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Bauernkanari. Historischer Roman - Ein Jahrhundertleben auf dem Lande
Bauernkanari. Historischer Roman - Ein Jahrhundertleben auf dem Lande
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eBook419 Seiten6 Stunden

Bauernkanari. Historischer Roman - Ein Jahrhundertleben auf dem Lande

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Über dieses E-Book

Das Landleben im 20. Jahrhundert blättert sich auf mit der Bäuerin Klara im Mittelpunkt des Geschehens. Sie lässt den Leser überall dabei sein: auf dem Melkschemel unter einer Kuh, wenn der Wunderheiler kommt, die Kühe sich mit Klara unterhalten wollen, die große Liebe anklopft, der Bauernkanari singt, die Jauche beim Ausmisten tropft und am Ende noch das neue Jahrtausend begrüßt wird. Klara, die nicht nur in der Liebe gesellschaftliche Schranken überspringt, braucht ihre Charakterstärke, um dem Dorftratsch zu trotzen, die Wogen scheinbar zu glätten; doch wer sie kennt, und der Leser lernt sie kennen, wird ihr schelmisches Lächeln entdecken, weiß, dass sie anderes im Schilde führt. Sie nimmt ihr Leben in die Hand, dirigiert es durch dieses bewegende Jahrhundert und findet es viel zu schön, um es einfach zu vergessen.

Die Jahrhundertbiographie einer eigenwilligen Frau, deren Träume über den Horizont der Lüneburger Heide bis zum Himmel reichen. Der Vater beschließt ihre Ehe, was ihr einen ansehnlichen Hof beschert und eines Tages die große Liebe. Bis sie ihren Grabgesang festlegt, ist sie einem mit ihrem natürlichen Charme längst ans Herz gewachsen. Ein sprachlich leicht und angenehm vergnügliches Romandebüt von Gisela Stammer.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Sept. 2020
ISBN9783960450993
Bauernkanari. Historischer Roman - Ein Jahrhundertleben auf dem Lande

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    Buchvorschau

    Bauernkanari. Historischer Roman - Ein Jahrhundertleben auf dem Lande - Gisela Stammer

    Dirk

    Erstes Kapitel: Das erste Lebenszeichen von Klara

    Das erste Lebenszeichen von Klara war ein seltsames Gefühl im Bauch ihrer Mutter, als die frühmorgens dabei war, die Kühe zu melken. Sie saß mit stramm im Nacken zusammengebundenem Kopftuch auf dem Melkschemel unter einer Kuh und begegnete diesem tiefen Grummeln aus ihrem Innern mit Widerwillen, ihr Gesicht verzog sich, nicht nur, weil es lauter wurde in ihrem Magen, sondern vor allem, weil es an Heftigkeit zunahm und sie zwang, vorzeitig unter der Kuh hervorzukommen. Hätte es denn nicht Zeit gehabt, bis sie fertig war mit dem Melken? Sie hielt den Melkeimer rechts, den Melkschemel links, beugte sich über die Mistrinne, würgte Schleim heraus und wischte sich den Mund, da sie beide Hände voll hatte, am Kragenzipfel ihrer Melkjacke ab. Dann setzte sie sich wieder und molk weiter.

    „Ja, is ja gut! Is ja gut!, sagte sie beruhigend zur Kuh, damit die nicht ausschlug. Erst jetzt kam der Gedanke, dass sich mit diesem Grummeln vielleicht doch schon wieder jemand bei ihr ankündigen wollte. Lächelnd streichelte sie über den Bauch der Kuh, die sich nun etwas verwundert nach ihr umsah. Vielleicht würde es dieses Mal ein Mädchen werden, das ihr, wenn es größer wäre, gut zur Hand gehen könnte bei der vielen täglichen Arbeit? Denn noch ein dritter Junge, zwei hatten sie doch schon, das wäre ja auch nichts. Die nachfolgenden Jungen würden ohnehin kaum etwas vom Bauernhof erben, weil alles an Heini junior, ihren Stammhalter, fiel. Das war durchaus ein Problem, und ihr ging sogar die Befürchtung durch den Kopf, dass die später geborenen Söhne dann, wie ihre drei Brüder, irgendwann nach Amerika auswandern würden. „Ne, ne, dann doch jetz vielleicht ne Deern? – Schließlich schüttelte sie unwirsch den Kopf und beschloss, der ganzen Sache noch Zeit zu geben. Und außerdem, weshalb dachte sie jetzt beim Melken darüber nach? Sie musste ja die anderen drei der vier Kühe noch melken, denn inzwischen erwartete die neue Molkerei in Schlöse pünktlich die vollen Milchkannen. Dem kam man durchaus gerne nach, denn dafür hatte man nicht mehr das lästige Zentrifugieren und Buttern, nur noch die Milchkannen hereinholen und abwaschen, fertig.

    „Mensch, was geht uns das jetz doch gut!"

    Die Oldinger Frauen hatten aufgeatmet, als die Molkerei ein Jahr zuvor, im Jahre neunzehnhundertsieben, endlich fertig geworden war. Und nicht nur die. Alle Bauersfrauen aus dem Kirchspiel Schlöse, die aus Oldingen, Ültschen, Hedenbruch, Drögenheide, Hassel, Belldorf und Lichten waren erleichtert gewesen. Die Männer ließen von nun an das Molkereigeld stolz in knisternden Scheinen durch die Finger gleiten. Aber eine Molkerei, das hieß auch keine Zeit vertrödeln, sondern die Milchkannen pünktlich vor der Tür zu haben, damit der Milchwagenfahrer sie mitnehmen konnte.

