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Hysterie
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eBook316 Seiten4 Stunden

Hysterie

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Über dieses E-Book

Camilo Gonzalez ist Laborleiter eines virologischen Institutes in Mexico City. Als er seinem Freund Carlos Moreno, Redakteur eines Boulevardblattes, von einem aktuellen Laborbefund berichtet, wittert dieser eine Sensation und bringt die Meldung über die Auffindung eines neuartigen Schweinegrippen-Virus auf die Titelseite – ohne das Wissen der Institutsleitung und der zuständigen Ministerien. Schon bald nehmen die Ereignisse ihren kaum noch steuerbaren Verlauf.
Gonzales wird schließlich als Experte von der WHO nach Genf berufen. Nach einiger Zeit holt er seine heimlich geliebte Mitarbeiterin Andrea García nach. Kann er seine deutlich jüngere Kollegin für sich gewinnen? Und wird es gelingen, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen?
Schmerschneider gelingt mit seinem neuen Roman die fesselnde Chronik einer künstlich erzeugten Hysterie.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Feb. 2020
ISBN9783963114182
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    Buchvorschau

    Hysterie - Heinz Schmerschneider

    2018).

    In der Ausgabe des „Spiegels 10/2010 erschien ein vierseitiger Artikel unter dem Titel „Chronik einer Hysterie.

    „Fast ein Jahr lang hielt die Schweinegrippe die Welt in Atem. Eine gigantische Impfkampagne sollte ihr Einhalt gebieten. Dabei handelte es sich um einen eher harmlosen Virusstamm. Wie konnte es zu solch einer Überreaktion kommen? Eine Rekonstruktion.

    Dieser Roman weist viele Parallelen auf, ist aber unabhängig davon und ohne Kenntnis dieses Artikels entstanden.

    Inhaltsverzeichnis

    I.

    II.

    III.

    IV.

    V.

    VI.

    VII.

    VIII.

    IX.

    X.

    XI.

    XII.

    XIII.

    XIV.

    XV.

    XVI.

    XVII.

    XVIII.

    XIX.

    XX.

    XXI.

    XXII.

    XXIII.

    XXIV.

    XXV.

    XXVI.

    XXVII.

    XXVIII.

    I.

    Eine Dunstglocke aus Hitze und Staub lag über Mexico City. Wie in jedem Jahr brachten die ersten Apriltage hochsommerliche Temperaturen mit sich. Es war Donnerstag, der 2. April 2009, als es um die Mittagszeit richtig heiß wurde.

    Im Gebäude der ehemaligen Seidenspinnerei hatte man einigermaßen erträgliche Arbeitsbedingungen, denn die zum Hofkarree gelegenen Räume waren vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt. Heute diente die alte Fabrik dem pharmakologischen Institut der Universidad Nacional Autónoma de México als Laborgebäude. Der Vorteil des Schattenplatzes brachte den Nachteil einer unattraktiven Aussicht mit sich. Durch die hohen Fenster des Erdgeschosses blickte man über den Innenhof auf die rot geklinkerte Fassade des gegenüberliegenden Flügels.

    Trotz der schattigen Lage war die Luft im Labor nicht gerade frühlingshaft. Nach § 112 der Hausordnung war das Öffnen der Fenster im Laborbereich strikt untersagt. Diese Anordnung entsprach üblichen Sicherheitsstandards von Instituten dieser Art. Man experimentierte mit Viren, untersuchte Bakterien, Krankheitserreger jeder Art.

    Camilo Gonzalez zog sein glatt gebügeltes Stofftaschentuch aus der Hosentasche, schüttelte die Faltung auseinander und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Ihm ging der Deckenventilator auf die Nerven. Irgendwelche Teile schleiften aneinander, aber nicht so gleichmäßig, dass man sich daran gewöhnen konnte. Das Schleifgeräusch trat mal schwächer, mal stärker auf. Gonzalez wartete förmlich auf jede Umdrehung – jetzt war das Schleifen zweimal gar nicht zu hören, dann wieder nur kurz und leise, dann ein längeres Schnarren.

