Völlig schwerelos: Miriam ist magersüchtig
Von Marliese Arold
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Über dieses E-Book
Miriam hat schon sechs Kilo abgenommen, seit sie regelmäßig joggen geht und Diät hält. Trotzdem findet sie sich noch viel zu dick. Fünf Kilo muss sie mindestens noch schaffen. Und wenn sie vor Hunger und Magenschmerzen nicht einschlafen kann, nimmt sie Appetitzügler und Abführmittel. Bis sie eines Tages einen alarmierenden Schwächeanfall erleidet …
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Buchvorschau
Völlig schwerelos - Marliese Arold
Inhalt
Kapitel 1 – Nach der ersten …
Kapitel 2 – Ich läutete dreimal. …
Kapitel 3 – Ich konnte nicht …
Kapitel 4 – Sechsundfünfzig Kilo, neunhundert …
Kapitel 5 – „Hast du abgenommen?", …
Kapitel 6 – Jenny, das kleine …
Kapitel 7 – Am Abreisetag wog …
Kapitel 8 – Völlig schwerelos. Ich …
Kapitel 9 – Die Fähre legte …
Kapitel 10 – In den nächsten …
Kapitel 11 – „Du liebe Güte, …
Kapitel 12 – Ich hatte wieder …
Kapitel 13 – Ich erfuhr es …
Kapitel 14 – „Das ist auch …
1
Nach der ersten Pause hatten wir Sport, und Frau Bliesel kam auf die Idee, uns wieder mal mit dem Stufenbarren zu quälen.
Von allen Turngeräten hasste ich den Stufenbarren am allermeisten. Ich fand es hirnrissig, Arme und Beine in unterschiedlicher Reihenfolge um zwei Holme zu wickeln und dann den restlichen Körper noch irgendwie herumzuschwingen. Dafür war der Mensch nicht geschaffen.
Es war die gleiche Tortur wie in den beiden Jahren zuvor. Vermutlich kannte Frau Bliesel keine anderen Übungen. Ich kam als Dritte an die Reihe. Sie rief mich auf, bevor ich aufs Klo verschwinden konnte.
Im letzten Jahr hatte ich die Übung noch geschafft, weiß der Himmel wie. Doch diesmal kriegte ich einfach nicht den Dreh. Ich hing am Barren und plagte mich. Beim Felgaufschwung kam mein rechtes Bein nicht hoch genug. Ich mühte mich ab, und meine Arme wurden schlaff und schlaffer.
„Los, Miriam, mehr Schwung!", feuerte mich Frau Bliesel an.
Als ob ich nicht schon alles tun würde! Ich schwitzte wie ein Schwein und merkte, wie ich mehr und mehr zur Alleinunterhalterin wurde.
Hinter meinem Rücken fingen ein paar an zu kichern.
„Kann nicht mal einer die Schwerkraft aufheben?", säuselte jemand.
Natürlich Tanja. Alte Klugscheißerin! Sie hatte irgendwann aufgeschnappt, dass ich Science-Fiction-Geschichten mochte. Seitdem nahm sie mich ständig damit hoch.
„Wie witzig", murmelte ich, aber ich ärgerte mich trotzdem. Denen würde ich es zeigen!
Ein neuer Versuch.
Diesmal blieb mein Bein in der Luft, und ich hatte das Gefühl, dass der Felgaufschwung klappen könnte.
Ja, ja, jetzt, jetzt!
Wie ein Fremdkörper schwebte mein Bein im leeren Raum, im Niemandsland zwischen oben und unten. Die Chancen standen fifty-fifty.
Die Klasse hielt den Atem an.
Mein Bein bewegte sich einen Millimeter weit in die verkehrte Richtung. Damit war es gelaufen. Ich wurde vom eigenen Gewicht wieder nach unten gezogen. Unerbittlich. Bleischwer.
Mit der Kniekehle krachte ich auf den Holm. Vor Schmerz traten mir die Tränen in die Augen. Hoffentlich riss eine Sehne. Dann brauchte ich das nächste Vierteljahr nicht mehr mitturnen.