    Klaras Mutter kam allerdings nicht weiter. Die Botschaft aus ihrem Bauch setzte gleich wieder mit solch einer Heftigkeit ein, dass sie sich sofort, gerade hatte sie die Milch durch ein Sieb in die Kanne gegeben, wieder über die Mistrinne beugen musste. Klara, der winzige Fötus, von dem damals noch niemand ernsthaft dachte, dass er Klara werden würde, sie selber wohl am allerwenigsten, machte es sich in ihrer Mama, der Sophie Petersens, bequem. Die Unannehmlichkeiten beim Melken störten das keimende Leben in keiner Weise. Es empfand nur wohlig, dass es als Tochter bereits sehnsüchtig erwartet wurde.

    Die Raumnahme im Mutterleib war einige Wochen später auch äußerlich nicht mehr zu übersehen.

    „Sach ma, is bei eurer Sophie schon wieder was unterwegs?, fragte Dehnken Anna Klaras Oma, „sie sieht ja ganz danach aus.

    Klaras Oma nickte und gleich verbreitete sich diese Neuigkeit in Oldingen, diesem kleinen, verträumten Dorf.

    Als Klaras Oma in ihr altes Bauernhaus zurückgekehrt war und vom Kuhstall in die Küche kam, wollte sie das Mittagessen kochen, musste aber erst einmal die in die Sahneschicht der Dickmilchschüsseln eingesunkenen, um ihr Leben zappelnden Fliegen, die immer vom Stall mitkamen, herausfischen und in den Schweineeimer werfen, bevor sie den großen Topf mit Kartoffeln aufsetzen konnte.

    Dehnken Anna war dagegen eben schnell über die Dorfstraße zu Rollhagen Emma von schräg gegenüber gelaufen, um das Neueste weiterzugeben und schon ging die Nachricht, dass Klaras Mutter wieder schwanger war, die Dorfstraße hinauf: von Rollhagens zu Bostelmanns, von Bostelmanns zu Cohrs, von Cohrs zu Meiners, von Meiners zu Grüners, von Grüners zu Tietjens, von Tietjens zu Höltjens und dann auf der anderen Seite wieder zurück: von Röhrs zu Jührs, von Jührs zu Homes, von Homes nicht direkt zu Duwes, denn bei Duwes, das sollte hier erwähnt werden, wurde das Neueste über den Nachwuchs bei Petersens erst einmal nicht von Bauersfrau zu Bauersfrau weitergegeben, weil Nachwuchsneuigkeiten Frauenangelegenheiten waren, sondern viel später erst, als Duwes Marie, die die Arbeit vom Bauern übernommen hatte, vom Feld kam.

    Der Bauer selber, Duwes Friedo, saß Anfang April, das musste man sich einmal vorstellen, tagsüber im Korbstuhl neben der Dielentür und hielt seine Krücken in der Hand. Das hatte er nun davon! Hatte er doch tatsächlich zwischen Weihnachten und Neujahr Mist auf dem Feld gestreut! So etwas machte kein Mensch in dieser Zeit, weil man damit das Glück verstreute, und Wäsche durfte man auch nicht waschen! Alle im Dorf hatten den Kopf über ihn geschüttelt, aber er hatte herumgetönt, dass ihn das doch nicht stören würde. Und prompt, zwei Wochen nach Neujahr, kam die Quittung: Er brach sich das Bein mit einem ganz komplizierten Bruch, musste wahnsinnig viele Schmerzen erdulden und jetzt immer noch mit seinen Krücken herumhantieren, und deshalb war Homes Erna auch nicht bei Duwes gewesen, um das Neueste weiterzugeben, sondern einen Hof weiter bei Helmers, den Nachbarn linker Hand von Petersens.

    „Was?! Bei Petersens is schon wieder was unterwegs?"

    „Ja, Petersens Heini und Sophie, die habns bannig hill!"

    Man hatte in Oldingen endlich wieder etwas zu reden. Andere Leute hatten es in dieser Hinsicht auch hill oder noch hiller, was „eiliger" heißt, und das waren Tietjens, die wie die Orgelpfeifen eine Riege von Kindern gezeugt hatten, jedes Jahr eines, neun Stück waren es schon. Jührs hatten sieben, aber sonst gab es üblicherweise eher zwei bis drei Kinder in einer Familie.

