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Das Gewicht der Zeit
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eBook327 Seiten4 Stunden

Das Gewicht der Zeit

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Über dieses E-Book

"Das Gewicht der Zeit" erzählt eindringlich vom Widerstand einer jungen Frau und von der zerrissenen Geschichte Singapurs.

Malaysia in den Fünfzigerjahren: Der Ausnahmezustand wird verhängt, die Regierung fürchtet ein Übergreifen des Kommunismus aus China. Die junge Siew Li verlässt ihre Familie, um im Dschungel für die Freiheit zu kämpfen. Ihre Kinder werden aufwachsen, ohne von ihr zu wissen, ihr Mann wird alleine alt. Als sich jedoch die Londoner Journalistin Revathi auf die Spuren der damaligen Verbrechen begibt, wird daraus eine Suche nach der verschwundenen Siew Li, und Revathi taucht tief ein in die verdrängte Geschichte Malaysias und Singapurs. Von den 50er Jahren bis in die Gegenwart spannt sich Jeremy Tiangs berührender Roman einer Familie, deren Leben von politischer Willkür erschüttert und von der Suche nach der Wahrheit geleitet wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum23. März 2020
ISBN9783701746323
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    Buchvorschau

    Das Gewicht der Zeit - Jeremy Tiang

    Glossar

    1

    JASON

    Mollie Remedios starb bei der Explosion, die am 10. März 1965 das MacDonald House zerstörte. Sie saß an ihrem Schreibtisch bei der Hong Kong and Shanghai Bank und addierte Zahlenkolonnen, als die Wand hinter ihr einstürzte und gleich darauf die Decke. Ihre Lunge wurde perforiert, sie erlitt mehrere Rippenbrüche und eine Schädelfraktur, die augenblicklich zum Tod führte. Sie war vierundzwanzig Jahre alt.

    Außer Mollie gab es drei weitere Opfer – zwei Mädchen, die im selben Büro arbeiteten (die Zeitungen sprachen von »Mädchen«, obwohl eine von ihnen fast vierzig und geschieden war), sowie ein Fahrer der Borneo Malay Building Society nebenan, der von einem herabfallenden und mit Karacho durch sein Wagendach schlagenden Abflussrohr schwer verletzt wurde. Dreiunddreißig weitere Personen wurden ins General Hospital gebracht, und sieben von ihnen dort mit schweren Verletzungen stationär behandelt.

    Die Gesichter der drei toten Frauen, auf unspektakuläre Weise hübsch, erschienen am nächsten Tag auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen. Mollies tragisches Schicksal wurde hervorgehoben, weil sie so jung und vielversprechend gewesen war, erst vor Kurzem geheiratet hatte und ein Baby hinterließ. Der Fahrer lag fünf Tage lang bewusstlos im Krankenhaus, bevor er starb, und bekam daher weniger Aufmerksamkeit ab.

    Mollies Bruder Jason saß in seinem Büro am Connaught Drive, als wenige Minuten nach der Explosion zum ersten Mal im Radio darüber berichtet wurde. Sämtliche Gespräche erstarben. Jason raste nach unten, sprang auf sein Rad, strampelte am Padang vorbei, die Penang Road entlang. Als er sich dem roten Backsteingebäude näherte, wurde der Verkehr dichter, weil viele gaffend anhielten; einige Autos waren mitten auf der Straße abgestellt worden.

    Der Regen verwischte den Anblick zum Traum. Auf dem Gehweg standen Angestellte der Bank, sie waren gefasst, viele von ihnen bluteten aus kleineren Verletzungen.

    Die großgewachsenen weißen Männer von der Australian High Commission, die ihre Räumlichkeiten oberhalb der Bank hatte, sahen unverletzt, aber umso wütender aus. Sanitäter versuchten die Blutung auf der Stirn einer hageren alten Dame zu stillen, die auf einer Trage lag. Von außen wirkte das Gebäude unbeschädigt, bis auf die dunkel klaffenden Fenster, aus denen Glasscherben bis zu dreißig Meter weit geflogen waren.

