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Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik: Forscher und Entdecker, Folge 3
Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik: Forscher und Entdecker, Folge 3
Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik: Forscher und Entdecker, Folge 3
eBook525 Seiten4 Stunden

Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik: Forscher und Entdecker, Folge 3

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Über dieses E-Book

Diese kleine Entdeckungsgeschichte(n) der Analytischen Chemie und der Gerichtsmedizin erzählt, wie das Nachweisen und Untersuchen von Stoffen in unbekannten Proben entdeckt wurde - von ersten Eisennachweisen mit Galläpfelsaft über Arsen- und Bleibestimmungen in der Kriminaltechnik bis hin zum Analyselabor im Weltraum, der DNS-Untersuchung von Neandertaler-Zahnstein und dem Aufkommen hochkomplizierter Analysetechniken für Großlabors mit AAS-, GC- und NMR-Geräten oder Kernspintomographen. Es bietet spannende Erzählungen von Erfindern und Entdeckern, kompakt-informative Beschreibungen von Techniken und Methoden der Forscher und reich illustrierte, gut verständliche Erklärungen, (fast) ganz ohne abschreckende Formeln und Fachbegriffe. So wird der/dem Leser/in ein guter Einblick in und Überblick über die Analytische Chemie gegeben und hierin ein gutes Allgemeinwissen vermittelt - auch für Schule, Studium und Beruf.
Stichworte aus dem Inhalt / den Buchkapiteln: Forensik - Nachweis von Mordgiften (Arsen, Alkohol, Thallium, Radium und Blei); Naturwissenschaften, Probierkünste und Kenntnisse in Altertum, Mittelalter und Neuzeit; Hüttenwesen, Naturphilosophie und Alchemie; Anfänge der analytischen Chemie (Boyle, Hoffmann, Richter, Dalton, von Liebig, Berzelius, Raoult usw.); Instrumentelle Anaslysemethoden und Labortechniken (Faraday, Helmholtz, Runge, Schönbein, Zwet / Gaschromatographie); Entdeckung und Entwicklung der elektrochemischen, optischen, chromatographischen und gekoppelten Analysemethoden (u.a.: Polarimetrie, Photometrie, Bunsens Spektralanalyse, Röntgenbeugung und -streuung, Spektroskopische Methoden, GC, MS, NMR, AAS ...); Röntgenmethoden, Elektrophorese, UV-, Infrarot- und Kernspinresonanz-Spektroskopie); Kalibrierung und Validierung - die Messgenauigkeit; Analyselabors im Weltraum; DNS-Untersuchung, Schadstoff-Spurensuche - und vieles mehr
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum5. März 2020
ISBN9783740745318
Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik: Forscher und Entdecker, Folge 3
Autor

Michael Wächter

Der Autor ist Lehrer, verheiratet, hat 6 Kinder und betätigt sich als Roman-, Sach- und Lehrbuch-Autor. Er war auch Hobbyastronom und in der wikipedia-Fachredaktion Chemie. (Website: https://michael-waechter.jimdosite.com/ )

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    Buchvorschau

    Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik - Michael Wächter

    Impressum

    Vorwort und Einführung

    Moderne Analyselabors nutzen heute teure, hochpräzise Geräte, mit denen Spurenstoffe noch in Konzentrationen von Tausendstel oder Zehntausendstel Promille nachgewiesen werden können. Hochdruck-Flüssigkeitschromatograph (HPLC), Infrarot-, Kernspin- und Atomabsorptionsspektroskop (IR, NMR, AAS) und Massenspektrometer (MS) sind nur einige dieser Hochleistungsgeräte heutiger Labortechnik. Sie ermöglichen Nachweise nahezu alle Spurenelemente und Schadstoffe in Luft-, Wasser-, Boden- und Materialproben, Entdecklungen von Edelmetallen oder Aminosäuren im Weltraum, medizinische Diagnosen und Therapien zahlreicher Erkrankungen oder auch gerichtsmedizinische Befunde von großer juristischer, kriminologischer oder politischer Bedeutung. Die Analytische Chemie ist ein kaum noch verzichtbarer Bestandteil der industrialisierten Gesellschaft geworden – von der Forschung, Produktion und Anwendung über den Umweltschutz bis hin zum Schutz von Verbrauchern und Gesamtbevölkerung.