    Eiliger im wahrsten Sinne des Wortes hatten es ganz andere Leute: Vorne weg der Fabrikant Welleyn aus Schlöse, der als Erster überhaupt, das war vor dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, mit einem Fahrrad durch die Straßen gefahren war, und zwar so, dass noch Jahre später davon gesprochen wurde. Jetzt, im Jahre neunzehnhundertacht, hatte er als erster ein Auto; das wunderte keinen, und damit ist er nicht nur in Schlöse herumgefahren, nein, er behauptete, dass er mit seinem Auto schneller in Altenburg wäre als mit der Eisenbahn; aber besonders aufregend an einem Automobil war, dass es überall hinkam. Und mittlerweile fuhr nicht nur er. Es gab im Kirchspiel Schlöse, zu dem Oldingen gehörte, schon ein paar von diesen Kraftfahrzeugen, nicht zuletzt, weil damals in der Nähe von Altenburg solche Höllenmaschinen, wie Klaras Oma sie zuerst genannt hatte, gebaut wurden, und wenn sich dann jemand mit so etwas in Oldingen verirrte, das mit seinem Brummen und Knattern und Fauchen das Brummen der Brummer zwischen Kuhstall und Küche deutlich übertönte, dann standen alle mit offenen Mündern da. Vor Schreck fielen den Bauern die Eimer klappernd zu Boden und manche Mistkarre kippte auf den Hof. Das war aber nur am Anfang so, als man sich noch an das Singen und Summen und Heulen der Telefonleitungen gewöhnen musste, die zu Grüners Anschluss und zur öffentlichen Fernsprecheinrichtung bei Höltjens Fidi führten. Und dann kam plötzlich ein Auto herangefaucht! Kaum war das verkraftet, sprach man schon von jener elektrischen Kraft, die auf wundersame Weise ganze Häuser in den Städten erleuchten könne. Auf dem platten Lande in Oldingen ließ das aber nun noch fünfzehn Jahre auf sich warten. Grüners natürlich, die immer fast alles zuerst hatten, besaßen eine Dreschmaschine, wie sie Jahre zuvor auf der großen Weltausstellung zu sehen gewesen sein soll, von der aber keiner wusste, wie und von was sich dieses Ungetüm denn bewegen konnte:

    „Oder isses doch Dampf?"

    „Ne, kein Dampf, das hatn doch heut schon gar nich mehr, das soll doch schon wieder was ganz Neumodisches sein, son Motor."

    „Etwa so was wies auch in’n Autos rumklappert und töst?"

    „Und bei Grüners inne Riesnmaschine, da inne Dreschmaschine, da isses auch drin!"

    „Ja, genau, dann dreht sich das und dreht sich das …"

    „Nee, Mensch, das is doch noch ganz anders."

    „Junge, Junge, wenn das man mit rechtn Dingn zugeht!"

    „Doch, doch, ich hab das selber gehört und gesehn hab ich das auch, so ne Riesndreschmaschine!"

    Helmers Hein breitete seine Arme ganz weit aus, als er das sagte von der Riesenmaschine, der man in Windeseile, auf keinen Fall zu langsam, die Getreidegarben in den hungrigen Rachen schmeißen musste, nicht mehr so wie sonst, eine Forke gemächlich nach der anderen, von oben, von ganz hoch oben vom Wiemen in der Scheune, mit „Nu mach man nich zu doll!", heruntergeschmissen. Nein, die Uhren begannen dort an den Maschinen schneller zu gehen, mithin die gemeine Zeit auch. Von innen her begann sie den Leuten zuzuflüstern, dass sie bloß nicht zu langsam sein sollten, schnell, schnell, weil so ein riesiger Apparat sonst leer läuft, und was das kostete – und dass unbedingt heute und nicht morgen, die ganze Drescherei, die sonst Wochen gedauert hatte, fertig sein müsste.

    Selbst Klara, die sich im Bauch ihrer Mutter mittlerweile prachtvoll entwickelte, bekam von diesem Zeitgeflüster mit dem „Schnell, schnell" bereits genügend mit, um später mit dem Takt der Zeit Schritt halten zu können.

    Und wenn man in Oldingen munkelte, dann munkelte man vor allem sonntags morgens, wenn die Bauern, Klaras Vater mittendrin, ihren Frühschoppen bei Höltjens Fidi tranken. Alle redeten dann wild durcheinander und bestellten in ihrer Erregung gerne noch schnell einen weiteren Schluck, bevor sie zum Mittagessen nach Hause gingen und es in der Wirtsstube wieder still wurde.

    Geschichten über die Nachbarn gehörten dazu wie das tägliche Aufrappeln beim morgendlichen Hahnenschrei, dann bölkten die Kühe, Eimer klapperten, die Schweine schrieen um die Wette, Kühe und Schweine trappelten über die Straße auf dem Weg zur Weide, die Rufe der Bauern hallten laut über die Höfe, Pferdehufe klackten auf dem Kopfsteinpflaster so lange, bis abends endlich alles wieder zur Ruhe kam.

    Im Schatten stolzer alter Eichen führte die Kopfstein gepflasterte Dorfstraße durch das kleine Oldingen, welches ungefähr einen Kilometer abseits der Hauptstraße zwischen Schlöse und Welförde lag. Blühender Flieder im Frühsommer und Holunder gediehen zwischen den Bauernhöfen wie wild. Hölzerne Lattenzäune umfingen üppige Gärten. Viele Häuser waren noch mit Reet gedeckte Fachwerkgebäude, andere schon mit roten Ziegeln belegte Backsteinbauten.

    Klaras Mutter trug inzwischen schwer an ihrem Bauch. Von Klara selber sprach jedoch immer noch keiner, geschweige denn von ihrem Namen. Sie meldete sich allerdings regelmäßig bei ihrer Mutter mit kräftigen Knüffen gegen die Bauchdecke. Es war mittlerweile Herbst. Angenehm war der dicke Leib keineswegs beim Aufsammeln der Kartoffeln auf dem langen Acker. Die schweren Körbe, das ständige Bücken, Klaras Mutter war froh, als die Ernte endlich im großen Kartoffelkeller und in der Miete lagerte. Die Tage wurden kühler und kürzer, es kehrte wieder mehr Ruhe ein, um die Beine auf die Fußbank zu stellen und das Spinnrad hervorzuholen.