    Es war nicht zum Aushalten! An ein Ausschalten des Gerätes war bei der Hitze nicht zu denken. Immer wieder blickte Gonzalez hinauf und stieß stumme Verwünschungen aus. Lautstark wollte er sich nicht Luft verschaffen, denn die Kollegen im Labor durften nicht bemerken, dass er gereizt war. Ein abgeklärter Wissenschaftler und lässt sich von kaum hörbaren Ventilatorgeräuschen irritieren? Seine Kompetenz als Leiter der Sektion 8 könnte infrage gestellt werden. Er sah sich um, aber die Kollegen waren ruhig und konzentriert mit ihren Versuchen beschäftigt. Niemand schien das schmerzhafte Schleifen zu bemerken. Er allein, Camilo Gonzalez, musste empfindliche, entzündete, ja kranke Ohren haben. Wäre es ein Wunder? Mit seinen zweiundfünfzig Jahren zählte er schon zum älteren Stamm der Belegschaft. Bislang war sein Arbeitsplatz sicher. Niemals gab es Fehler bei seinen Untersuchungsreihen, lückenlos alle Dokumentationen, sauber die chemischen Proben, exakt seine Analysen. Er war der geborene, stets gewissenhafte Laborwissenschaftler.

    Und jetzt dieser verflixte Ventilator. Wieso störte er die anderen nicht? Hatte sich jemand gegen ihn verschworen? Wollte ihn einer seiner Kollegen auf diese Weise fertigmachen, weil er nun einmal der Beste war und anders nicht zu Fall gebracht werden konnte?

    Da war Sanchez, bärtig, dunkel, sonnengebräunt, fast in seinem Alter. Er musste auch an die fünfzig sein. Aus der Provinz im Süden war er in die Hauptstadt gekommen. Nein, Sanchez war gutmütig, nicht futterneidisch, schon seit sechs Jahren arbeiteten sie hier im selben Labor. Nie war es zu größeren Reibereien gekommen, obwohl ihn Gonzalez manchmal wegen seiner nachlässigen Arbeitsweise kritisieren musste.

    Sie hatten miteinander gefeiert, gelegentlich in Männerrunden, bei denen auch die Familien ins Gespräch kamen. Je nach Standpunkt des Betrachters traf oder begünstigte beide nahezu dasselbe Schicksal. Jeder hatte Frau und drei Kinder zu versorgen, da fiel die Sparquote äußerst gering aus. Man hoffte aufs Altwerden: Ja, wenn erst die Kinder aus dem Haus sind, wenn erst die Kinder mit dem Studium fertig sind! Was soll man machen? Alles kostet viel Geld und wird ständig teurer! Natürlich hat man eine nette, treue Frau und die Kinder sind gesund. Was will man eigentlich mehr?

    Aber der junge Lucio – gerade mal an der Universität von Pachuca fertig geworden, direkt diese gute Anstellung bekommen und erst seit einem Jahr im Team – will der vielleicht schneller als üblich Karriere machen? Die alten Hasen ausbremsen, verdrängen von ihren angestammten Plätzen? Selbst Teamleiter werden und dann zur Institutsleitung aufsteigen? Ja, er ist ehrgeizig, das zeigen schon seine guten Studienabschlüsse, will nebenher noch promovieren. Aber er vermittelt nicht den Eindruck eines skrupellosen Karrieristen. Er kratzt zwar nach oben, aber zum Treten nach unten hat ihn das Leben noch nicht ausreichend geprägt. Noch scheinen bei ihm die idealistischen Vorstellungen, die der Jugend eigen sind, zu überwiegen. Nein, auch Lucio hätte den Ventilatorterror nicht initiiert.

    Bliebe noch Andrea, Andrea García. Die Frau mit dem zartbraunen Teint, den dunklen Brauen und den pechschwarzen, meist verknoteten Haaren. Mit ihren sechsunddreißig Jahren etwas zu jung für Gonzalez. Aus ihrer Sicht wahrscheinlich, ihm selbst hätte der Altersunterschied nichts ausgemacht. Andrea, Mutter einer zwölfjährigen Tochter, geschieden, sicherlich nicht aus Prinzip alleinlebend.

    Eine Liebschaft? Ja, aber welche junge Frau mag ein Liebesverhältnis mit einem älteren Mann beginnen? Wenn erotische Interessen gelegentlich auch bei Frauen in den Vordergrund treten, dann aber bitte schön einen faltenfreien, gut aussehenden Körper, selbstverständlich gern auch jünger als man selbst.

