymir schauderte. Er wusste, wie Winterkälte sich anfühlte. Dieses schwarze Eis war nicht wie sein Winter, der einen frieren ließ und doch an einem warmen Platz wieder tauen konnte. Das hier war Eis, das die Seele gefror. Ymir jaulte, hob den Kopf, verwandelte, was sich in sein Inneres krallen wollte, in einen weiteren Ruf nach seinem Bruder mit den grünen Augen.

    Wieder antwortete einer der Wilden auf Ymirs Lied. Die Stimme des Wilden hob sich über Wind und Eisklirren, als hoffte sie darauf, den Winter zerschlagen zu können. Ymir spitzte die Ohren und lauschte, seine Schnurrhaare stellten sich wie von selbst in einem weiten Halbkreis auf, um jede noch so feine Schwingung des Katergesangs aufzufangen. Ein Beben durchlief den Winterkater, als er begriff, wem eine solch tragende Stimme gehören musste, die klang, als würden in ihr alle Geschichten, die jemals erzählt, alle Lieder, die jemals gesungen worden waren, mitschwingen. Dieser, das erkannte Ymir, als er sich vom Gesang des Fremden einhüllen ließ, trug einen Zauber in seinem Gesang.

    Entschlossen schüttelte Ymir den Mantel aus Schnee von seinen mächtigen Schultern und betrat auf weichen, dicht bepelzten Pfoten den Wald. Er musste diesen fremden Sänger sehen, ihm folgen, ihm seine Gedanken senden. Denn wer so singen konnte, der konnte mit seinem Lied auch die uralte Magie wirken, die in jeder Katze schlief, die aber nur wenige Auserwählte in ihrer ganzen Kraft ausschöpfen konnten. Die Gewissheit keimte in Ymirs Seele – er brauchte diesen Fremden, um den Frühling zu finden.

    Der Wanderer

    Vidar beendete sein Lied und versuchte, sich den Schnee aus dem Pelz zu schütteln. Unmöglich. Die klammen, feuchten Flocken hingen wie lästige Zecken an seinem langen Fell und bildeten schwere Klumpen. Nur ein Gutes hatte die Kälte. Sie betäubte den Schmerz in seinem Bein, den auch sein Lied und ein Schnurren nicht mehr hatten besänftigen können, und ließ das Blut langsamer fließen. Dennoch rann es in zähen, dunklen Tropfen und bildete eine kleine Lache, dort, wo Vidar gesessen und dem Lied des fremden Katers geantwortet hatte. Wie der klagende Schrei eines Raubvogels hatte es sich über den Wald erhoben, war zwischen den Bäumen herumgestrichen und hatte Vidars Herz gefunden. Und berührt. Vidar wusste nicht, wer der Fremde war, aber er hatte es nicht über sich gebracht, ihn allein singen zu lassen.

    Jetzt schwieg der Fremde. Vidar bewegte lauschend die Ohren, aber da klang nichts mehr vom Gesang des anderen Katers in der Luft. Nur der allgegenwärtige Nordwind wisperte hämisch im eisüberkrusteten Geäst und sagte Vidar, dass der Winter noch lange nicht enden würde.