    November. Stürmisch, wie es nun einmal im November sein kann, pfiff der Nordweststurm und rüttelte am Reetdach und dem alten Fachwerkgebälk. Es war Donnerstag, der fünfte November neunzehnhundertacht, während Klaras Mutter Bratkartoffeln mit fettem Speck in der Pfanne wendete und ihren beiden kleinen Söhnen Heini und Hermann das eine oder andere Stückchen von dem kalten, fetten Speck zukommen ließ. Sie dachte bei sich, dass es wohl bald losgehen könnte, aber es schien doch noch nicht ganz so weit zu sein. Man weiß es ja nie genau, ob der Nachwuchs nun heute, morgen oder in einer Woche kommt. Mit diesen Gedanken saß sie kurze Zeit später auf dem Sofa in der Stube, sie hatte nicht einmal einen Strumpf zum Stopfen oder sonst eine Handarbeit in der Hand, was schon alarmierend hätte wirken können. Sie ließ sich stattdessen von Klaras Vater die Zeitung vorlesen und erfuhr, dass schon wieder ein Luftschiff in Friedrichshafen …, und dass dieses Mal der Kronprinz sogar mitgefahren sei und auch, dass schon wieder eine Seuche im Anmarsch war, die Maul­ und Klauenseuche.

    „Ne, ne, ne, bloß keine Seuche!"

    Und weil Klaras Mutter so sehr dabei stöhnte, schwenkte ihr Mann begütigend zu einem Thema um, das sie gerne hörte, er las ihr die Anzeigen vor und besonders laut die mit dem Niersteiner Wein:

    „Ach hier, kiek ma einer an, Niersteiner Wein, den machste doch so gerne. Sechs Flaschn im Karton per Nachnahme! Klaras Oma, die immer mit in der Stube war, guckte skeptisch, und wenn sie zu Wort gekommen wäre, hätte sie sicherlich gesagt, „Na, tut das denn nu nötig?, aber sie kam nicht zu Wort, denn Klaras Vater, als er die Anspannung seiner Frau bemerkte, sprach schnell weiter:

    „Da könn’n wir uns doch schön’n Karton von bestelln, und wenn denn alles rum is, dann stoßn wir schön dadrauf an."

    Klaras Mutter bekam tatsächlich wieder ihr hübsches Lächeln ins Gesicht. Die Geschichte mit dem Wein sollte aber nicht missverstanden werden, eine Überraschung war so ein Geschenk nicht, es gab nicht nur bei dieser Geburt eine kleine Aufmerksamkeit für Klaras Mutter, nein, als Heini, der Stammhalter, auf die Welt gekommen war, hatte Klaras Vater ihr eine wunderschöne Brosche mitgebracht, die sie sich seitdem sonntags zum Kirchgang ansteckte. Hier, bei der dritten Geburt so kurz nach der des zweiten Sohnes, war Klaras Vater von der Idee mit dem Niersteiner Wein überhaupt nicht mehr abzubringen.

    „Und wenns ne Deern wird, im Dorf hatte man sich dieses Mal übrigens mit den Prognosen zurückgehalten, aber Klaras Eltern waren sich unausgesprochen einig, dass es eine Deern werden sollte, „ja, Sophie, und wenns denn ne Deern wird, dann bestelln wir uns gleich zwei von’n Kartons vom gutn Niersteiner, sollst mal sehn.

    Weiter konnte Klaras Vater nicht sprechen, denn kurz nachdem er das erste Mal Niersteiner gesagt hatte, bemerkte Klaras Mutter, dass es losging, und es ging dann so heftig los, dass sie spätestens bei „Deern" ganz laut geschrien hatte:

    „Ouuuuuuuuu! Ich glaubs geht los, Willy! ’S geht los!"

    Klara wollte offenbar keinen Augenblick länger auf sich warten lassen. Man weiß nicht, ob nun der Niersteiner Rheinwein, den Klaras Vater gerade vor ihrer Geburt ins Spiel gebracht hatte, tatsächlich einen Einfluss auf ihr Leben ausübte, oder womöglich eher der Satz, „Da könn’n wir doch schön’n Karton von bestelln und man schön dadrauf anstoßn, denn „schön sollte später zu einem von Klaras Lieblingswörtern werden, fest steht jedenfalls, dass Klara den Rhein, als sie ihn endlich zu sehen bekam, wunderschön fand und Rheinwein später richtig genießen konnte. Klaras Mutter jedoch, die zeitlebens nie so weit gekommen war und im Vergleich zu Klara nur ganz selten Wein zu trinken bekam, konnte in dem Augenblick überhaupt nicht mehr an den Niersteiner denken, von dem ihr Mann gerade geschwärmt hatte, ihr schmerzvolles „Ouuuuuuuuu!" schwoll immer wieder an und schon rief sie laut:

    „Ich glaubs geht ganz schnell, ganz schnell, Willy! Ganz schnell!"