    Ein Polizist in Khakishorts stellte sich Jason in den Weg, als dieser sich dem Gebäude nähern wollte. »Stop«, er packte ihn so heftig an der Schulter, dass Jason beinahe vom Rad gestürzt wäre, »no entry permitted.« Er rang mit den englischen Wörtern. »My sister«, sagte Jason bemüht ruhig. »My sister inside.« Aber der Polizist wiederholte, als hätte er einen Text auswendig gelernt: »Awas, danger, the building is unsafe.«

    Männer mit Notizbüchern und Kameras umkreisten vorsichtig das demolierte Gebäude. Leise machten Gerüchte in der Menge die Runde: Gasexplosion, Baumängel und dann immer lauter und drängender das Wort bomb.

    Nachdem die Polizei das Bombengerücht widerwillig bestätigt hatte, bildeten die Reporter vor den beiden funktionierenden Telefonzellen Schlangen und die Fotografen rasten im Taxi davon, damit ihre Bilder noch vor Redaktionsschluss entwickelt werden konnten. Ihnen allen schien bewusst zu sein, dass die Geschichte, die sie schreiben würden, Eingang in die nationale Mythologie fände. Das war der bisher schlimmste Zwischenfall in der Konfrontasi, der Konfrontation mit Indonesien. Sukarno zog die Daumenschrauben an, und die Reaktionen konnten nicht ausbleiben.

    Polizisten schwärmten aus, um Plünderungen zu verhindern. Jason klammerte sich an sein Fahrrad, wiederholte unausgesetzt »my sister, my sister«, bis sie ihn in Ruhe ließen. Bald war er der Einzige auf dem schwarzen Meer der regenglatten Straße, zu seinen Füßen lagen funkelnd wie Sterne Glassplitter. Die britischen Bombenräumer hatten ihren Auftritt, Männer mit mutigen Stimmen. Sie wirkten souveräner als die örtliche Polizei, aber sehr viel mehr, als die Umgebung des Gebäudes mit Fähnchen zu markieren und eindringlich in ihre Walkie-Talkies zu sprechen, konnten sie auch nicht tun. Sie hörten sich an wie aus einem Film.

    »Wo sind denn alle? Wo sind die Überlebenden?« Jason griff nach den Armen der Uniformierten, fragte zuerst auf Englisch, dann auf Malaysisch. Achselzuckend deuteten die Polizisten auf die Menschenmenge. In der herrschenden Unordnung erstellte niemand Listen mit den Namen der Überlebenden. Da waren zu viele – Menschenmeere, wie es im Chinesischen heißt. »Ist da noch jemand drin?« Niemand wusste die Antwort. Rettungskräfte schafften schubkarrenweise Schutt aus dem Gebäude, räumten große Betonbrocken weg.

    Als sie anfingen, Leichen herauszutragen, wusste er Bescheid. Er versuchte, näher heranzukommen, die verhüllenden Decken wegzureißen, doch immer wieder stellte sich ihm jemand in den Weg. »Go to the hospital«, hieß es. »Not here, not in the open.«

    Niemand bot an, ihn mitzunehmen, daher radelte er wieder durch die rutschigen Straßen, die New Bridge Road entlang und in die Outram. Die Leichenhalle mit ihren kränklich grün gestrichenen Wänden befand sich im Keller.

    Erst als er aufhörte zu schreien, zeigte ihm der Mitarbeiter zuerst die Leichen zweier Unbekannter und dann die seiner Schwester.

    Mollies Gesicht war blutverkrustet, die vertrauten Augen waren geöffnet, aber verschleiert. Zwischen ihren schönen Zähnen Bauschuttkrümel. Der Mitarbeiter hinderte Jason daran, seine Schwester zu berühren. Zur Identifizierung müsse er lediglich nicken. Dann wurde die Leiche zur Kennzeichnung fortgebracht.