    Weshalb hatte er nur ständig diese Dinge im Kopf? Es war völlig aussichtslos, abwegig und hirnverbrannt. Aber Gonzalez konnte einfach nicht anders, es war fast zwanghaft. Seit nunmehr zwei Jahren gehörte Andrea zum Team. Sie hatte äußerlich Sonne und innerlich Unruhe in seine Arbeitswelt gebracht. Ob sie wohl seine Gedanken erraten konnte?

    Selbstverständlich vermied es Gonzalez sorgsam, etwa mit schmachtenden Augen ihre Blicke einzufangen oder gar auf ihren Körper, ihren Busen zu starren. Ganz gleichgültig, geschlechtsunspezifisch, begrüßte man sich. Man lächelte freundlich, gab sich die Hand, tauschte notwendige dienstliche Informationen aus und verabschiedete sich zum Feierabend. Da gab es absolut keinerlei Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Kollegen. Wie sollte es da auch einen Unterschied geben, nicht wahr? Das wäre ja unerhörter Sexismus, würde man unverkennbar auf weibliche Reize reagieren. Hier muss man unbedingt streng zu sich selbst sein, sonst ist man im modernen Zeitalter der gleichberechtigten Neutronen nicht mehr teamfähig.

    Also bleiben wir korrekt, sagte sich Camilo Gonzalez, und bemühte sich, seine Grübeleien zu disziplinieren. Wahrscheinlich fühlen sich die Frauen ohnehin genug von aufdringlichen Blicken der Männer belästigt.

    Doch heißt es nicht „Los pensamientos son libres" in jenem schönen Lied über die freien Gedanken? Jenes Lied, das er schon oft voller Inbrunst gemeinsam mit Freunden gesungen hatte. Natürlich, der Text handelt in erster Linie von politisch-freiheitlichen Gedanken, aber vielleicht denkt dabei mancher auch an seine amourösen Fantasien, die man besser im Geheimen verwahrt?

    Wahrscheinlich! Gern holt man sie gelegentlich heraus aus ihren Verstecken, fügt heimlich die Bilder aneinander, fabuliert das Erlebte fort. Besonders abends vor dem Einschlafen, im Halbschlaf oder wenn man nachts erwacht. Dann ist es erlaubt, sich fantastische Geschichten zu erträumen, herbeizusehnen, aber man darf es nicht zur Manie auswachsen lassen. Nur leicht beschwingt, zur mentalen Befriedigung der unbefriedigten Regionen. In solchen Momenten kann der dressierte Mensch vom Reiz des Verbotenen kosten. Vielleicht sind gar Lebenskraft und Lebenswille notwendig verknüpft mit diesen leisen, erotischen Hoffnungen?

    Ob Andrea etwas von seiner Neigung spürte? Nein, sie wirkte immer derart unbefangen, dass Gonzalez keinerlei Hintergedanken vermutete. Er machte sich nichts vor. Vonseiten Andreas war auf der Gefühlsebene zu ihm weder Liebe noch Feindseligkeit zu erwarten. Er war eine Art Tabula rasa für sie. Wahrscheinlich betrachtete Andrea ihn mehr als väterlichen Kollegen, zu dem man Vertrauen hat, bei dem man sich auch einen fachlichen Rat einholen kann.

    „Gut, lassen wir es dabei bewenden, hörte Camilo sein Gewissen reden. „Nehmen wir sie an, diese Rolle eines hilfsbereiten, selbstlosen, älteren Herrn. Enttäuschen wir die junge Frau nicht in ihrem Glauben an unseren edlen Charakter. Verheimlichen wir, dass uns unkeusche Gedanken umtreiben, sooft wir sie sehen und sooft wir beim Einschlafen von ihr träumen.

    Plötzlich erwachte Gonzalez aus seinen Gedanken. Er fühlte sich so, wie es ihm kürzlich beim Autofahren ergangen war. Auf einmal war er hochgeschreckt und hatte erstaunt festgestellt, dass er gerade völlig ohne Bewusstsein mehrere Kilometer auf der Autobahn geradeaus gerast war. Ebenso unbewusst hatte Gonzalez an seinen Proben weitergearbeitet. Ja, selbst das nervige Ventilatorgeräusch war zwischenzeitlich verstummt. Erst jetzt nahm er es wieder wahr.