    Steif erhob Vidar sich und streckte vorsichtig Glieder und Rücken. In seinen Eingeweiden wühlte der Hunger. Seit seinem Zusammentreffen mit diesem dürren, ebenfalls halb verhungerten Wolf, der einen allein ziehenden Kater für leichte Beute gehalten und ihm mit einem Biss den Hinterlauf aufgerissen hatte, hatte Vidar nicht mehr jagen können. Dem Wolf war er mit knapper Not entkommen, aber das verletzte Bein behinderte ihn, und selbst die lahmste, aus dem Winterschlaf gegrabene Feldmaus war geschwinder als er. Er musste dringend Nahrung finden, ansonsten hatte mit seiner Antwort an den fernen Fremden sein letztes Lied gesungen. Vidar hob die Nase in den Wind, flehmte – und erstarrte. War das wirklich Rauch, was er da roch? Er schnupperte tiefer, spreizte die Schnurrhaare und sog die kalte Luft in seine Lungen. Tatsächlich, er roch den Rauch, schmeckte ihn auf der Zunge und fühlte ihn in seinen Gedanken. Für einen Moment schloss er die Augen und erlaubte seinen Erinnerungen, ihn zu umarmen. Er war nicht immer ein Wilder gewesen. Einst hatte er unter Zweibeinern gelebt, ihre Vorräte vor den frechen Nagern beschützt und dafür an ihrem Herd schlafen dürfen. Er erinnerte sich an frisches Fleisch, das sie ihm zugesteckt hatten, noch warm und blutig, und an Schalen mit süßer Sahne. Der lange Winter hatte die Zweibeiner aus ihrem Dorf vertrieben. Ihre Vorräte und ihr Vieh hatten die vier Familien mitgenommen, nicht aber den schwarzen Kater, von dem sie wohl geglaubt hatten, er könne sich schon allein durchschlagen. Vidar erinnerte sich an ein kleines rothaariges Zweibeinermädchen, das geweint hatte, als die Mutter ihn vom Karren in den Schnee gescheucht hatte. Ein Kater konnte jagen, er brauchte niemanden, der ihm Futter hinstellte. Er war ein Raubtier, er würde überleben. Vidar schnaubte. Ein angeschlagenes Raubtier, das selbst zur Beute wird, wenn es nicht bald Beute findet. Er scharrte Schnee über den Blutfleck, wohl wissend, dass das den Geruch nicht lange verbergen würde, und humpelte vorwärts, immer dem Rauchduft nach.

    Vidar hielt inne, als er den Feuerschein aufflackern sah. Zwischen den Bäumen am Waldrand hindurch spähte er auf eine Lichtung. Raue Felsen erhoben sich in ihrer Mitte zu einem unförmigen Hügel, aus dem es dampfte und gluckerte – eine heiße Quelle, Vidar konnte ihren unverkennbaren Gestank nach faulenden Eiern riechen. Sie mochte der Grund sein, warum das kleine Gehöft mit drei Hütten und Scheune, die sich in den Schatten zweier schneebedeckter, windschiefer Tannen kauerten, noch bewohnt aussah. Hinter den mit Leder bespannten Fensteröffnungen ahnte Vidar den Feuerschein, und aus der Scheune neben dem kleinen Haus drang … Vidar kauerte sich unter weißgepuderte Büsche und schnupperte. Seine Schwanzspitze zuckte. Der Wind streifte die Scheune bei seinem Weg in Vidars Nase, und er trug ganz eindeutig Katzengeruch mit sich. Vidar keckerte leise. Die kalte Brise verriet ihm, dass auf diesem Hof mehr als vier Katzen leben mussten, eine davon roch süß und mild nach Muttermilch, mindestens zwei waren ausgewachsene Kater. Ein weiterer Geruch streifte Vidars Sinne, wie trockenes Laub und Walderde. Katzen! Geduckt blieb Vidar sitzen, sein Schwanz peitschte durch den Schnee. Die Zahmen konnten in einer warmen Scheune sitzen, sicherlich lagerten die Zweibeiner dort Stroh, vielleicht hielten sie Nutztiere, deren Körper die Luft noch zusätzlich wärmten. Hin und hergerissen leckte Vidar seine wunden Vorderpfoten. Vielleicht gaben die Zweibeiner ihren Zahmen von ihrer Nahrung. Endlich wieder einmal satt werden, endlich wieder einmal an einem sicheren Ort schlafen, mit etwas Glück vielleicht Fell an Fell mit einer anderen Katze. Vidar biss in seine Krallen, um nicht frustriert aufzujaulen. Dieses Revier gehörte seinem allgegenwärtigen Duft nach einem kräftigen Kater, der eine Mutter mit Jungen schützen musste. Er würde Vidar wie jeden anderen Eindringling verjagen.

    Vidar fühlte ein Kribbeln in den Hinterpfoten, spürte, wie seine Muskeln sich wie von selbst spannten, um ihn aus seinem Versteck mit einem Satz vor die Brettertür der Scheune zu bringen. Wie soll das hier schon ausgehen? Hier draußen bringt mich mein Bein um oder der Hunger, oder ich friere mich zu Tode. Wenn ich

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