„Was ist mit deinen Bauchmuskeln los, Miriam?, fragte Frau Bliesel. „Mehr Spannung. Los, noch einen Versuch.
Als ich Bauch hörte, hätte ich sie umbringen können. Sie hatte also auch gemerkt, wie fett ich seit letztem Jahr geworden war. Inzwischen sah es bestimmt jeder. Bloß nicht meine Mutter. Die behauptete nach wie vor, die Jeans seien beim Waschen eingegangen. Das sagte sie wahrscheinlich selbst dann noch, wenn ich zwei Zentner wog.
Ich hatte die Nase voll, ließ den Holm los und sprang auf die Matte.
„Was denn, was denn!", meckerte Frau Bliesel los, die kein Herz für Drückeberger hatte.
„Meine Hände sind rutschig, ich hab überhaupt keinen Halt", log ich.
„Dann nimm Talkum!"
Ich grinste sie an und ging zur Talkum-Schüssel. Es lag nicht am Talkum. Selbst wenn ich mich bis zu den Ellbogen damit einrieb, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass ich achtundfünfzig Kilo wog.
Ein Zentner, sechzehn Pfund.
Langsam und sorgfältig weißte ich meine Handflächen mit Talkum, so als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Meine Schneckentempotaktik hatte Erfolg. Frau Bliesel ließ von mir ab und rief Tanja an den Barren. Ich guckte aus den Augenwinkeln zu. Mir war klar, dass Tanja wieder eine Show abziehen würde, als sei sie Anwärterin auf die nächsten Olympischen Spiele.
Na bitte, es ging schon los. Allein dieses arrogante Lächeln. Tanja grüßt den Rest der Welt, vor allem so sportliche Nieten wie mich! Ich wünschte ihr von Herzen, dass sie richtig auf ihre ekelhafte Schnauze knallen würde.
Aber Tanja stürzte natürlich nicht, sie patzte nicht einmal. Man konnte vor Neid nur grün werden. Sie und der Barren, das waren keine Feinde, sondern Partner. Mühelos wickelte sie ihren Körper um die Stangen, sie federte auf den Holmen zurück, es gab keine Stockung, keine Pause, keinen Fehler. Eine wahre Augenweide, wenn es nicht gerade die Kotztüte Tanja gewesen wäre!
Frau Bliesel strahlte vor Stolz, ganz nach dem Motto: Seht euch Tanja an, meine Lieben, es ist also doch noch nicht Hopfen und Malz verloren.
Ich hielt es nicht mehr aus. Der Unterschied konnte nicht größer sein. Erst ich, dann die sagenhafte Tanja … Meine Niederlage war grenzenlos. Mich packte die wilde Wut, und weil ich nicht vor der Klasse losflennen wollte, rannte ich raus in den Duschraum.
In der ganzen Schule gab es keinen Ort, der unromantischer war. Die fahlgelben Kacheln waren eine Scheußlichkeit für sich. Jeder, der reinkam, litt an Gelbsucht. Als ich in den Spiegel guckte, war das Ergebnis gnadenlos.
Mein Gott, wie fett mein Gesicht aussah! Bronto-Miriam, die Speckschwarten-Queen! Wenn ich mein Kinn auf die Brust presste, hatte ich ein Doppelkinn wie Mama. Mein Bauch war längst kein Bäuchlein mehr, sondern eine Trommel. Und mein Busen war eine Katastrophe. Es gab tatsächlich ein paar Mädchen in meiner Klasse, die mich um meine Oberweite beneideten. Ich hätte ihnen gerne die Hälfe abgegeben, den Idiotinnen, die massig mit rassig verwechselten. Große Brüste lagen bei uns in der Familie. Mama und Oma brauchten D-Körbchen. Ich quetschte meinen Busen noch immer in B. An dem Tag, an dem ich auf C-Schalen umsteigen musste, würde ich mir eine Kugel in den Kopf schießen. Aber trotz Sport-BH schwabbelte und wabbelte es beim Laufen wie bei einem Erdbeben Stärke fünf. Ich hasste Tanja noch mehr, weil sie so schlank war, vorne rum fast wie ein Junge. Die würde nie einen BH brauchen.