    Aber Andrea García war natürlich die Letzte, die ein derart psychologisches Attentat hätte einfädeln können. Erstens, wie hätte sie dies technisch bewerkstelligen sollen? Zweitens war sie keine Karrieristin, und drittens war diese Frau für ihn der Inbegriff des Schönen und Guten. Schon deshalb erschien jeder Gedanke an ein intrigantes Verhalten abwegig.

    Es war lächerlich, seine Kollegen zu verdächtigen, und so störend empfand er die Geräusche nun auch nicht mehr. Er würde morgen früh dem Hausservice Bescheid sagen.

    II.

    Camilo Gonzalez spürte es deutlich, seine Lebensgeister erwachten allmählich wieder. Es war 17 Uhr, und gerade hatte ihm der Pförtner einen schönen Feierabend gewünscht.

    Jetzt war dieser herrliche Augenblick für Gonzalez gekommen. Mit zunehmendem Alter sehnte er sich danach, endlich abschalten zu können. Die Nerven, die Muskeln, die Knochen, das strapazierte Hirn, alle diese in die Jahre gekommenen Körperteile melden zum Feierabend Ermüdungserscheinungen bei der regierenden Zentraleinheit an.

    Aber heute erzeugte die Abgespanntheit einen positiven Effekt. Heißt es nicht: „Was ist schöner als die Erholung nach einem anstrengenden Tag?"

    Richtig! Doch braucht man dafür zunächst einen anstrengenden Tag! Also haben wir doch alles richtig gemacht, fuhr ihm die Rechtfertigung für den achtstündigen Arbeitsstress durch den Kopf. Ohne Anstrengung keine Erholung. Wäre aber auch ein schöner Spruch für Sklavenhalter. Ach, es ist immer dasselbe, jede Aussage kann sowohl richtig als auch falsch sein. Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters an, und da soll man nun Wissenschaft betreiben, die Wahrheit erforschen.

    Aber die Wirklichkeit war unzweifelhaft ein sonniger Donnerstagnachmittag. Gonzalez warf sich das Jackett über die Schulter und genoss es, durch die Geschäftsstraßen zu schlendern. Jetzt ging er auf dem breiten Boulevard, dem Paseo de la Reforma, in Richtung Innenstadt. Im kurzärmeligen Hemd, mit sonnengebräunten, kräftigen Armen und dem Breitling „Chronomat" am linken Handgelenk, dem einzigen Schmuckstück, das er sich geleistet hatte, fühlte er sich gut zehn Jahre jünger. Jedenfalls befand er sich auf einem deutlich höheren Energieniveau als mit Brille und weißem Kittel über seine Laborgeräte gebeugt. Blick und Haltung wurden merklich zuversichtlicher. Selbstbewusstsein lässt jeden Menschen ein kleines Stück größer werden.

    Das Institut lag südlich der City, bis zum Café „Vera", dem Ziel seines Weges, war es ein knapper Kilometer. Die bereits tieferstehende Sonne und ein südlicher Wind sorgten jetzt am späten Nachmittag für angenehme Wärme. Es war kein richtiger Wind, mehr ein laues Sommerlüftchen, das durch die Prachtstraße von Mexico City zog. Gonzalez hatte keine Eile, er öffnete den zweiten Hemdknopf und sah sich im Vorbeigehen einige Schaufensterauslagen an. Ein zwanzigminütiger Fußmarsch tat einem Laborarbeiter gut. Man sollte viel Sport treiben, da sind sich alle Experten einig, und nicht nachlassen, je schwerer es fällt. Das sind so Ratschläge der Gesundheitsapostel. Erst mal können, da doch selbst der Wille altersbedingte Schwächen aufweist!

    Immer mehr Menschen bevölkerten jetzt die Straßen und Plätze, an denen der Wissenschaftler vorbeikam. Diese After-Work-Partys werden auch langsam zur Unsitte, dachte Gonzalez. Vor nahezu jedem Lokal bildeten sich Menschentrauben um die mit weißen Tischtüchern bespannten Bartische. In der Mehrzahl waren es junge Männer, die lautstark redend und gestikulierend auf den Tischen ihre Bier- und Longdrinkgläser abgestellt hatten. Überquellende Aschenbecher gehörten dazu, man durfte ja seit einiger Zeit in vielen Lokalen nicht mehr rauchen.