    Wie aber wurden diese Analysetechniken und –methoden eigentlich erfunden und entwickelt? Und wie haben Forscher und Analytiker die hier genutzten Phänomene der unbelebten Natur eigentlich entdeckt? Dieses Buch will die Entdeckungsgeschichte(n) der Analytischen Chemie nachzeichnen. Kekulé, der Entdecker der Struktur des Benzolmoleküls, hat sie 1890 einmal folgendermaßen beschrieben:

    „Man hat gesagt: die Benzoltheorie sei wie ein Meteor am Himmel erschienen, sie sei absolut neu und unvermittelt gekommen. Meine Herren! So denkt der menschliche Geist nicht. Etwas absolut Neues ist noch niemals gedacht worden, sicher nicht in der Chemie."       

    (nach: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 23 (1890), 1265–1312, S. 1306).

    Jedem, der aus der lehrreichen Entdeckungsgeschichte der Chemie etwas erkennen und lernen will, riet er:

    „Mit Schnellzügen macht man keine Forschungsreisen und durch das Studium selbst der besten Lehrbücher wird man nicht zum Entdecker. - Wer sich zum Forscher ausbilden will, muss die Originalwerke der Reisenden studiren; so gründlich, dass er nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, sondern die selbst da nicht zum Ausdruck gebrachten Gedanken zu errathen vermag. Er muss den Pfaden der Pfadfinder folgen; auf jede Fussspur, auf jeden geknickten Zweig, auf jedes gefallene Blatt muss er achten."

    Einige dieser interessanten Spuren, Zweige und Blätter werden in diesem Buch nacherzählt, unterhaltsam und mit fachdidaktisch aufbereiteten Erklärungen versehen, in der Hoffnung, dass der fachunkundige Leser einen spannenden und zugleich lehrreichen Einblick erhält – und der unter Umständen spezialisierte Fachmann einen informativen, fachdidaktisch fundieren Überblick über interessante, erkenntnisgeschichtliche Zusammenhänge der Analytik mit den Naturwissenschaften allgemein und der Zeitgeschichte der jeweiligen Entdeckungen und Erfindungen.

    1. Forensik (Einführendes Kapitel)

    1.1. Gettler, Norris und der Nachweis von Giften

    1.1.1 Fanny Creighton und das Todesurteil durch Gettler, ihren Retter

    Ada Applegate starb im Herbst 1935. Ihr Mann rief den Arzt. Er stellte den Todesschein aus. Er besagte, Ada habe verstopfte Arterien gehabt, denn sie wog 250 Pfund. Ihr Herz habe aufgegeben. Vier Tage später unterbrach die Polizei ihre Beerdigung. Die Leiche wurde beschlagnahmt. Es war Verdacht aufgekommen: Im Haus des Witwers wohnte nun eine andere Frau, Mary Frances Creighton. Und bei der Polizei war ein anonymes Paket vergilbter Zeitungsausschnitte eingetroffen, welche berichteten, dass Creighton vor zwölf Jahren schon zwei Mal wegen Mordes angeklagt gewesen sei – an ihrem 18jährigen Bruder Avery (wohl mit Arsen) und an ihrer Schwiegermutter (wiederum mit Arsen). Die Polizei schaltete einen Sachverständigen ein, den Chemiker Alexander Gettler. Er wies nach: Ada Applegates Leiche enthielt Arsen, das Drei- bis Vierfache der tödlichen Dosis.