    Er lehnte die Tasse Tee ab und sank im Korridor in sich zusammen. Wer würde die Kinder bei seinen Eltern abholen? Normalerweise hatte Mollie ihre Tochter schon aufgelesen, bevor er seine Zwillinge einsammelte. Er wollte etwas tun, aber die Luft drückte ihn nieder, lähmte ihn. Gern hätte er Mollie noch manches gesagt, aber sie war ja nicht mehr da. Später konnte er nicht sagen, wie viel Zeit er in diesem Keller verbracht hatte. Als er nach draußen trat, regnete es nicht mehr und die Sonne schien schwach.

    Drei Tage später wurden die Bombenleger, zwei indonesische Guerillakämpfer, verhaftet, als sie auf dem Seeweg entkommen wollten. Man hatte ihnen eine Tasche der Malayan Airways übergeben, die zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Pfund Nitroglyzerin enthielt, mit der Anweisung, sie sollten damit irgendein öffentliches Gebäude in die Luft sprengen. Sie waren gegen elf Uhr gelandet und hatten nach dem Mittagessen den Sprengstoff auf einer Treppe in der imposanten Bank abgestellt.

    In Jasons Erinnerung waren die Mörder kurz darauf tot, auch wenn er wusste, dass es drei Jahre gedauert hatte, bis ihre Berufung endgültig abgelehnt wurde; er hatte die Daten nachgeschlagen. Am 17. Oktober 1968 wurden sie hinter den hohen Mauern des Changi Prison gehängt. Wie viele andere stand Jason an diesem Tag vor den Gefängnistoren und wartete, bis die Flagge hochging, zum Zeichen, dass die Hinrichtung vollstreckt worden war.

    Nach fünfzig Jahren ist Jasons Rachebedürfnis mittlerweile stumpf geworden. Es spielt keine Rolle mehr, was diese Männer taten, warum ihre Führer ihnen den Befehl gaben, ob das Attentat hätte verhindert werden können. Es spielt keine Rolle mehr, dass sie dafür bestraft worden sind. Wenn seine Schwester nur nicht gestorben wäre, wenn Mollie sich an diesem Tag in einem anderen Raum aufgehalten, wenn sie früher Teepause gemacht hätte, dann wäre dies vielleicht auch seine Rettung gewesen. Wenn er auf seinem Eisenbett liegt, wohlwissend, dass er bald sterben wird, denkt er manchmal an Mollie und fragt sich, ob sie voller Angst war oder gelassen, als sie aufblickte und die Welt um sie herum plötzlich einstürzte.

    In den ersten Minuten nach dem Aufwachen kann sich Jason Low nicht erinnern, wo er sich befindet. Es ist nicht zwangsläufig schon Morgen, immer seltener sogar, denn er braucht mittlerweile so wenig Schlaf. Er liegt da im Dämmerlicht vor Tagesanbruch, kneift die Augen zusammen, um im Dunkeln Umrisse zu erkennen. Er hört schweren Atem, riecht Desinfektionsmittel. Als er die Hand nach seiner Frau Siew Li ausstreckt, bekommt er nur das Bettgitter zu fassen, und denkt kurz »Gefängnis«, bevor ihm einfällt, dass er im Krankenhaus liegt.

