Der Niedergang der Kirchen: Eine Sternstunde?
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Über dieses E-Book
Doch die kommende institutionelle Schwäche eröffnet auch eine neue Zukunft der Kirche, eine radikale Rückbesinnung auf die ursprünglichen Werte des Christentums. Mit den Worten „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ aus dem 2. Korinther-Brief entsteht so die Vision von Kirche, die ein Ort spiritueller Erneuerung, gelebter Nächstenliebe und Heimat aller wird, die von den erstarrten Formen der Kirche enttäuscht sind.
Reimer Gronemeyer
Reimer Gronemeyer, geboren 1939, hat Theologie und Soziologie studiert, war Pfarrer in Hamburg und Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ein besonderes Anliegen ist ihm die diakonische Arbeit. Theologische Fragen durchziehen seine Publikationen, besonders in seinen Arbeiten zur Hospizbewegung, zum Thema Demenz und zum Altern allgemein.
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Buchvorschau
Der Niedergang der Kirchen - Reimer Gronemeyer
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke/Agentur für Autoren und Verlage, www.aenneglienkeagentur.de
Copyright © Claudius Verlag, München 2020
www.claudius.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Layout: Mario Moths, Marl
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020
ISBN 978-3-532-60068-9
Für Manuela Rimbach-Sator
Pfarrerin an St. Katharinen, Oppenheim
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Zehn Wünsche für die Kirche 2060
Will ich …?
Die Krise fürchten. Die Befreiung feiern
Szenario: Die Kirche im Jahre 2060
Fakten, Fakten, Fakten.
Und sie nützen gar nichts
Kirchenkrisen sind ja nicht neu
Die Verachtung des Klerus
Systematisch vertuscht
„Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß"
Ein willkommener Zivilisationsbruch
Westlessness: Die Krise des christlichen Westens
Nicht mehr mitmischen.
Die Kirche fällt in Ohnmacht
Kirche ohne Macht. Kirche auf Wanderschaft
Die Kirche, die im Dunkeln wandelt ...
Die schwache Kirche ist die Kirche der Schwachen
Die Kirche der weißen Männer.
Eine Galerie
„Habemus Mamam!" Danke, Nein!
Sag zum Abschied leise Servus.
Meine Kirchengeschichte
Kaltes Pfingsten. Naturwissenschaftliche Monokultur und die zaghafte Kirche
Das neue Monopol: Kirchen in der Defensive
Endlich der Himmel auf Erden:
Die Kirche der Technokraten und ihre Heilsversprechen
Den ruinierten Planeten verlassen?
Mysterium iniquitatis
Schmarren: Es gibt keine digitale Kirche
Christenverfolgung, jetzt
Sternstunden der Kirche, unerwartet
Gespür der Menschen
Auferstehung der Kirche in Afrika?
Kritterkirche: Radikalisierte Gastfreundschaft
Umsonstigkeit
Fototermin mit Bibel
Nachwort
Anmerkungen
Dank
Zehn Wünsche für die Kirche 2060
1. Weiße Männer werden als Letzte gehen und das Kirchenlicht ausschalten, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder auf ein Minimum gesunken ist, wenn die Institution verschwunden sein wird und kirchliche Macht und Einfluss sich in Nichts aufgelöst haben.
2. Die post-institutionelle Kirche wird durch die empathische und geistliche Kraft von Frauen lebendig sein oder sie wird ganz verschwinden. Verschwinden wird sie, wenn die Plastiksprache, die emotionale Kälte, das betriebswirtschaftliche Kalkül oder der verblichene Glanz kirchlicher Macht die feminine Inspiration auffressen.
3. Die Zeit der Bibel wird vorbei sein, sie wird in verstaubten Ecken vergessener Bibliotheken allmählich zerfallen. Die zukünftige Gemeinde wird sich Geschichten erzählen: vom barmherzigen Samariter, von der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist, vom himmlischen Jerusalem.
4. Die neue Gemeinde wird sich mutig der Verfolgung stellen, die ihr von der naturwissenschaftlichen Monokultur droht. Vertrieben aus Universitäten, von politischem Einfluss abgeschnitten, wird sie zum Sammelbecken derer, die sich mit technokratischem Krisenmanagement und kruder Diesseitigkeit nicht abfinden wollen. Sie wird wilde Feste feiern, in denen sie ekstatisch mit der Hoffnung tanzt und sich der Wiederauferstehung des Glaubens erfreut.
5. Schluss wird sein mit der verklemmten Feigheit: Auf den Trümmern der alten Kirche sitzend wird die neue Gemeinde Leben und Sterben aus der biomedizinischen Gefangenschaft befreien und die Welt mit der absurden und peinlichen Rede von der Auferstehung des Fleisches bis zur Weißglut reizen.
6. Die kirchlichen Sozialkonzerne werden verschwunden sein. Eine unerwartete Kraft strömt stattdessen aus den neuen Gemeinden: Die großen Krisen (der Ökonomie, des Klimas) konfrontiert die kleinen Christengemeinschaften überall mit Flüchtlingen, Kranken, Hungernden, Einsamen. Die Welt wird beginnen auszusehen wie ein globales Hospiz. Die auf glückliche Weise ohnmächtige Kirche tröstet, begleitet und pflegt, wo ihr Not begegnet. Demütig und ohne Alleinvertretungsanspruch.
7. Die neue Kirche wird begriffen haben, dass sie die wachsende Kluft zwischen arm und reich nicht schließen kann. Deswegen wird sie die Reichen aufgeben. Der Traum von einer gemeinsamen friedlichen Welt ohne Hunger und Krieg ist zu Ende. Stattdessen blühen Orte auf, an denen konviviale, freundschaftliche, solidarische, spirituelle Gemeinschaften wachsen. Die neuen Christen beginnen, verlorene Orte zu besetzen: Orte der Gemeinschaft inmitten allseits herrschender Einsamkeit, ‚Umsonstigkeit‘ inmitten fressenden Kalküls.