    Creighton wurde sofort verhört. Tagelang. Es ging um Gift im Eierlikör. Sie aber gab den Mord an ihrem Bruder und ihrer Schwiegermutter zu. Sie habe ihn 1923 wegen einer Lebensversicherung über 1000 Dollar ermordet. Zeugenaussagen des Sachverständigen Alexander Gettler hatten die Beweiskette damals jedoch entkräftet – seine Aussage rettete Creighton vor dem elektrischen Stuhl. Jetzt, nach dem damaligen Freispruch, konnte sie deshalb kein zweites Mal vor Gericht gestellt werden. Im Verhör unterstellte die Polizei Creighton ein Verhältnis mit Everett Applegate, dem Witwer. Dabei kam heraus, dass er ein Verhältnis gehabt hatte – mit Fannys 15jähriger Tochter. Fanny hatte gehofft, die Verantwortung für ihre Tochter an Everett Applegate loszuwerden, wenn er sie geheiratet hätte. „Mary" und „Appy" kamen schließlich trotz mehrerer Ungereimtheiten und dem Mangel an anderen Beweisen vor Gericht. Nach der Zeugenaussage Alexander O. Gettlers war Frances Creighton’s Todesstrafe absehbar. Zwei Mal schon hatte er sie vor dem elektrischen Stuhl gerettet. Jetzt aber konnte er ihr den Giftmord an Ada Applegate zweifelsfrei nachweisen. Das Gericht tagte am 19.1.1936. Mary gab nach 45 Minuten zu, dass sie wusste, dass Appy den Killercocktail zubereitet hatte. Und sie hatte ihn Ada gegeben.

    Das Gericht fällte zwei Todesurteile. Die 38jährige Hausfrau Mary Frances Creighton und ihr 36jähriger Komplize Everett Appelgate wurden sieben Monate später, am 16.7.1936, hingerichtet – im New Yorker Sing-Sing-Gefängnis auf dem elektrischen Stuhl „Old Sparky". Sein Spitzname „Old Sparky" spielt auf die verwendete Hochspannung von rund 1900 Volt an (von engl. spark, „Funke").

    Wie hatte Gettler dieses Mal seine Beweise angetreten und das Gift identifiziert? Und wer war Gettler, dieser alles entscheidende Zeuge? Alexander O. Gettler (1883 – 1968) war Biochemiker einer neuen Behörde namens OCME, ein anerkannter Experte. Er trat als forensischer Sachverständiger vor Gericht auf. Er musste die Geschworenen erst einmal davon überzeugen, dass seine chemische Analysen zur Wahrheitsfindung beitragen konnten. Mit der Zeit hatte er sich den Ruf unter Strafverteidigern erworben, ein Fall sei nur dann gewinnbar, wenn Gettler nicht Zeuge der Gegenseite ist. Er hatte immer wieder neue Verfahren entwickelt, um in Leichenteilen Gifte nachzuweisen – und dass diese nicht erst nach dem Tod in die Körper der betreffenden Person gelangt waren. 1921 hatte er ein Analyseverfahren entdeckt, mit dem er nachweisen konnte, ob ein in Wasser getauchter Verstorbener zu diesem Zeitpunkt noch lebte oder nicht. Er verglich den Salzgehalt des Blutplasmas in den beiden Herzkammern: Bei Lebenden änderte das Wasser in der Lunge den Salzgehalt des Blutes, das in die linke Herzkammer strömte. Bei Toten jedoch blieb die Konzentration beim Untertauchen in beiden Herzkammern gleich, denn ihr Herz schlug nicht mehr. Analyseergebnisse wie z.B. von der Salzkonzentration im Blutplasma der Herzkammern oder vom Arsengehalt in Leichenteilen wurden zu entscheidenden Beweismitteln vor Gericht – für Freisprüche ebenso wie für Urteile zum Tod auf dem elektrischen Stuhl.