    Weil sein Bett in einem Zimmer der dritten Klasse steht, sind dort noch sieben weitere Patienten untergebracht. Am liebsten hätte er ein Einzelzimmer, aber nach jahrelanger kostenintensiver Krankheit ist sein Versicherungskonto nahezu ausgeschöpft. Jedes Mal, wenn er zaghaft vorschlägt, in ein Privatspital zu wechseln, in ein hübsches Zimmer des Mount Elizabeth etwa, lächelt seine Tochter sparsam. Offenbar rechnet sie fest mit ihrem Erbe und betrachtet jede unnötige Ausgabe geradezu als Diebstahl an seinen Enkeln. Er könnte sich über ihre Wünsche hinwegsetzen, aber wenn er Janet vergrault, wird sie nicht mehr vorbeischauen, und er bekommt überhaupt keinen Besuch mehr. Allmählich dringt Licht herein und die grauen Wände nehmen ihre kotzgrüne Tagesfarbe an. Neben ihm schnarcht Madam Ngoh mit offenem Mund und ruft im Schlaf nach ihren Kindern, die nicht da sind. Obwohl sie keine Gemeinsamkeiten haben – sie spricht kaum Englisch –, ist er doch auf sie angewiesen. Beide sind auf unabsehbare Zeit hier, Überlebende, während die anderen Betten immer wieder von neuen Durchreisenden belegt werden, Dilettanten, die mit grauem Star hereinrauschen und ohne hinaus. Heutzutage muss man wegen eines Nierensteins nicht einmal mehr aufgeschnippelt werden, das erledigt ein Laser, ohne auch nur die Haut zu ritzen.

    Heute ist keines der Betten durch einen Vorhang abgeschirmt, ein gutes Zeichen – niemand ist über Nacht gestorben. In den zwei Wochen, seit er hier ist, hat er dreimal mitbekommen, wie eine Leiche (diskret unter Laken) aus der Station transportiert wurde. Jedes Mal warf er Madam Ngoh einen Blick zu, und sie sah genauso besorgt aus, wie er sich fühlte. Die Zeit holt uns alle, einen nach dem anderen, dachte er, wie in einem Horrorfilm.

    Die Station selbst wirkt irgendwie deprimierend. Bei den Schwestern heißt sie »Geri« – »Heute bin ich auf der Geri«, sagen sie, manchmal direkt neben ihm. Er verargt es ihnen nicht, auch wenn es respektlos ist; er weiß, dass sein Gesicht eingefallen, sein Mund erschlafft ist, seine Augen trübe werden. Woher sollen sie wissen, dass unter all diesem hängenden, wabbelnden Fleisch Empfindungen wohnen? Er hat versucht, ihnen vom Gedicht »Traum des Gerontius« zu erzählen, aber sie haben keine Zeit für sein Altmännergebrabbel, sein altmodisches Beharren auf vollständigen Sätzen, gehen munter davon aus, dass er »geriatrisch« falsch ausspricht und versichern ihm, »Ja, genau da befinden Sie sich, Mr Low. Auf der Geri.«

    Bevor er hier gelandet ist, mochte er diesen Teil des Tages besonders – die kühle Luft, den leichten Nebel über dem Feld unten vor der Haustür. In der Morgendämmerung machte er sich eine Tasse Tee und setzte sich an den Küchentisch, lauschte, wie die Nachbarn allmählich aufwachten. Im Krankenhaus läuft das anders ab. Schon liegt klappernde Bereitschaft in der Luft, wenn die Nachtschicht übergibt und Terrinen mit Quaker-Haferflockenbrei gefüllt auf die Servierwagen geladen werden. Er versucht, sich aufzusetzen, dabei rascheln seine Laken unnatürlich laut. Nur die teuren Stationen haben Teppichboden. Dieses Zimmer hat Fliesen, die kein Geräusch schlucken, und einen Deckenventilator.

    Besonders erpicht darauf, dass der Tag beginnt, ist er allerdings nicht. Nach dem Frühstück verteilen die Schwestern die Medikamente und irgendwann am Vormittag wird er gewaschen. Wenn erst einmal die Tabletts mit den Resten des Mittagessens abgeräumt sind und er nichts mehr zu tun hat, zieht sich der Nachmittag endlos hin. In einer Ecke des Raums hängt ein Fernseher, aber er scheut sich hinzusehen – entsetzlich, wie viel Zeit mit Talkshows und Kochsendungen verplempert wird. Ob sein Gesicht genauso tot wirkt wie das der anderen, wenn sie daliegen und in die Glotze starren? Wenn er doch nur lesen könnte, aber es ist zu anstrengend, ein Buch zu halten, sich zu konzentrieren.