    Klaras Oma heizte in Windeseile unter dem Küchenherd tüchtig ein, der Vater rannte zu Höltjens Fidi zum Telefon, aber weil es dunkel war und außerordentlich stürmisch dazu und damit alles schneller ging, das hatte Sophie, seine Frau, ja extra noch gesagt, so schrie er in den Hörer:

    „Anni! Ich komm dir mit’n Wagn entgegn!"

    Bei diesen Böen hätte Schwester Anni aus Schlöse, die Hebamme, die sonst so schnell keiner einholen konnte, mindestens dreimal so lange wie gewöhnlich mit ihrem Fahrrad gebraucht. Der Vater holte hastig sein Pferd aus dem Stall, die gute Lotte, spannte sie vor den Ackerwagen und jagte in die Dunkelheit. Er musste gründlich Ausschau halten, damit er nicht versehentlich an der mit Rad und Wind um die Wette schaukelnden Schwester Anni vorbeifuhr.

    In Oldingen war Dehnken Anna in der Zwischenzeit herübergerufen worden und saß an der Seite von Klaras Mutter, bis Klaras Vater mit der durchnässten Schwester Anni endlich eintraf. Sie brauchte erst einmal einen ordentlichen Tarras mit doppeltem Schluck, um wieder auf die Beine zu kommen.

    Klaras Vater lief wie üblich, wenn ein Kind kam, zwischen Kuhstall und Küche hin und her, an der bereitgestellten Wurst und der Schnapsbuddel ab und zu Halt machend. Er kratzte sich am Kopf, strich sich sacht den Schnurrbart und drehte die nächste Runde. Doch es dauerte noch eine Stunde und noch eine, Dehnken Anna wollte gerade sagen:

    „Na, heut wird da wohl nichts mehr von werdn."

    Es war schließlich schon viertel vor zwölf, als plötzlich Schwester Anni rief:

    „Ne Deern! Ne Deern! Ne ordntlich stramme Deern!"

    „Ne Deern, ne Deern!"

    Klaras Oma gab es zum Kuhstall weiter.

    „Ne Deern? Wirklich ne Deern?"

    Klaras Vater wollte es kaum glauben, und er lief hinaus in die Dunkelheit, in den Novembersturm, der weiter am Haus rüttelte und um die Ecken blies und schrie es hinaus:

    „Ne Deern! Ne Deern!", obwohl doch kein Nachbar ihn mehr hören konnte, weil sie alle schon schliefen. Da war sie! Sieben Pfund schwer.

    „Junge, was hat die Deern das mitn Mal bannig eilig gehabt!, meinte Schwester Anni, „Da konnt man ja gar nich so schnell guckn und schon war se da. Mit ein’m Schwung!

    Sie. Klara. Die kleine Klara, die sich den bestmöglichen Zeitpunkt herausgesucht hatte für ihre Reihenfolge innerhalb der Geschwister. Denn wenn man als Mädchen auf einem Bauernhof die erste war, hatte man doch nichts davon. Den Hof erbte immer der erste Sohn, deshalb war ein Mädchen zu dem Zeitpunkt auch nicht erwünscht. Naja, nächstes Mal wird’s denn’n Jung, würden die Eltern dann sagen, und wenn er kam, der Stammhalter, als zweites Kind, dann geriet das erstgeborene Mädchen selbstverständlich in Vergessenheit. Er, der Stammhalter, der den Bauernhof übernahm, der war es, der zählte. Wenn man aber als Mädchen, so wie Klara als drittes Kind, geboren wurde, dann erwarteten einen schon alle sehnlich. – Und da war es endlich, dieses goldige Wesen!

    Die kleine Klara, vermutlich hatte sie schon damals in ihrem Herzen beschlossen, dass sie niemals zu den Trübsal blasenden Menschen gehören wollte, auf keinen Fall, selbst wenn sie die eine oder andere Tatsache hinterher einfach ein bisschen vor sich und der Welt zurechtdrehen und zurechtrücken musste, bis sie ihr passte, aber was machte das schon, und wenn sie damals bereits hätte sprechen können, wäre sie bestimmt mit den Worten, Mensch, da haste aber wieder Glück gehabt, auf die Welt gekommen. Doch sprechen konnte sie noch nicht, und so kam sie wie all die anderen Kinder mit einem Schrei zur Welt:

    „Äääääääääääääähhhhhhhhhhhhhh!"

    Dann war Ruhe und sie schlief in ihr noch junges Leben hinein. Ja, schlafen konnte sie – „Gott sei Dank!", wie sie immer betonte – bis in ihr hohes Alter beneidenswert gut.

    Während Klaras Mutter mit ihr niedergekommen war, hatte der Vater den Weg zum Kuhstall nicht nur aus Verlegenheit gemacht. Dort kalbte zur selben Zeit seine beste Milchkuh Anni. Sie waren somit in der gleichen Situation, Klaras Mutter und die Kuh, weil sie beide Nachwuchs in die Welt gesetzt hatten. Der Unterschied war nur, dass Klaras Mutter wohlauf war, die Kuh aber Milchfieber bekam, was tödlich enden konnte, wenn es zu stark anstieg.