    Interessant ist, wie es zur „Erfindung des elektrischen Stuhls kam. Sie ging auf den „Stromkrieg zwischen Edison und Westinghouse zurück: Thomas Alva Edison (1847 – 1931) und machte grundlegende Erfindungen und Entwicklungen in den Bereichen elektrisches Licht (elektrische Glühlampe 1879, erstes US-Kraftwerk 1882), Telekommunikation sowie Medien für Ton und Bild. Er entwickelte Schalter, Sicherungen, Kabel, Messgeräte, Verbrauchszähler und den Jumbo-Generator (27 t Gewicht, Leistung 100 kW, genug für 1200 Glühbirnen). Er verwendete Gleichstrom, der nur über kurze Strecken sinnvoll transportiert werden kann (bei längeren Leitungen ist der Energieverlust enorm) und über eine zweite Leitung wieder zurückfließen muss. George Westinghouse (1846 – 1914) war sein Konkurrent. Der Erfinder der Druckluftbremse, Ingenieur und Großindustrielle der Westinghouse Electric and Manufacturing Company nutzte Wechselstrom. Der in regelmäßigen Zeitabständen regelmäßig seine Fließrichtung ändernde Strom machte die elektrische Energieübertragung wirtschaftlicher – und Edison neidisch. Westinghouse hatte schließlich die Patente von Edisons Mitarbeiter Tesla gekauft, für einen Wechselstrom-Motor, der ohne Reibung läuft.

    Edison begann einen schmutzigen Feldzug. Als gefeiertes Genie wollte er sich von einem Bremsenfabrikanten und serbischen Motorenbauer nichts bieten lassen. Zur Veranschaulichung der Gefährlichkeit von dessen Wechselstrom tötete er in öffentlichen Shows ab 1887 Hunde, Katzen, Kälber und schließlich sogar ein Pferd und einen Elefanten. Spannungen in Stromleitungen von über 300 Volt wollte er verbieten lassen – was das Ende für Westinghouse wäre. Dieser suchte das Gespräch. Edison lehnte ab. Januar 1889 erließ New York ein neues Gesetz: Todesurteile für Mörder sollten mit Strom vollstreckt werden. Edison empfahl den Wechselstrom als Strom der Henker, direkt aus Westinghouse-Generatoren. Perfide sein Vorschlag auch in der Wortwahl: die Exekution durch Stromschlag solle to westinghouse heißen. Westinghouse tobte: Edisons Methoden seien „unmännlicher, beleidigender und lügnerischer … als in jedem Wettkampf, den ich kenne" (zitiert nach: C. Scheuermann, Duell der Erfinder, in: spiegel online vom 1.5.2008¹). 1890 fand die erste Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl statt. Zwei Mal musste der Henker den Hebel für den Wechselstrom umlegen. Erst dann zuckte der Verurteilte nicht mehr spastisch und erbrach keinen weißen Schaum mehr².

    Westinghouse gewann den „Stromkrieg" übrigens trotzdem. Innerhalb von zwei Jahren baute er über 30 Kraftwerke und versorgte 1890 bereits 130 amerikanische Städte mit Wechselstrom.

    1.1.2 Das erste auf naturwissenschaftlichen Untersuchungen gestützte Urteil (1840)

    Wie weisen Analytiker und forensische Sachverständige wie Gettler nach, dass gewisse Proben Gifte enthalten? Das wohl erste Gerichtsurteil, das sich auf solche naturwissenschaftlichen Untersuchungen stützte, fiel ein halbes Jahrhundert zuvor, am 19.9.1840. In Tulle, Frankreich, stand die 24-jährige Marie Lafarge vor Gericht. Sie stand im Verdacht, ihren vier Jahre älteren Ehemann Charles vergiftet zu haben. Der hatte nach der Kontaktaufnahme über einen Heiratsvermittler um die noch 22jährige geworben. Er behauptete, er sei ein wohlhabender Fabrikbesitzer, doch nach ihrer Hochzeit im August 1839 landete Marie in einem heruntergekommenen Kloster. Charles hatte hohe Schulden. Sie beschwor ihn in einem Brief, sie solle ihn sofort wieder freizugeben – oder sie vergifte sich mit Arsenik. Dann legte sie falsche Spuren: liebevolle Briefe und begeisterte Berichte über ihr Leben an die Freundinnen in Paris, und das Einsetzen ihres Mannes als Erben. Dann ein Kuchen für Charles. Er bekam davon schwere Krämpfe, Erbrechen, Bettruhe – Anzeichen für eine Vergiftung. Charles schob es auf den möglicherweise verdorbenen Kuchen. Marie pflegte und verpflegte ihn. Binnen weniger Tage kamen dieselben Symptome wie zuvor, nur schlimmer. Er verstarb unter Qualen er am 14.1. Ein Hausmädchen hatte gesehen, wie Marie ein weißes Pulver in einen Stärkungstrunk für Charles gerührt hatte. Die von Marie hergerichteten Speisen aus den letzten Tagen von Charles’ Leben wurden sichergestellt. In einem gestohlenen Döschen fand sich das Arsenik-Pulver, und die Symptome passten. Zeugen bestätigten, sie habe das Arsenik besorgt – für Ratten. Einen Beweis für den Giftmord gab es nicht, doch da man bei Marie Jahre zuvor gestohlene Juwelen fand, bekam sie 24 Monate Haft wegen Diebstahls.