    Derartige Debattierklubs waren nichts für Gonzalez. Es lief doch alles darauf hinaus, sich zu produzieren. Den anderen im Yuppie-Wettstreit zu überbieten. Das hatte er nicht mehr nötig. Schon die Kleidung, besonders die Frisuren und Accessoires verrieten ein starkes Darstellungsbedürfnis. An diesen Orten wurden – wie bei den jungen Bullen – die Rangkämpfe ausgetragen. Vielleicht auch nur Argumentationstraining, was ja nützlich ist.

    In jedem Falle war man ständig mit Telefonieren beschäftigt. Es gehört heutzutage einfach zum guten Ton, pausenlos angerufen zu werden. Dies zeigt: Man ist wichtig, wird immer gebraucht, man ist beliebt. Gleichzeitig konnten die Wettkampfteilnehmer bei dieser Gelegenheit auf ihre Smartphones des neuesten Typs, im Superdesign und Touchscreen-Technik aufmerksam machen. Gonzalez hatte gar den Verdacht, die Yuppies ließen sich absprachegemäß von Tisch zu Tisch anrufen, nur um ihre Wichtigkeit unter Beweis zu stellen. Absolut angesagt war es, Fotos zu versenden und zu empfangen. Man konnte sich stundenlang damit beschäftigen, Bilder und Spaßvideos, die Freunde übermittelt hatten, herumzuzeigen.

    Wie geht die Menschheit mit ihren Erfindungen um?, fragte sich der Wissenschaftler. Es bedurfte eines grandiosen Erfindergeistes und milliardenschwerer Investitionen, um das Internet und die digitale Technologie weltweit zu installieren, und dann werden neunzig Prozent der digitalen Kapazität verschwendet, um Urlaubsfotos durch die Luft zu jagen.

    Unbewusst tastete er nach seinem Handy, das er in der Innentasche seines Jacketts aufbewahrte. O Gott, lass es lieber stecken! Mit diesem alten Tastentelefon wäre er in dieser Runde nur mitleidig belächelt worden.

    Interessant, dachte Gonzalez, wie uns heutzutage nicht mehr eigene Werte wie körperliche Kraft, ein starker Wille oder Klugheit auszeichnen, sondern wie sich der Mensch durch Beiwerk, Accessoires, also den Besitz von Gegenständen, gesellschaftsfähig macht. Heute genügt nicht mehr unsere Biologie allein. Sie ist bereits fest verknüpft, verschaltet mit elektronischen Zusatzgeräten wie Navi oder Smartphone. Unsere natürlichen Sinnesorgane sind erhöht durch Elektronik, die uns immer mehr einverleibt wird. Nur elektronisch ausgestattet ist man noch gefragt. Auf uns selbst kommt es gar nicht mehr an, sondern darauf, was wir mit uns herumschleppen. Der Mensch fühlt sich doch schon halb nackt, wenn er aus Versehen ohne Handy aus dem Haus geht.

    Aber Gonzalez betrachtete diese Szenerie nicht feindselig. Mit zunehmendem Alter verfolgte er derartige Dinge mit Gelassenheit und einem Gefühl der beobachtenden Distanz; sogar mit einer Art Amüsiertheit des Zuschauers einer Theatervorstellung.

    Waren denn wir, die jetzt Fünfzigjährigen, gestand er sich ein, nicht auch voller Eitelkeit gewesen? Ja, es mussten unbedingt die Jeans von „Levi’s oder „Lee sein, kein billiges Zeug aus dem Woolworth. Das Fahrrad musste Alufelgen und eine Gangschaltung haben, sonst gab man sich bei den Kumpels der Lächerlichkeit preis. Vor allem wollte man schon immer, in beinahe jedem Alter, bei den Mädels durch Äußerlichkeiten Eindruck erwecken.