    Milchfieber bei einer Kuh oder das Zusammentreffen von Kalben und Geburt waren eigentlich nichts Besonderes, aber diese Begebenheit soll hier deshalb erwähnt werden, weil es um Brückners Heilkunst ging, und wenn die später nicht gewesen wäre, hätten wir nichts über Klara erfahren! Wichtig war auch, dass Brückners Frieder über zwei Generationen in Klaras Familie ein Können bewiesen hatte, das eben besonders zu nennen war.

    Denn immer klappte es nicht, und es gab Leute im Dorf, die nicht an ihn glaubten und die ihn sogar für einen Scharlatan hielten, weil er bei ihnen die Kuh, das Schaf, das Pferd, das Schwein oder sonst wen nicht hatte kurieren können, und das, obwohl sie ihn für sein Kommen ordentlich belohnt hatten. Bei Petersens Kuh jedoch blieb Frieder in bester Erinnerung, denn bei ihr schaffte er das, womit selbst Klaras Vater kaum noch gerechnet hatte, weil sich der Zustand so schnell verschlechterte. Sogar die Freude über die glückliche Geburt der kleinen Klara wurde überschattet von der armen Kuh, bis Klaras Vater sich entschloss, sein Pferd anzuspannen und Brückners Frieder aus Hassel zu holen. Er konnte doch seine Anni nicht einfach so liegen lassen.

    Frieder, der sich nicht nur im Kirchspiel Schlöse, sondern auch darüber hinaus einen Namen gemacht hatte, schritt, kaum in Petersens Stall angekommen, zur Tat: Er guckte sich Anni genau an, brubbelte undeutlich vor sich hin, strich über den ganzen Kuhbauch und das Euter zuerst mit zwei, dann mit drei von seinen Fingern, schließlich mit seiner ganzen Hand. Er strich vor und strich zurück, noch einmal das Ganze, dann nur noch mit dem Zeigefinger und dem kleinen Finger, auch wieder hin und her, weshalb er auch den Namen Scheuerfritzen trug. Erhob er sich schließlich und sagte:

    „So!", dann wussten alle Anwesenden Bescheid, dass die Behandlung vorüber war. Geld durfte man Brückners Frieder eigentlich nicht geben, jedenfalls offiziell nicht, aber jeder steckte ihm beim Gehen etwas in die Jackentasche seiner grünen Joppe. Meist erfreuten sich die Kuh, das Schwein, das Pferd oder der Mensch schon kurz nachdem Brückners Frieder weg war wieder bester Gesundheit, so auch Anni. Klaras Vater jubelte! Was ihn das gekostet hätte, wenn er Anni, seine beste Milchkuh, nur noch zum Abdecker hätte geben können. Deshalb sagte er viele Jahre später noch, wann immer es im Dorf um Brückners Frieder ging:

    „Lasst man den Frieder!"

    Zu Klaras Mutter aber sprach er oft und gern: „Weißte noch Sophie, das war genau damals als du mit Klara im Kindbett warst, als Brückners Frieder unsere Anni wieder richtig hingekriegt hat. Weißte das noch?" Klaras Mutter nickte stets bestätigend, und die Kinder merkten sich ihr Leben lang, dass Brückners Frieders Heilkunst Wunder vermochte.

    Vierzehn Tage nach ihrer Geburt wurde das kleine Mädchen in der Kirche zu Schlöse auf den langen Namen Klara Luise Sophie getauft, als Tochter des Bauern Heinrich Petersens und seiner Frau Sophie Petersens, geborene Höhns. Klara fand es gut, dass neben dem Namen ihrer Oma, Luise, mit dem Drittnamen Sophie ein Hinweis auf ihre Mama in ihren Namen übergegangen war.

    Ihre Mutter war nämlich eine außergewöhnlich schöne Frau, sonst hätte Klaras Vater sich ja nicht im Vorbeifahren vom Kutschbock aus in sie verguckt, das hatte ihre Mutter ihr gerne immer wieder erzählt. Wenn Klara ihrer Mutter am Sonntag zusah, mit welcher Sorgfalt sie sich das seidige Goldhaar zum Knoten im Nacken steckte, ihr schönstes Kleid anzog und zuletzt die Brosche am Brusttuch befestigte, wusste sie genau, so wollte sie auch später einmal aussehen. Wie vergnügt Mutters Stimme erklang, wenn sie zu Klaras Vater hinüberrief:

    „Wir müssn los, Heini! Dat watt all Tiet!"

    Klara war sehr stolz auf ihre Mutter, neben der alle Frauen im Dorf verblassten.

    Aus Erzählungen erfuhr sie nach und nach, dass die Familie ihres Vaters reicher war, aber die Ahnen von Mutters Seite waren nicht weniger rechtschaffende Leute. Sie zeichneten sich durch einen gesegneten Nachwuchs aus, und sie hatten auch ihr Glück beim Schopfe zu packen gewusst: Als sich die Bauern ein Jahrhundert zuvor von ihrer Abgabenlast gegenüber der Kirche in Welförde oder derer von Behls in Lichten loskaufen konnten, hatte Klaras Ur­Ur­Ur­Großvater mütterlicherseits, der vorher Knecht gewesen war bei Jührs in Hassel, die Gelegenheit wahrgenommen und ein kleines Stück Land mit Hilfe der Hannoverschen Landes­Creditanstalt gekauft. Danach musste er zwar das Geld abbezahlen und deshalb auch weiter als Tagelöhner arbeiten, aber das Ende der Fron war in Sicht, und so hatte er für seine arme Häuslings­ und Knechtfamilie das erste Mal in der Familiengeschichte ein eigenes Stück Land erworben. Er baute eine Kate und pflanzte daneben auf seinem kleinen Acker Kartoffeln und Rüben an. Eine Ziege und ein Schwein vervollständigten die Eigenversorgung. Das war Grund zur Freude gewesen, auch wenn Klaras Oma aus Oldingen immer nur „kleine Klitsche" zu dem Anwesen in Hassel sagte.