    Die Ermittler hatten Zeit. Sie stießen auf einen Test, den britische Chemiker James Marsh vier Jahre zuvor entwickelt hatte, mit dem man Arsenik in Speisen und Getränken nachweisen konnte. Der Gutachter Mathieu Orfila nahm die Untersuchung der mangels Kühlmöglichkeiten inzwischen längst vergammelten Speisen vor. Der Test fiel positiv aus. Marie Lafarge bekam „lebenslänglich". So verurteilte das Gericht sie zu knapp elf Jahre später wurde sie aus Gesundheitsgründen entlassen und starb wenige Monate später an Tuberkulose. Ihr Prozess schrieb Rechtsgeschichte – der Beginn der Rechtsmedizin: Erstmals hatte eine naturwissenschaftliche Untersuchung zu einem Gerichtsurteil geführt.

    Damals gab es so gut wie keine oder nur sehr schlampige Spurensicherung – der erste Sherlock-Holmes-Roman „Eine Studie in Scharlachrot" von Sir Arthur Conan Doyle zeigte 1887 den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Professionalität und der Hilflosigkeit der realen Polizei. Mordfälle wurden bisher so gut wie nie aufgeklärt. Nun aber wurden Tatorte immer öfter gesichert und Spuren gesammelt. Das deduktive Denken, bei dem man mit Hilfe von Beweisen logisch zwingende Schlussfolgerungen zieht, bekam langsam den Vorrang, noch vor Zeugenbefragungen.

    In den USA gab es das Coronersystem noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Coroner waren Geschworene, keine Mediziner. Sie waren es auf Grund ihrer politischen Beziehungen statt auf Grund einer beruflichen Qualifikation. Oft genug wurden Schmiergelder gezahlt, z.B. um Selbstmorde oder gar Morde zu „Unfällen" zu machen. 1915 kam heraus, dass das Coronersystem die Stadtverwaltung von New York City 172.000 Dollar jährlich kostete, während das Medical Examiners Office von Suffolk County, Boston, mit 32.500 Dollar jährlich auskam. Also sollte das Coronersystem abgeschafft werden.

    So kam es zur Gründung des OCME, des Office of Chief Medical Examiner of the City of New York. Der Chefposten des OCME wurde gegen den Willen des neu gewählten New Yorker Bürgermeisters John Francis Hylan 1918 mit Charles Norris besetzt, einem der Mitbegründer der Forensik (Gerichtsmedizin). Gettler wurde einer seiner wichtigsten Mitarbeiter.