8. Die Kirche wird sich an der blühenden Frömmigkeit, an den vollen Kirchen und dem starken Glauben afrikanischer Christen orientieren. Denen war von weißen Experten längst ein Stempel aufgedrückt worden: typische afrikanische Rückständigkeit. Die seien doch in der modernen Welt noch nicht angekommen. In diese lebensvolle afrikanische Rückständigkeit wird die neue Kirche verliebt sein.
9. Die neue Kirche wird das Anthropozän verlassen, indem sie ihre Herzen öffnet für alle vom Menschen misshandelten Geschöpfe. Sie wird eine ‚ Kritterkirche ‘ sein, in der die Menschen sich nicht mehr als Krone der Schöpfung, sondern als Mitgeschöpfe verstehen. Der künftige barmherzige Samariter neigt sich nicht nur Menschen aus allen Nationen zu, sondern allen Lebewesen. Dann wird der Saft enthusiastischen Glaubens wieder in die ausgebleichten Knochen der Kirche fließen.
10. Die neue Kirche schließt nicht aus, dass Gott scheitert . Sie fürchtet, dass die Leute die Menschwerdung Gottes zurückweisen könnten. Das würde dann die Stunde unüberbietbarer Schwäche der Kirche sein. Und das wird das letzte große Geschenk der Kirche an die Menschen: die Selbstaufgabe, in der sie ihrem Meister und Messias folgt. Eine sympathische Kirche, die so abschmilzt wie das Eis an den Polen. Eine Kirche, die so verblasst, wie die Korallen am Great Barrier Reef. Ein Augenblick, in der die Kirchen und die Menschen nur noch mit zum Himmel geöffneten Händen auf das Manna, das vom Himmel fällt, warten können.
Dann wird die Ohnmacht der Kirche zu ihrer Sternstunde geworden sein.
Will ich …?
Will ich auf die Kirche einschlagen? Nein. Will ich sie schönreden? Nein. Will ich ihren Niedergang noch einmal genüsslich beschreiben? Nein. Will ich über ihre Fehler hinwegsehen? Nein. Will ich ihr die Rückkehr zu altem Glanz versprechen? Auf keinen Fall.
Für die Kirche gilt heute ein janusköpfiger Satz. Auf der einen Seite steht: Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor. Auf der anderen Seite steht: Die Kirche ist so notwendig wie nie zuvor.
Wie ist das gemeint?
Die Kirche hat ihren Zusammenbruch ja schon fast hinter sich: Alles Gewohnte und als sicher Geglaubte zerfällt vor ihren Augen. Wer geht schon noch in die Kirche? Wer glaubt noch an ihre Botschaft? Wer liest noch in der Bibel? Wer lässt sich noch von ihr maßregeln? Hat sie eine Zukunft oder ist sie schon Vergangenheit? Viele Menschen, die Empfindsamen vor allem, erwarten heute einen Zivilisationsbruch, der die Weltgesellschaft, die wir kennen, auf den Kopf stellt. Die Coronakrise war und ist ein Vorgeschmack dessen, was wir zu erwarten haben. Ob der Bruch nun als Klimakatastrophe oder als Zerfall von Staaten kommt, ob den Menschen das Wasser ausgeht oder das Essen: Leid und Schmerz werden wachsen, sie sind ja schon da. Da taucht die Frage auf: Wird der Planet ein globales Hospiz brauchen? Wird die Kirche imstande sein, den Millionen und Abermillionen, die in den vor uns liegenden Jahrzehnten mit Flucht, Not und Tod konfrontiert sein werden, Trost und – soweit es ihre schwachen Kräfte erlauben – Zuwendung zu schenken?
Corona ist der Vorgeschmack auf das, was Nachdenkliche seit Jahren erwarten. Sichtbar werden die Umrisse eines in Trümmer geschlagenen Planeten. Nur eine Zahl, die für viele Zahlen steht: In den letzten vierzig Jahren sind in Europa 300 Millionen Brutpaare von Singvögeln verschwunden. Das heißt: 57 Prozent der Vogelpopulation ist ausradiert.¹ Die Zahl spricht nicht nur von der Zerstörung der Schöpfung, sie spricht zugleich von der Vernichtung der Lebensbedingungen, die der homo sapiens braucht. „Ach wie verzweifelt sind jetzt die Menschen, die einst in so dichtem Grün lebten! Wo sind Bienen und Käfer, Schmetterlinge und Ameisen? Das bunte Vogelvolk? Tränen laufen den Menschen übers Gesicht, während sie vergeblich nach dem Schatten der Bäume suchen, nach dem Duft von Gras und dem sanften Rieseln der lebensspenden Bäche. Der Hochmut der Menschen hat die Erde zerstört, sie sind sich selbst zum Widersacher geworden." Ursula Baatz, österreichische Philosophin, hat die Klagelieder des Jeremias so für uns heute berührend weitergedichtet. Die Kirche steckt in einer Falle: Sie meint, sie müsse immer gleich von Hoffnung reden. Gebetsmühlenartig wird die ‚frohe Botschaft‘ über jede finstere Analyse gestülpt. Die ‚frohe Botschaft‘ verkommt zum Happy End, wenn die Kirchenmenschen es nicht wagen, die dramatische Bedrohung der Schöpfung und des Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Vor Ostern kommt Karfreitag. Der bedenkenlose Purzelbaum ins Positive, den Priester und Pfarrerinnen gern schlagen, nimmt der frohen Botschaft den