    In der Familie von Klaras Vater sollte es sogar einen berühmten Ahnherren gegeben haben; obwohl Klara erst im Heimatkundeunterricht in der Schule dahintergekommen ist, denn ihre Eltern haben nicht über so weit entfernte Verwandte gesprochen und wussten vielleicht gar nichts mehr davon. Aber hier am Anfang der Geschichte Klaras soll es noch einmal in Erinnerung gebracht werden, weil sie sich so sehr damit verband. Der Name Petersens ist nämlich kein ursprünglich norddeutscher Name. Die Petersens kommen von ganz woanders her, sie stammen aus Schweden und sind mit dem Dreißigjährigen Krieg, der Gott sei Dank schon lange vorbei ist, in die Oldinger Gegend gekommen. Unter ihnen war auch ein Petersens, dessen Vorname offenbar unwichtig war, der sich aber durch seine Tapferkeit und Treue sowohl gegenüber Gustav Adolf als auch den Einwohnern auf dem platten Land in Norddeutschland hervorgetan haben soll. Es gab, so muss man wissen, neben den Schrecken des Krieges damals eine verheerende Wolfsplage. Die Wölfe schwelgten im Überfluss, denn überall lagen verendete Tiere und sogar Menschen. Wolfsgeheul erfüllte die Luft, bis jener unerschrockene Petersens kam und die Raubtiere rudelweise mit bloßen Händen erwürgte. Dafür bekam er ein ansehnliches Stück Land in Oldingen bei Schlöse als Lehen, auf dem er sich niederließ und zufrieden lebte. Seitdem wurde in der Gegend von Oldingen allen Petersens eine gehörige Portion Mumm in den Knochen nachgesagt.

    Da die Geschichte nun aber schon sehr alt war und deshalb nicht mehr alles so genau nachzuvollziehen war, gab es leider nicht nur diese eine Geschichte, sondern noch zwei bis drei andere, die Herr Delnik, Klaras Lehrer, den Schülern im Heimatkundeunterricht eines Tages verriet, nämlich, dass der Petersensahnherr möglicherweise nur wegen eines hübschen Bauernmädchens in Oldingen geblieben sei und gern Märchen über Wölfe erzählte oder vielleicht sei er gar ein raubeiniger Söldner gewesen, der brandschatzend durch die Gegend gezogen war und verärgert über das Wolfsunwesen gemordet habe, was ihm vor die Klinge kam. Mündliche Überlieferungen seien eben immer auch ein wenig fragwürdig.

    „Also, das glaub ich nich!"

    Klara hatte, kaum war der letzte Satz von Herrn Delnik zu Ende gesprochen worden, sofort Widerspruch eingelegt.

    Und als nach der Schule Meiners Heinz und Cohrs Ältester anfingen, Witze über den Wolfstöter aus dem Dreißigjährigen Krieg zu machen und sich bogen vor Lachen und die ganze schöne Geschichte, die so gut zu Klaras Vorstellungen passte, ins Lächerliche zogen, ist Klara mit solch einem Zorn auf die großen, kräftigen Jungs zugelaufen, dass die vor ihr, der kleinen Klara, weggelaufen sind. Respekt haben die beiden seitdem vor Klara gehabt, eine ganz seltsame Form von Respekt, denn sie machten nie wieder eine einzige Bemerkung zu Klaras Ahnengeschichte; dabei hätten sie im Laufe der Jahre noch viele Gelegenheiten dazu gehabt.

    Klaras Vater dagegen, der mit seiner kleinen Klara zur Taufe nach Schlöse unterwegs war, hatte ganz anderes als irgendwelche Ahnengeschichten im Kopf. Er war ständig damit beschäftigt, das Geschehen auf seinem Bauernhof im Geiste hin und her zu wälzen und dachte an die nächste Ablieferung von einem Stall mit Fetten, die ihm sicherlich einen ordentlichen Batzen Geld einbringen würden. Was Klaras Oma und Schwester Anni durch den Kopf ging, die auch mit Klara zusammen in der zugigen Kutsche auf dem Weg zur Taufe saßen, wissen wir nicht. Es ist nur bekannt, dass Klaras schöne Mutter nicht dabei war, weil sie nicht durfte, denn es war damals so üblich, dass der Kindsmutter erst sechs Wochen nach der Geburt erlaubt war, Haus und Hof das erste Mal wieder zu verlassen, deshalb hielt Schwester Anni Klara im Arm. Man wird verstehen, dass die Hauptperson auf dieser ersten Kutschfahrt ihres Lebens so ohrenbetäubend schrie, dass ihr Vater von vorne auf dem Kutschbock über die Schulter nach hinten rief:

    „Nu gebt der Deern doch endlich’n Zuckerplüm!"