    Wenn seine Tochter kommt, ist sie ausnahmslos bei der ersten Besucherwelle um Punkt fünf dabei. Dazu muss sie frühzeitig ihren Arbeitsplatz verlassen und lässt ihn auch immer wissen, wenn sie aus diesem Grund ein wichtiges Meeting versäumt oder einen Abgabetermin nicht einhalten kann. Am liebsten hätte er gesagt: »You didn’t have to« – aber was, wenn sie ihn beim Wort nimmt und nicht mehr kommt?

    Janet ist Lehrerin – vielmehr war sie es, bevor ihre bürokratischen Talente von einem Wichtigtuer im Ministerium entdeckt wurden. Mit ihren steifen Strickjacken, der Schmetterlingsbrille und der Dauerwelle sieht sie immer noch wie eine Lehrerin aus. Jedes Mal, wenn Jason einfällt, dass seine Tochter in weniger als zehn Jahren in Rente geht, ist er verblüfft. Es kommt ihm falsch vor, dass sie alt ist.

    Gelegentlich wird sie von seinen Enkelsöhnen begleitet, die eindeutig nicht freiwillig kommen und so schnell wie möglich wegwollen, ins Kino oder zu ihren Freundinnen. Mittlerweile sind sie über zwanzig, groß und wohlgenährt, und sprechen dieses grässlich monotone Englisch, das offenbar unter den Jungen üblich ist. Ganz am Anfang hatte sich Janets Ehemann verpflichtet gefühlt, sich auch blicken zu lassen, doch er ist sehr damit beschäftigt, die Menschen in seinem Wahlkreis für sich zu gewinnen, und da das Krankenhaus in einem weit entfernten Stadtteil liegt, bringt es herzlich wenig, wenn er hier auftaucht und seine wertvolle Zeit verschwendet.

    Die Besuchszeit dauert bis acht, und allabendlich sitzt Janet pflichtbewusst am Bett ihres Vaters, bis die Krankenschwestern die Angehörigen zum Gehen auffordern. Manchmal erzählt sie ihm von ihrer Arbeit oder den Leistungen ihrer Söhne, aber meistens genügt es ihr, schweigend dazusitzen und irgendein Strategiepapier durchzuarbeiten, als reichte ihre bloße Anwesenheit aus. Zum Abschluss jedes Besuchs liest sie ihm aus Our Daily Bread vor, einem Heftchen mit frommen Traktaten, das ihre Kirche kostenlos verteilt. Jason hat sie daran erinnert, dass er nicht religiös ist, aber sie wischt das beiseite. Es könne nicht schaden, gelegentlich daran erinnert zu werden, wie man ein anständiges Leben führe, erklärt sie. Ohne es auszusprechen, wissen beide, dass sie denkt, wie wenig Zeit ihm noch auf Erden bleibt und wie gering ihre Chance ist, seine gefährdete Seele zu retten.

    Jasons Beamtenleben war in geordneten Bahnen verlaufen – jeder Tag glich dem vorigen möglichst aufs Haar. Seine Abteilung erwarb sich den Ruf großer Effizienz. Sitzungen fingen pünktlich an, von der Tagesordnung wurde nicht abgewichen. Projekte wurden genau zum vorgesehenen Termin abgeschlossen und blieben stets im Rahmen des Budgets. Als man ihn an seinem 65. Geburtstag mit einem Abschiedsessen in den Ruhestand verabschiedete, scherzte sogar der Minister, keiner von ihnen hätte je auf die Uhr sehen müssen, weil Jason immer dafür gesorgt habe, dass alles nach Zeitplan verlaufe. Sie schenkten ihm eine goldene Armbanduhr und eine gravierte Gedenktafel. Er hatte immer genau das getan, was von ihm erwartet wurde. War das die Belohnung dafür?