Ich musste abnehmen, unbedingt! Mindestens acht Kilo. Ich wollte fünfzig Kilo wiegen wie vor zwei Jahren, kein Gramm mehr.
Automatisch fiel mir Mama ein. Die und ihre Diäten! Sie behauptete, dass keine Abmagerungskur bei ihr anschlug. Dabei gab sie nach spätestens drei Tagen auf. Kein Wunder, sie holte sich immer ekelhafte Pülverchen aus der Apotheke, mischte sie an und trank das grauenhafte Zeug als Ersatzmahlzeit. Angeblich waren in dem Getränk alle Mineralstoffe und Vitamine drin, die der Körper so braucht. Es schmeckte absolut widerlich, ich hatte gekostet. Ich hätte die Pampe kein zweites Mal runtergebracht. Lieber nichts essen als eine Woche lang lauter Chemie futtern! Und Kalorien hatte der Mist obendrein.
Ich saugte die Wangen ein und beobachtete dabei mein Spiegelbild. Viel besser. Mein Gesicht war schmaler und hatte mehr Ausdruck. Ich zog den Bauch ein, presste meinen Busen flach und betrachtete mich von der Seite. Mit fünfzig Kilo würde ich meine Wunschfigur haben.
Ich drehte schnell den Wasserhahn an, weil Angela hereinstürzte.
„Alles in Ordnung?"
Vermutlich hatte die Bliesel sie beauftragt nach mir zu schauen.
„Mir ist schlecht, log ich. „Meine Schwester hat ’ne Magen-und-Darm-Grippe, da hab ich mich vielleicht angesteckt.
Angela zuckte sichtlich zurück.
Ich verschwieg ihr, dass Jennys Krankheit schon ein Vierteljahr her war.
„Na ja, dann, meinte Angela. „Wir spielen jetzt Handball. Brauchst ja nicht mitmachen, wenn’s dir nicht gut geht.
Ich folgte ihr in die Turnhalle. Der Barren und die Matten wurden gerade in den Geräteraum geschafft. Ich hockte mich neben Silke auf das Bänkchen vor der Sprossenwand. Silke turnte so gut wie nie mit, keine Ahnung, warum. So oft konnte sie ihre Tage gar nicht haben. Ich mochte auch nicht fragen. Wenn sie nicht freiwillig darüber redete, dann hatte sie sicher ihren Grund.
„Magst du? Silke hielt mir ein Stange mit kleinen Täfelchen Traubenzucker hin. „Schmeckt echt gut.
„Danke." Ich ließ den Traubenzucker genüsslich auf der Zunge zergehen. Wirklich lecker, eine Mischung aus Zitronen- und Orangengeschmack. Erst hinterher fiel mir ein, dass auch darin Kalorien waren. Ich ärgerte mich. Wenn ich wirklich abnehmen wollte, dann musste ich besser aufpassen. Das fing schon bei solchen Kleinigkeiten an.
Zum Glück ließ mich die Bliesel in Ruhe. Irgendjemand hatte ihr wohl die Geschichte mit der Magenverstimmung erzählt, denn sie fragte mich erst gar nicht, ob ich Handball mitspielen wollte.
Ich sah zu, wie die anderen Mannschaften bildeten. Tanja führte natürlich wieder das große Wort, dabei war sie eine schlechtere Ballwerferin als ich. Meine Bälle waren ziemlich gefürchtet. Wenn ich richtig mit Kraft warf, dann waren sie unhaltbar. Bei Gelegenheit würde ich Tanja mitten ins Gesicht treffen, natürlich ganz aus Versehen. Irgendwie musste ich mich für die Blamage am Stufenbarren rächen.