    1.1.3 Gettler, das Arsen und der Alkohol – der Mordfall Creighton (1923/20’er)

    Der Fall Fanny Creighton zeigt die hohe Bedeutung von Sachverständigen und Gutachten aus chemischen Analyselaboratorien. Schon 1923, als Fanny Creightons Bruder  gestorben war, hatte man in dessen Leiche Arsen gefunden. In der Wohnung fand man ein arsenhaltiges Kosmetikprodukt namens Fowler's Solution. Fanny kam unter Mordanklage. Es gelang ihr, den Todesfall als Selbstmord aus Liebeskummer hinzustellen. Sie kam frei. Die Staatsanwaltschaft untersuchte derweil den einige Jahre zuvor eigetretenen Tod ihrer Schwiegereltern. Die Leiche wurde exhumiert und untersucht. Hierzu wandte man den damals in der analytischen Chemie üblichen Reinsch-Test an. Er war, wie Hugo Reinisch feststellte, wesentlich genauer als der Arsennachweis über die Marsh’sche Probe³: Die Probe wurde in Salzsäure gelöst, zum Test auf Quecksilber mit einem Stück Kupferblech versehen und einer Spektralanalyse unterzogen, um Antimon, Arsen, Bismut, Selen und Thallium nachweisen zu können. In der exhumierten Leiche fand sie das Vierfache der tödlichen Menge Arsen. Als Fanny vom Mord an ihrem Bruder freigesprochen wurde, folgte die nächste Anklage noch am gleichen Tag - wegen Mordes an ihrer Schwiegermutter.

    Ihre Anwälte schalteten Alexander O. Gettler ein. Auch er kam über den Reinisch-Test zum gleichen Ergebnis. Dann aber stutzte er und variierte die Analysemethode. Etwas stimmte nicht. Weitere Versuche mit unterschiedlichen Temperaturen zeigten, dass es sich bei dem vermeintlichen Arsen in Wirklichkeit auch um Bismut handeln konnte. Die später Verstorbene hatte es mit einem Medikament zu sich genommen. Der Giftmord mit Arsen ließ sich so also nicht zweifelsfrei nachweisen. Gettler machte eine entsprechende Zeugenaussage und wurde so ihr Retter: in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Fanny kam erneut frei.

    Ebenfalls in den 1920’er Jahren entwickelte Gettler einen Schnelltest zur Bestimmung von Methanol in illegal gebrannten Spirituosen. Durch das landesweite Alkoholverbot in den USA 1920 bis 1933, die Prohibition, hatte es einen Boom an illegaler Schnapsbrennerei gegeben. Die Kriminalitätsrate stieg an, ins Besondere die Organisierte Kriminalität (Al Capone und Johnny Torrio schufen in Chicago eine eigene komplette Alkohol-Industrie und konnten dank des Alkoholverbotes Wucherpreise für Spirituosen verlangen). Und es gab immer mehr Tote in Folge des in diesen Spirituosen enthaltenen, giftigen Methanols. Gettler und sein Kollege Charles Norris kämpften gegen verunreinigten Alkohol. Methanolvergiftungen bewirken Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Übelkeit, Erbrechen und eine durch Übersäuerung des Blutes einsetzende beschleunigte Atmung. Diese Azidose schädigt den Sehnerv, Netzhautödeme und eine Erblindung können folgen. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Norris schätzte die im Verlauf der Prohibition erreichte Anzahl der Methanol-Opfer später auf etwa 10000 (Zu den Methanol-Opfern kamen noch die Todesfälle durch die immer stärkere Vergällung von Alkohol hinzu, der für medizinische und industrielle Zwecke eingesetzt wurde – auch er wurde getrunken und führte zu tödlichen Vergiftungen). Der Methanol-Schnelltest wurde zur Waffe im Kampf gegen den Methanol.