    Worauf Schwester Anni ihr diesen auch gleich in den Mund steckte, obwohl die Zuckerplüms eigentlich dazu gedacht waren, Klara und die anderen Säuglinge, die sie bekommen sollten, nur in der Kirche während der Taufzeremonie zu beruhigen. Doch es ging alles glatt, Klara hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und Pfarrer und Gemeinde hatten den feierlichen Gottesdienst mit Orgel und Gesang ohne unkalkulierte Zwischentöne gestalten können.

    An Zuwendung sollte es Klara in ihrer Kindheit nicht mangeln. Ihr Vater war ihr besonders deshalb zugetan, weil sie schon ganz früh zu lachen anfing, was ihr viel Sympathie einbrachte, so dass sich alle bald einig waren:

    „Is se nich ne seute Deern, die Lütje?"

    „Ja, ja, ne ganze freundliche!"

    „Kiek, kiek, wie se lacht, kiek di dat mal an."

    Nachdem die Sechswochenfrist zu Hause für Klaras Mutter mit einem Kirchgang beendet war, zog, wie zuvor bei Willy und Hermann, halb Oldingen an der Wiege des neuen Erdenbürgers vorbei, und alle waren fest davon überzeugt, dass Klaras Mutter schon bald eine tüchtige Hilfe im Haus habe würde mit der Deern. Zum Glück konnten sie Klara noch nicht dazu befragen, denn ihre Antwort hätte ihnen sicherlich nicht gefallen.

    Dann kam wieder einmal die Maul­ und Klauenseuche durch, die damals öfter in dieser Gegend mal von hier nach da und mal von da nach hier zog und mal stärker ausfiel und mal weniger stark, aber von allen Bauern gefürchtet wurde. Dieses Mal kam sie aus der Hasseler Richtung über Schlöse. Dort war längst alles schon wieder zum Sperrgebiet erklärt worden. Aber noch bevor von dort Entwarnung gerufen und auch nur ein Tier wieder über die Straße getrieben werden durfte, kam eine Seuche von Oldingens anderer Seite, nämlich aus Ültschen. Und diese Seuche hieß Schweineseuche. Sie war genauso gefährlich, wenn nicht gar gefährlicher, denn noch viel mehr Tiere lagen morgens tot im Stall, deshalb wünschte man sich in Oldingen auch lieber die Maul­ und Klauenseuche, wenn schon eine einfallen musste, und noch ehe man es gedacht, wütete sie bei Rollhagens, Meiners und auch bei Grüners. Oldingen wurde Sperrbezirk, und das im Frühjahr, wenn eigentlich die Schweine und Kühe auf die Weide getrieben wurden; doch damit war es vorbei. Nicht einmal Jauche durften die Bauern fahren, Grüners und Rollhagens und Meiners mussten jedes Mal ihre Pferde desinfizieren, wenn sie damit aufs Feld wollten.

    „Und das alles nur wegn …"

    Das Gegrummel im Dorf nahm bedrohliche Formen an.

    „Wegn was? – Sach das bloß nich noch ma!"

    Sonntags morgens bei Höltjens Fidi ging es hoch her! Die einen wussten, dass Grüners Schuld hatten, weil die immer zu viele Ferkel in Bremen dazu kaufen würden. Die anderen gaben dem neumodischen Fleischfutter oder Fischmehl die Schuld, das einige Bauern, nicht in Oldingen, aber da wo die Seuche herkam, verfütterten, und die nächsten den überzüchteten Schweinen und schließlich auch den ganzen Vorschriften und Tod und Teufel, und sie, die Oldinger Bauern, mussten das jetzt alles ausbaden. Cohrs Otto brachte Brückners Frieder, den Scheuerfritzen, ins Spiel, weil wenn der was wegscheuern könnte, dann müsste der doch womöglich auch eine Krankheit hinscheuern können. Aber da protestierte Klaras Vater ganz laut, schließlich hatte Frieder die Anni wieder gut hingekriegt, denn jeder wüsste doch wohl, dass Brückners Frieder viel könnte, aber schlechte Sachen einfach nicht machen würde. Das ginge ja wohl zu weit, und außerdem wusste man, dass Brückners Frieder bei Seuchen machtlos war.

    Das einzige, worüber schließlich doch noch alle lachen konnten, das war Wiefels Otto aus Lichten, der das Treibverbot für Schweine so ernst genommen hatte, dass er mit seiner Frau zusammen die Sau, die zu Nachbars Eber musste, einfach an den Ohren und an den Hinterfüßen gepackt über die Straße zum Eber und danach wieder zurückgetragen hatte, weil doch das Treiben verboten war.

    Ob Klaras Mutter auch lachte? Sie hatte vermutlich nicht einmal dafür Zeit. Für sie war Zeit immer knapp, auch damals schon. Sie stand längst wieder des Morgens beim Melken über die Mistrinne gebeugt und würgte Schleim heraus. Gustav kam fast nebenbei zur Welt. Klara konnte sich natürlich an nichts mehr erinnern, für sie war ihr Bruder Gustav immer da gewesen, vermutlich war sie gerade mit der Kunst ihrer eigenen ersten Schritte beschäftigt.

    Dafür gibt es andere Sachen, an die sie sich erinnern konnte: Sie, Klara, hoch oben auf den Schultern ihres Vaters, auf dem Botterstock, wie sie

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