Silke hatte keine Ahnung, welch finstere Gedanken ich gerade hegte. Sie lächelte mir zu, und automatisch lächelte ich zurück. Silke war lieb, nett und hilfsbereit, aber doch irgendwie komisch. Sie war in keiner Clique, und eine richtige Freundin hatte sie auch nicht. Sie gehörte zu den Menschen, die einfach nicht auffielen. Obwohl wir schon jahrelang in die gleiche Klasse gingen, wusste ich so gut wie nichts über sie. Auch jetzt hatte ich keinen Schimmer, was ich mit Silke reden sollte. Ich hatte absolut keinen Draht zu ihr. Silke bot mir noch einen Traubenzucker an. Diesmal lehnte ich ab.
„Danke, iss mal lieber selber. Du kannst es besser brauchen als ich."
Das war nur so dahergeredet, aber ich merkte sofort, dass ich was falsch gemacht hatte. Ich brauchte nur Silkes Gesicht anzuschauen. Das wurde richtig zu Marmor. Meine Güte, die war vielleicht empfindlich! Was hatte ich denn schon Schlimmes gesagt? Ich kriegte natürlich sofort ein schlechtes Gewissen.
„Ich meine, ich klopfte auf meinen Bauch, „ich bin sowieso schon viel zu dick.
So war es immer. Ich musste mich einfach entschuldigen und tausend Erklärungen finden, wenn etwas schieflief. Bloß nirgends anecken oder jemanden verletzen! Darin ähnelte ich Mama. Die war genauso harmoniesüchtig wie ich. Ärger runterschlucken, einlenken, lächeln. Nur mit meiner Schwester Jenny hatte ich ständig Zoff, aber irgendwie musste man schließlich sein Revier abstecken. Und die Kleine durfte mit ihren zehn Jahren schon viel mehr als ich damals.
Silke ging nicht auf mich ein. Sie tat, als ob es nichts Interessanteres gäbe als das dämliche Handballspiel. Na gut, ich drängte mich ihr bestimmt nicht auf.
Tanjas Mannschaft gewann. Küsschen hier, Küsschen dort, wie furchtbar. Eine richtige Showtante, ich hatte es ja
gewusst. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Autogramme verteilen würde!
Endlich gongte es zur Pause. Mein Magen reagierte prompt.
Nix da, Alter, diesmal muss ich dich enttäuschen, jetzt wird gefastet! Schließlich will ich nicht so aussehen wie Mama oder Oma!
Trotzdem schaute ich nach, was ich dabeihatte. Mama hatte mir eine doppelte Mischbrotscheibe mitgegeben, bestrichen mit feiner Leberwurst. Sie sorgte sich immer, dass Jenny und ich in der Pause etwas aßen – nach dem Motto: Nur wenn ihr was im Magen habt, könnt ihr euch richtig konzentrieren. Den Mengen nach hätte ich Klassenbeste sein müssen!
Ich guckte das Brot nur ganz kurz an, und schon bekam ich einen Riesenappetit. Ein Reflex – genau wie bei den Experimenten, von denen wir neulich in Bio gehört hatten. Ein Hund kriegt immer Futter, sobald die Klingel läutet. Nach einiger Zeit fängt er schon an zu seibern, wenn es nur klingelt – ganz ohne Futter. Bei mir war’s ganz ähnlich. Pausengong, Tütenrascheln, und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Richtig tierisch.
Ich wickelte das Brot wieder ein und steckte es in die Tasche zurück. Eigentlich fiel es mir gar nicht schwer, und ich war stolz darauf, dass ich so leicht verzichten konnte. Unglaublich, wie oft ich solche Brote gedankenlos in mich hineingestopft hatte, ohne hungrig gewesen zu sein! Wie viele Kalorien das gewesen waren! Ich kam genauso gut ohne Pausenbrot aus.
Doch als ich über den Schulhof lief, knurrte mir der Magen wie blöd. Dauernd musste ich dran denken, dass ich nichts essen wollte.