    Sein jetziges Gefangenendasein fühlt sich an wie eine infernalische Version seines früheren Lebens: lange, leere Tage, durchbrochen von regelmäßigen, sinnlosen Ereignissen. Selbst Janets Besuche, die eigentlich der Höhepunkt des Tages sein sollten, haben stets etwas süßlich Beklemmendes an sich. Er weiß, seine Tochter kommt mehr aus Pflichtgefühl denn aus Zuneigung. Wenigstens an eines seiner Kinder hat er sein Pflichtbewusstsein vererbt. Er hat um Schlaftabletten gebeten, damit er den Nachmittag übersteht, aber die Schwester teilt diese nur abends aus und auch nur, wenn der Arzt zustimmt.

    Das größte Problem ist sein Kopf, der ist schwach und schwammig. Er war immer stolz auf seinen klaren Verstand, aber jetzt kann er nichts mehr lange im Gedächtnis behalten. Mehr als einmal hat er die Schwester bitten müssen, ihm in ihrer Mittagspause eine Zeitung zu kaufen, weil es ihm peinlich war, nach dem Datum zu fragen. Es spielt eigentlich keine Rolle, er hat ja in absehbarer Zeit keine Termine, aber er darf nicht vergessen, wer er einmal war. Er darf nicht jemand werden, der der Welt so abhandengekommen ist, dass er nicht einmal weiß, welchen Monat man schreibt.

    Auf der verzweifelten Suche nach einem Gesprächsthema fragt er Janet manchmal nach Menschen, die nicht mehr leben. How is your mother?, will er wissen. How is Auntie Mollie? Beim ersten Mal starrte sie ihn erzürnt an, als wäre er ein widerborstiger Schüler oder hätte einen schlechten Witz gemacht. Jetzt sagt sie lediglich leise: »Tot, Pa«, und spricht dann von etwas anderem, übergeht elegant die peinliche Situation.

    Er weiß, dass sie tot sind, aber wie soll er ihr das erklären? Ihm ist sehr wohl bewusst, wie viel er verloren hat. Und trotzdem leben sie in ihm weiter. Er kann ihr nicht von den langen Gesprächen erzählen, die er mit den Toten führt, endlose Nachmittage lang, und dabei immer wieder zu begreifen sucht, wohin sie gegangen sind. Er kann ihr nicht verraten, dass ihn in den frühen Morgenstunden manchmal seine Schwester oder seine Frau besucht.

    »Lebt in der Vergangenheit«, hörte er sie einmal am Telefon flüstern. Die Menschen verlieren in seiner Gegenwart zusehends ihre Zurückhaltung. Vielleicht glauben sie, sein Gehör lasse nach, wie alles andere auch. Im Unterschied zu ihrem Bruder hat Janet nie Zeit damit verschwendet, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sie konzentriert sich lieber auf das, was sie ihre Ziele nennt. »Man muss wissen, wohin man will«, sagt sie gern. »Wie sollte man sonst je dorthin kommen?«

    Manchmal glaubt er, das muss so sein – sein Leben, das am Schluss vor seinen Augen vorbeizieht, die letzten, sich dehnenden Momente, die alles Geschehene umfassen. Aber die Ereignisse werden nicht chronologisch abgespult, dann hätte er ihnen zumindest gut folgen können. Ständig schweifen seine Gedanken ab, er verliert sich im Nebel der Erinnerung, trifft alte Feinde, durchlebt Auseinandersetzungen, aus denen er als Sieger hätte hervorgehen sollen. Anschließend ist er eine Weile grundlos zornig.

    Jason hat viel verloren – mehr als nur den üblichen Ehrgeiz, lange zu leben, stellt er fest. In den heißen, schlaflosen Nächten macht er Listen. Seine Eltern, natürlich vor langer Zeit. Seine Schwester und seine Frau, die ihm auf unterschiedliche Weise entrissen wurden. Seinen Sohn in London, einer Stadt auf der anderen Seite der Welt. Janet, die nur sich selbst gehört. Und Mollies Mann, seinen Schwager Barnaby, er hat beschlossen, Barnaby auf die Liste der Verluste zu setzen, obwohl sie sich nie besonders nahestanden. Weg ist weg.