    1.1.4 Verbleites Benzin und die Radium Girls (bis 1928)

    Anfang der 1920er Jahre, Norris und Gettler waren gerade für die OCME tätig geworden, betrieb die Standard Oil Company eine Raffinerie, in der ein Antiklopfmittel produziert und dem Benzin beigesetzt wurde. Es verbesserte das Benzin, indem es die unkontrollierten Selbstentzündungen (das „Klopfen) in den Zylindern verhinderte (Erhöhung der „Oktanzahl ROZ, von Research Oktan Zahl). In Deutschland verwendete man zur Erzeugung klopffesten Superbenzins Motylpatronen mit Eisencarbonylen. In den USA setzte man Tetraethylblei TEL ein („verbleites Benzin"). Die Erstherstellung von TEL war 1854 gelungen, und Thomas Midgley Jr. (1889 – 1944) von General Motors hatte 1921 entdeckt, dass es als Antiklopfmittel wirkte. Die Arbeiter, die mit Midgley das TEL herstellten, begannen sich jedoch immer seltsamer zu verhalten (Ihr Produktionsgebäude bekam den Spitznamen The loony gas building, dt.: „Das verrückte Benzin-Gebäude"). TEL wurde durch die Haut aufgenommen und sammelte sich im Körper an. Die Standard Oil Company und General Motors gründeten 1924 die Ethyl Gasoline Corporation, um sich das Patent und das TEL-Herstellungsmonopol zu sichern, doch im Herbst 1924, wurden ihre Arbeiter ernsthaft krank. Es kam zu Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abmagerung und Defekten der Blutbildung, des Nervensystems und der Muskulatur. 32 der 49 Arbeiter mussten ins Krankenhaus, fünf von ihnen starben dort. Das OCME wurde eingeschaltet. Gettler wies Bleivergiftungen nach. In den Körpern der Toten fanden sich sehr hohe Konzentrationen an Blei. Norris legte die Beweise vor. Arbeitsschutz durch Handschuhe kam auf. New York City, Philadelphia und New Jersey verboten dem Konzern das verbleite Benzin. Die Lobbyisten der Konzerne intervenierten. Midgley bekam 1924 aber auch eine Bleivergiftung, als er den Dampf seines Kraftstoffes inhaliert hatte, um seine Ungefährlichkeit zu demonstrieren. Er musste sie über ein Jahr lang auskurieren. Es hieß:

    „Als die Negativschlagzeilen nicht mehr abrissen, reagierte Thomas Midgley mit einer drastischen PR-Maßnahme: Vor den Augen der Journalisten wusch sich der Chemiker am 30. Oktober 1924 die Hände mit dem giftigen TEL. Dann hielt er sich eine Flasche mit der Substanz unter die Nase und inhalierte 60 Sekunden lang. Das könnte ich jeden Tag machen, ohne gesundheitliche Probleme zu bekommen, belog Midgley die Journalisten. Dabei hatte er sich gerade im Jahr zuvor eine gravierende Bleivergiftung zugezogen und eine sechswöchige Arbeitspause einlegen müssen." (zitiert nach: Katja Iken: Der Mann, der fast die Menschheit auslöschte (und sich am Ende selbst strangulierte). In: einestages / spiegel online v. 16.5.2014; über: http://www.spiegel.de/einestages/fckw-erfinder-thomas-midgley-schuld-am-ozonloch-a-968979.html).

    Die Kampagne hatte dennoch Erfolg: Die US-Bundesregierung hob das Verbot 1926 wieder auf. Midgley triumphierte. Norris aber blieb hartnäckig. Wenn verbleites Benzin im Motor verbrennt, so wusste er, entstehen Blei und Blei(II)-oxid. Damit sie sich nicht im Motor ablagern, setzt man dem Kraftstoff in den Raffinerien die Stoffe 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan zu. Nun bilden sich Bleibromid und –chlorid. Diese sind bei den Verbrennungstemperaturen flüchtig. Sie verlassen den Motor und gelangen über die Abgase direkt in die Umwelt. Aber auch 1,2-Dibrom- und 1,2-Dichlorethan sind giftig. 1934 wiesen Gettler und Norris nach, dass der Straßenstaub immer bleihaltiger geworden war: Seine Bleikonzentration war von 1924 bis 1934 um 50 % gestiegen. Besonders in der Nähe von Straßen und in den Städten wurde die Vegetation mit großen Mengen an Bleioxidstaub belastet. Doch auch in Europa kam das verbleite Benzin in Mode, ab Mitte der 1930er Jahre in Deutschland (Erst 1972 startete die EPA, die US-Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency, eine Kampagne gegen das TEL. Sie lief bis 1986, dann setzte sich bleifreies Benzin durch. Auch in Deutschland wurde es nach und nach an immer mehr Tankstellen angeboten. Es enthielt bleifreie Antiklopfmittel wie z. B. MTBE, Methyl-tertiär-Butylether. Die Umweltbelastung ging zurück. 1994 konnte eine Studie beweisen, dass die Konzentration von Blei im Blut der Bevölkerung von 1978 bis 1991 um 78% gesunken war).