    Das ewige Gerede um die Änderung der Zeiten, es ist wenig dran, sinnierte Gonzalez. Die Jugend ist heute genauso eitel wie wir früher. Sie glaubt noch an das „ewige Leben und ist fest überzeugt, mit ihren Anschauungen im Recht zu sein. Die Zeiten ändern sich nicht, die „Menschheit ändert sich nicht, nur der Mensch, der einzelne Mensch, wird älter und damit wandeln sich seine Ansichten. Die Eitelkeit könnte man gar als Maßstab, als Indikator des Lebensalters betrachten. Nach dem Prinzip: Zeig mir deine Eitelkeit, und ich sage dir, wie alt du bist. Vornehmlich bei den höher Betagten lässt die Eitelkeit spürbar nach, und ist sie vollkommen verschwunden, stirbt der Mensch.

    „Können Sie nicht aufpassen?", herrschte ihn plötzlich eine Stimme an. Sie war weiblich und gehörte zu einem dunkelbraunen, böse blickenden Augenpaar, das ihn aus nur einem halben Meter Entfernung etwas von oben herab betrachtete.

    „Oh, entschuldigen Sie, beeilte sich Gonzalez zu beschwichtigen. „Ich muss wohl mit meinen Gedanken ein wenig abwesend gewesen sein.

    Beinahe wäre Gonzalez mit zwei ihm entgegenkommenden jungen Damen zusammengestoßen. Ihren äußeren Erscheinungen nach schienen sie verwandt zu sein, obwohl es sich wahrscheinlich um Freundinnen und nicht um Geschwister handelte. Bekleidet waren die Señoritas eigentlich nur mit überdimensionalen Schuhen und ebensolchen, über die Spaghettiträger geworfenen Handtaschen. Die übrige Kleidung fiel jedenfalls dagegen nicht maßgeblich ins Gewicht. Die brünetten Gesichter, die dunklen, lang bewimperten Augen, das schwarzbraune, schulterlange Haar, die ganze Komposition erinnerte Gonzalez an zwei spazierende Tafeln Vollmilchschokolade. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: Komisch, was man so für Assoziationen hat.

    Er trat einen Schritt nach rechts zur Seite und ließ die beiden Damen passieren. Mit leichtem Kopfnicken deuteten sie an, seine Entschuldigung huldvoll zu akzeptieren. Erst jetzt bemerkte Gonzalez, dass es immer öfter nötig wurde, auf dem Trottoir in Schlangenlinie zu laufen, weil die dicht umlagerten Bartische die Gehwege verengten. Die Enge hatte aber auch ihre Vorteile. Welcher Mann, gleich welchen Alters, verspürt nicht gern die Nähe und den Duft junger Frauen, deren Haar im Winde weht und einem fast die Wange streift? Die beiden, mit denen er auf Kollisionskurs geraten war, waren bei Weitem nicht die einzigen jungen Damen, die am heutigen Nachmittag auf dem Paseo de la Reforma flanierten. Meist gingen sie zu zweit oder zu dritt den Boulevard entlang und betrachteten gelegentlich die Schaufensterauslagen. Würde man sich in ein Straßencafé setzen, man sähe sie gewiss mehrfach vorbeikommen. Wohl ein Grund, weshalb um diese Zeit in den Cafés kaum ein freier Platz zu finden war.

    Ein natürlicher Magnetismus scheint noch immer zu funktionieren, amüsierte sich Gonzalez. Dort, wo sich regelmäßig Männer aufhalten, treten auch Damen im passenden Alter und Outfit auf. Aber in einem Punkt haben sich die Zeiten doch geändert: Die Mädchen werden größer. Die jungen Damen sind fast durchweg schlanke Liliengewächse, die ihre Mütter um Haupteslänge überragen. Ist das wirklich ein objektives Zeichen der Emanzipation oder auch nur eine optische Täuschung aus der Seniorenperspektive?

    Beinahe wäre Gonzalez, solcherlei Gedanken nachhängend, wieder unaufmerksam geworden. Nun hatte er aber den Platz der Republik ohne weitere Zwischenfälle erreicht. Hier treffen drei Geschäftsstraßen zusammen, deren Schnittpunkt ein auffälliger, schmiedeeiserner Brunnen ziert.