    Er erzählt den Krankenschwestern von den vielen Menschen, die ihn verlassen haben, und sie nicken verständnisvoll und ungeduldig. Die Geri-Station ist voller Leute, die im Stich gelassen wurden, und trotz seines Kummers, seines Zorns bekommt Jason täglich Besuch von seiner Tochter. »Such a respectable lady«, raunt die Belegschaft, »and her husband an actual MP.« Was will er denn mehr, er hat doch eine so gute Tochter, die sich um ihn kümmert.

    Allabendlich, wenn Janet gegangen ist, macht er eine Bestandsaufnahme seines Körpers, der oft noch angespannt ist von der Anstrengung, mit ihr im selben Raum zu sein und gemeinsam um Herzlichkeit zu ringen. Steif liegt Jason da, hört, wie die anderen Zimmerinsassen herumschlurfen und sich zum Schlafen fertig machen. Obwohl er noch fast alle Zähne besitzt, kann er sich nicht besonders häufig zum Putzen aufraffen. Er hat Zweifel, ob er so lange leben wird, bis sie ihm wegfaulen.

    Den eigenen Verfall zu akzeptieren, fällt ihm schwer, auch wenn die Schwestern offenbar der Ansicht sind, mehr könne man nicht erwarten, wenn man so viele Jahre auf dem Buckel hat wie er (er ist sechsundsiebzig, was heutzutage kein Alter ist). Jason wäre gern einer dieser lächelnden Hundertjährigen, meist sind es Japaner, die in den Zeitungen ihre ausdauernd gute Gesundheit den Genen und einem Glas Brandy täglich zuschreiben, wobei ihre Augen lebhaft inmitten unzähliger Origamifalten zwinkern. Hundert scheint ein gutes Alter zu sein, auch wenn die Ärzte ihm mitgeteilt haben, er werde wahrscheinlich das Ende des Jahres nicht mehr erleben, wahrscheinlich nicht einmal das Ende des Monats (vermutlich wünschen sie sich das, dann wäre sein Bett frei, die Plätze sind knapp). Doch wahrscheinlich leben nur jene lang, die ohne Schuld und im Reinen mit sich sind.

    Er ist nicht immer ein guter Vater gewesen, das ist ihm bewusst. Zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass es damals ungewöhnlich war, als Mann Kinder allein großzuziehen. Natürlich hatte er Hilfe, nachdem Siew Li gegangen war: von seiner Mutter (und auch von seiner Schwiegermutter, obwohl er diese nach einiger Zeit nicht mehr gern fragte, sie weinte ständig). Mollie half eine Weile, aber sie hatte selbst ein Baby, und dann war sie auch weg. Manches Mal fragt Jason sich, ob sie eine Familie geblieben wären, wenn Mollie weiterhin da gewesen wäre. Seine Gedanken wandern wohlbekannte Pfade entlang: Was, wenn Mollie nicht gestorben wäre? Was, wenn seine Kinder gemeinsam mit seiner Nichte Stella aufgewachsen wären? Er stellt sich vor, wie alle nach der Schule zusammensitzen und Marmeladebrote futtern.

    Ob er sich wohl mit seinem Schwager hätte zusammentun sollen? Doch er hat nie viel Zeit für Barnaby gehabt – selbst als beide ihre Frauen verloren und innerlich zugrunde gingen, sprachen sie kaum miteinander. Barnaby war schwach, war es immer gewesen. Also zogen die beiden Väter ihre Kinder jeder für sich auf, blieben gefangen in ihrer Vereinsamung, auch dann noch, als die drei Kinder sich enger zusammenschlossen.