    Midgley erfand neben Tetraethylblei, dem Antiklopfmittel, auch ein Verfahren, um das Element Brom (Br2) aus Meerwasser zu gewinnen. Er benötigte das orangebraun dampfende Gift zur Produktion des Tetraethylbleis für die Verbrennungsmotoren. Eine weitere Entdeckung Midgleys waren die Chlorfluorkohlenwasserstoffe FCKW. Sie wurden unter der Bezeichnug „Freone" als Kühlmittel in Kühlschränken und als Treibgase in Sprühdosen eingesetzt (für Dosierinhalatoren, Deodorants usw.). Auch hier zeigte er mit allen Mitteln, dass seine Erfindung harmlos sein sollte. 1830 atmete er bei einer Demonstration vor der American Chemical Society eine Lunge voll von dem gasförmigen FCKW Dichlordifluormethan ein (Formel: CF2Cl2) ein, um damit eine Kerze auszublasen. Der Versuch sollte zeigen, dass sein Gas sowohl nicht brennbar als auch unschädlich sei. Rund 160 Jahre später musste die Produktion dieser FCKWs weltweit verboten werden: Chemische Analysen hatten bewiesen, dass sie extrem langlebig sind, in die obere Atmosphäre aufsteigen und dort chemisch gespalten werden, was zum katalytischen Abbau der Ozonschicht führt. Der Historiker John Robert McNeill kam 2001 daher zu dem Schluss, dass Migdley „mehr Auswirkung auf die Atmosphäre hatte als jeder andere Organismus in der Erdgeschichte"⁴.

    Gettler, der Chemiker, der Midgleys Erfindungen oft kritisiert hatte, untersuchte 1928 einen Todesfall, bei dem es um einen weiteren gefährlichen Stoff ging. Harrison Stanford Martland, oberster Gerichtsmediziner von Essex County, hatte in der Atemluft einiger junger Fabrikarbeiterinnen das radioaktive Edelgas Radon nachgewiesen. Die „radium girls" hatten in der 1917 gegründeten Fabrik der United States Radium Corporation in New Jersey Zifferblätter von Uhren mit radioaktiver Leuchtfarbe bemalt. Sie leckten die Pinsel an, um feinere Linien ziehen zu können. Einige bemalten ihre Fingernägel mit der leuchtenden Farbe. Schutzmaßnahmen gab es keine. Bald hatten sie zum Teil schwerste Gesundheitsschäden davongetragen. Einige von ihnen waren sogar gestorben, darunter Amelia Maggia. Gettler nahm die Knochen der vor fünf Jahren verstorbenen Frau und legte sie auf ein in einer undurchsichtigen Schutzhülle steckendes Fotopapier. Selbst jetzt noch war die Radiumkonzentration so hoch, dass die Strahlung aus ihren Knochen das Fotopapier belichten konnte. Es war kein Wunder, dass sie Radon ausgeatmet hatte: es entsteht beim Zerfall von Radium.

    1.1.5 Der Fall Travia und das Kohlenmonoxid im Leuchtgas (1926/27)

    Kohlenmonoxid ist ein tückisches Gift. Es ist farb- und geruchlos wie Luft, und wer es einatmet, der ist deshalb nicht vorgewarnt, wenn der Tod kommt. Analytisch kann es nachgewiesen werden, indem man Luft durch ein Prüfröhrchen saugt, das ein Iodoxid enthält, eine chemische Verbindung aus Iod (Symbol: I) und Sauerstoff (O), die die Bezeichunung Diiodpentoxid trägt (Formel: I2O5). Das Kohlenmonoxidgas (CO) reagiert mit dem Iodoxid zu Kohlendioxid (CO2) und farbigem Iod:

    Kohlenmonoxid + Diiodpentoxid → Kohlendioxid + Iod

    Zusätzlich gibt es moderne Gaswarngeräte,

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