    Der Architekt hatte die aus dem runden Brunnenturm austretenden wasserspendenden Rohre exakt so angeordnet, dass die vier Himmelsrichtungen bezeichnet wurden. Aus den nach unten gebogenen, mit gespreizten Mundstücken versehenen Öffnungen der Rohre floss klares Wasser mit fröhlichem Plätschern in das Becken aus rotem Sandstein. Der Brunnen war um diese Zeit von jeder Menge Volk umlagert. Man konnte das Wasser mit beiden Händen auffangen, es trinken oder andere damit nass spritzen.

    Rechts des Platzes hatte auch das Café „Vera" in zwei Reihen Tische auf die Straße gestellt. Zum Glück stehen dort keine Bartische, dachte Camilo Gonzalez. So wird den im Café sitzenden Gästen nicht die Sicht auf die vorübergehenden Passanten versperrt.

    Drinnen, direkt am Fenster zum Boulevard, war an jedem Donnerstag ein kleiner Tisch für Gonzalez und seinen Freund reserviert. Carlos war an diesem Tage schon da, winkte und klopfte von innen an die Fensterscheibe. Jetzt erst wendete Camilo seinen Blick vom Geschehen am Brunnen ab, winkte Carlos kurz zu und betrat das Café.

    „Hallo, Carlos, ein schöner Tag, man könnte auch draußen sitzen, aber hier sind wir vor dem Getümmel geschützt."

    Carlos Moreno stand auf und schüttelte seinem Freund herzlich die Hand: „Das finde ich auch. Außerdem ist es klimatisiert und wir müssen unseren Stammplatz sichern. Hattest du was Besonderes am Brunnen entdeckt?"

    „Ja, mein Lieber, mir ist aufgefallen, dass die Mädchen heutzutage immer größer werden. Wir Männer können mit dieser Entwicklung kaum noch Schritt halten. Wohin soll das nur führen? Bald müssen nicht mehr die Frauen, sondern die Männer High Heels tragen, um auf das gleiche Niveau zu kommen."

    Carlos Moreno lachte: „Vielleicht ein Zeichen des Himmels, wir sollen uns gefälligst an unsere Jahrgänge halten, da stimmt die Größe noch überein. Schau dir all die greisen Schauspieler und Politiker an. Sie können nicht umhin, sich mit Freundinnen zu schmücken, die mindestens eine Generation jünger sind. Bei ihren Auftritten zu Galaveranstaltungen in ihren Galaroben wirken solche Paare doch immer sehr merkwürdig disproportioniert."

    „Mich überkommt dabei eher ein Gefühl des Bedauerns, denn ich glaube, die alten Adler suchen nicht aus, sondern werden selbst von ihrer Beute ausgespäht. Beim täglichen Stress des Geldverdienens bleibt ihnen auch kaum Zeit, die beste Auswahl unter all den Angeboten zu treffen."

    „Na, verbreite mal keinen Zweckpessimismus, mein alter Camilo. Dir würde so ein strahlendes Glamour Girl doch auch noch ganz gut gefallen!"

    „Gott sei Dank reicht dafür mein Gehalt nicht aus, konterte Camilo, ohne lange nachzudenken. „Du weißt doch, mit Geld ruiniert man sich, denn man wird bei den Banken kreditwürdig, noch schlimmer, man erweckt das Interesse geschäftstüchtiger junger Damen.

    Moreno wollte etwas erwidern, aber die Antwort wurde ihm abgeschnitten. In diesem Augenblick war der Kellner, traditionell mit schwarzer Hose und weißem, kurzärmeligem Hemd bekleidet, an den Tisch herangetreten: „Guten Abend, was darf es heute sein, meine Herren?"

    „Hola, Rudolfo, ich denke, wir nehmen wieder zwei große Bier und jeder ein Steak Argentino. Nur mit Salat und Toast, und, wie üblich, medium. Nicht wahr, Camilo?"

    „Ja, wie üblich! Aber warte, sollten wir uns heute zu dem herrlichen Wetter nicht erst einen passenden Mojito gönnen? Da hätte ich jetzt Lust drauf."

    „Okay, du hast recht, Camilo! Also Rudolfo, bring uns erst einmal zwei wunderbare Mojitos und danach steigen wir in unsere übliche Runde ein."

    „Eine gute Idee, meine Herren, erst gestern haben wir zwei Fässer besten weißen Jamaikaner hereinbekommen und

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