    Janet hält ihm liebend gern vor, dass er in vielerlei Hinsicht versagt hat. Sie streut seine Versäumnisse ins Gespräch ein, als wären es lustige Anekdoten: wie der siebenjährige Henry das Abendessen verweigerte und Jason daraufhin die Suppenschale auf den Boden donnerte. Wie Jason Janets Uni-Abschlussfeier vergaß, weshalb sie kein Foto davon hat. Wie er sie beide verprügelte, weil sie ohne Erlaubnis sein Zimmer betreten hatten. Man kann heute noch die Narben sehen.

    Seine Tochter ist ein unbekanntes Wesen für ihn. Sie ist eine gute Mutter – zumindest sind ihre Söhne wohlgeraten –, aber sie verschließt sich vor ihm, so wie sie es auch vor der Welt tut. Unerbittlich, gepanzert, so aalglatt und unbeirrbar, sie scheint keine Schwachstellen zu haben. Ziemlich oft, wenn er ihren energischen Schritt auf dem Stationskorridor nahen hört, ist seine erste Reaktion klaustrophobische Angst. Wann ist das passiert? Es war früher doch sicher einmal andersherum.

    Henry, sein Sohn, lebt seit Jahrzehnten in London und kommt nur selten nach Singapur. Es wäre für Jason ein Leichtes gewesen, in ein Flugzeug zu steigen – vor allem angesichts der vielen preiswerten Flüge –, aber sein Sinn für Schicklichkeit sagt ihm, es wäre Henrys Pflicht, herzukommen, seine Heimat zu besuchen, und nicht die der anderen, ihn zu besuchen. Was, wenn Jason sich auf die Reise gemacht hätte und nicht willkommen gewesen wäre?

    Er gestattet sich ein gewisses Bedauern. Es wäre zumindest nett gewesen, zu wissen, wie Henry lebt. Sein Sohn hat sich verwandelt, er trägt Tweedsakkos mit Lederflecken am Ellbogen und bedient sich der abgehackten Sprechweise des englischen Akademikers – er ist Geschichteprofessor an einem der weniger aufregenden Londoner Colleges. Wie ist es möglich, seine Herkunft so ganz und gar abzustreifen? Henry hat eine Wohnung in Bayswater, die sich Jason aufgrund der paar britischen Romane, die er gelesen hat, schäbig, feucht und nach Kohl riechend vorstellt. Janet war ein paarmal in London, erzählt aber kaum davon, deutet nur dunkel an, es sei erstaunlich, dass die Engländer nicht schon vor Generationen von der Cholera ausgerottet worden seien. Vieles im Leben seines Sohns bleibt ihm verschlossen. Warum hat er nie geheiratet, nie Kinder bekommen? Jason hat nie nachgefragt. Er hofft, dass sein Sohn nicht unter Folgeschäden leidet, nicht deshalb unverheiratet geblieben ist, weil er Angst hat, jede Frau könnte ihn verlassen wie die Mutter, an die er keine Erinnerung hat. Natürlich hat Jason selbst nie wieder geheiratet; weshalb, weiß er auch nicht. Er und Henry haben nie über diese Dinge gesprochen, nie über das, was wirklich wichtig war.

    Immerhin unterhalten sie sich; Janet hat ihm ein Handy samt Prepaid-Karte gekauft und nun kann er mit seinem Sohn in London für erstaunlich wenig Geld telefonieren. Er traut der Sache nicht richtig, erinnert sich an die Zeiten, als man nach einem Auslandsgespräch wochenlang eine latente Unruhe verspürte, bis die Telefonrechnung kam. Sein jüngster Enkel versucht ihn immer wieder davon zu überzeugen, dass ein Anruf nach Großbritannien übers Internet nichts kostet, aber das kann ja gar nicht funktionieren und außerdem besitzt er keinen Computer.

    Die Anrufe laufen stets gleich ab: Hallo und wie geht’s dir, dann betretenes Schweigen. »Was macht die Gesundheit?«, fragt Henry.

    »Furchtbar«, antwortet Jason, der definitiv nicht

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