Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche
Von Justus Geilhufe
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Buchvorschau
Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche - Justus Geilhufe
Kapitel 1
Für einen Hochsommertag führte die Elbe am Abend des 17. Juni 1990 noch recht viel Wasser und schob ein mächtiges, leicht faulig riechendes Wasser an den Sandsteinpackungen unterhalb der vertrockneten Elbwiesen vorbei. Über ihnen thronte das altehrwürdige Dresdner Diakonissenkrankenhaus und ließ die ersten lauen Momente eines heißen Sommertages durch die klappernden Holzfenster hinein. Dieses Klappern störte meine Mutter, die frisch im Wochenbett die Übertragung der ersten und zugleich letzten von Volkskammer und Bundestag gemeinsam gefeierten Gedenkveranstaltung zum Volksaufstand in der DDR über einen knarzigen Stern-Recorder verfolgen wollte. Sie bat die noch recht junge Diakonisse, die gerade das Fenster schloss und das Tablett mit dem Abendessen verräumte, das Radio etwas lauter zu machen. Die Frau mit dem gestärkten weißen Häubchen auf dem Kopf drehte sich um und nestelte an dem groben Plastik herum, solange bis die Übertragung tatsächlich besser zu hören war. Mit einem leisen „Guten Abend" öffnete sie die Tür zum Gang und meine Mutter konzentrierte sich wieder auf die Stimmen aus dem Berliner Schauspielhaus.
Den Flur weiter hinten lag ich währenddessen neben in den letzten Monaten erstaunlich wenig gewordenen Säuglingen und blinzelte in das blau-rosa Licht eines Sommerabends, in dessen Schwüle etwas geballt war von allem, was sich in den kommenden Jahren schmerzvoll bahnbrechen würde. Etwas, das seine Wurzeln im gerade vergangenen Sozialismus, dessen Abschied man in diesem Moment in der DDR-Volkskammer feierte, und seine Entfaltungsmöglichkeiten im neu anbrechenden Zeitalter des Geldes hatte.
In dieser Stadt zwischen den grünen Elbhängen und dem welligen Gebirgsvorland wurden innerhalb von Wochen aus vormals jungen FDJlern Männer, die nun mit Kühnengruß die Straßenbahn bestiegen. Vom Diakonissenkrankenhaus brauchte es einen Umstieg und die Tatrabahnen, deren Sitzschalen hinten eine ovale Öffnung genau auf den Hüftknochen aussparten, deren Abdruck noch lange, viel länger als der Magen schmerzte, sofern man von einem der groben Füße frontal in den Sitz hineingetreten wurde, beförderten uns langsam und ruckelnd zum alten Dorf in der Stadt. Die Inhaberin des nach der Wende gegründeten Fotogeschäfts am Rande des alten Dresdner Dorfkerns zog mich als Sechsjährigen immer über die Ladentheke, damit ich ihr auf das aufgequollene rote Alkoholikergesicht einen Kuss gab. Ihre weichen Wangenhaare wischten dabei immer über meine Nase. Den Eltern erzählte ich davon nie. So lange, bis sie mich einmal ohne Vorwarnung weiter hinter die Theke, in die Ruinen und den Schutt des Hinterhofs führte, mich in einen alten weißen Polo setzte, mit mir in ihre mittlerweile aufgelöste Wohnung in einem der braunen 50er-Jahre-Neubaublöcke fuhr, wo ich zwischen aufgerissenem, speckigem Teppich und braun lackierten Nachtspeicheröfen „Spielzeug" aussuchen durfte. Das Spielzeug waren tütenweise alte Kaugummis in 10er-Packungen, die sie vor Jahren als Werbegeschenke zur mittlerweile gescheiterten Geschäftseröffnung gekauft hatte. Zuhause gab es nie Kaugummis. Deshalb fand ich den Ausflug gut. Und doch blieb diese trostlose Welt der leeren grauen Blöcke und alkoholkranken Existenzen fremd. Es war eine Welt da draußen. Eine Welt da draußen, in deren drückend warmer Luft die Gewalt lag, vor der es in meiner Kindheit kein Entkommen gab. Ihren ersten Höhepunkt erreichte sie in eben jenem Jahr, in dem ich geboren wurde. Von da an war sie die grundlegende Erfahrung von uns allen, die nach der Wende im Osten dieses fremden und ganz neu vereinten Deutschlands aufgewachsen sind. Die Nazis in den Tatrabahnen, die Nazis auf den Marktplätzen, die Nazis auf dem Schulweg, die Nazis auf dem Parkplatz vor dem neu errichteten Einkaufszentrum. Die Nazis und die großen, von gelbem Schleim durchzogenen Rotzpfützen vor ihren Schuhen oder unterhalb der Bänke, auf denen sie saßen, waren unser Leben. Wir wussten bald, wann wir zu rennen hatten, wohin man nicht gehen konnte und wann man sich verdrücken musste. Gewalt wurde normal.
Als ich ein Kind noch war
Da war mir gar nicht klar
Wohin die Vögel ziehn
Wenn kalt schon die Winde wehn
Der Vater lachte leis
Die fliehn vor Schnee und Eis
Fliegen nach Süden
Um immer die Sonne zu sehn
Nach Süden, nach Süden
Wollte ich fliegen
Das war mein allerschönster Traum
Hinter dem Hügel
Wuchsen mir Flügel
Um vor dem Winter abzuhaun
Abzuhaun
Und heimlich in der Nacht
Hab ich mich aufgemacht
Wollte nach Süden gehn
Um immer die Sonne zu sehn
So lief ich querfeldein
Wohl über Stock und Stein
Doch gar nicht weit hinterm Haus
Da fiel schon der erste Schnee
Nach Süden, nach Süden
Wollte ich fliegen
Das war mein allerschönster Traum
Hinter dem Hügel
Wuchsen mir Flügel
Um vor dem Winter abzuhaun
Abzuhaun
Lift
Dieses Dresden meiner Kindheit war eine von unzähligen Städten im ehemaligen Einflussbereich des Warschauer Paktes, in denen sich jene Gewalt nach der Wende chaotisch breit machte, die jahrzehntelang perfide geregelt vom autoritären Staat ausging. Hier, an den Ausläufern des Dresdner Elbhanges neben den von Punks und jungen Familien bewohnten Ruinen der Neustadt, in einem sauberen Haus, durch das agile Frauen mit weißen Häubchen auf den dünnen Harren huschten, erschien sie jedoch beinahe unscheinbar im Gegensatz zu jener Hölle, die Peter Hitchens, ein nicht mehr ganz junger Journalist des „Daily Express", zur gleichen Zeit in Moskau mitzuerleben