Die Überschreitung der Gegenwart: Science Fiction als evolutionäre Spekulation
Von Wolfgang Neuhaus
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Buchvorschau
Die Überschreitung der Gegenwart - Wolfgang Neuhaus
Impressum
Wolfgang Neuhaus
Die Überschreitung der Gegenwart –
Science Fiction als evolutionäre Spekulation
© 2018 by Wolfgang Neuhaus (Text)
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Erik Simon
Korrektur: Christian Winkelmann
Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]
Memoranda Verlag
Hardy Kettlitz
Ilsenhof 12
12053 Berlin
www.memoranda.eu
ISBN: 978-3-948616-20-5 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-948616-21-2 (E-Book)
Inhalt
Impressum
Inhalt
Meine Affäre mit dem SCIENCE FICTION JAHR
THEORIE
»Das Raumschiff zerstört die klassische Lebensform«
Ein Genre vor der (Selbst)Auflösung?
Im Banne des Hyperraums
Fremdheit ist schwer zu ertragen
Am Vorabend der Singularität
Fantasieren auf der großen Skala
BÜCHER
Am Nullpunkt der Posthumanität
Ein Realismus der höheren Art
Die Geschichte des Shrike
Zukunft als Farce
Ein Instrument der Sehnsucht
Wider den Empirismus der fantastischen Vernunft
MEDIEN
Cyberface Max Headroom
Auf der Suche nach einer »Meta-Dramaturgie«
Simulation mit System
2001 und die Frage der Transzendenz
Der Sturz in den Cyberspace
Das Posthumane in der Popkultur
Wolfgang Neuhaus
Sachbücher und deutsche Phantastik bei MEMORANDA
Meinen Eltern gewidmet
Meine Affäre mit dem SCIENCE FICTION JAHR
Ein Vorwort
Dieses Buch versammelt eine Reihe von Texten, die ich zwischen 1995 und 2014 für DAS SCIENCE FICTION JAHR geschrieben habe, das in dieser Zeit im Heyne Verlag erschienen ist. Die Texte sind drei verschiedenen Rubriken zugeordnet: Theorie, Bücher und Medien. Der Theorie-Teil beschäftigt sich vornehmlich mit allgemeinen Aspekten der SF, während die beiden Abschnitte zu Büchern und Medien überwiegend konkrete Werke aus Literatur und den visuellen Medien vorstellen. Die erneute Veröffentlichung bei Memoranda bietet mir eine willkommene Gelegenheit, die Entstehung der Beiträge Revue passieren zu lassen.
Der Einstieg lief über einen Umweg. 1990 traf ich Günther Luxbacher bei der Ars Electronica in Linz, bei der wir uns einige Jahre zuvor kennengelernt hatten. Das neue spektakuläre Thema war Cyberspace/virtuelle Realität (siehe auch den Text »Der Sturz in den Cyberspace« in diesem Band). Günther musste aus irgendwelchen Gründen früher nach Wien zurück und er bat mich, die Berichterstattung über die weiteren Tage zu übernehmen. Das Resultat war unser gemeinsamer Beitrag im SF-Jahr 1991, der aber wie andere Jahrbuch-Texte auch, in denen ich mich mit den Perspektiven von Technik und Utopie auseinandergesetzt habe, in diesem Band unberücksichtigt geblieben ist.
Im gleichen Jahr legte ich bei einem Workshop an der Westberliner Akademie der Künste Wolfgang Jeschke ein Konzept für den MAX HEADROOM-Text vor. Er akzeptierte es. Allerdings ließ ich mir mit dem Schreiben Zeit, sodass der Essay durch weitere Verzögerungen erst 1995 publiziert werden konnte. Unfassbare dreißig Jahre ist es her, dass MAX HEADROOM auf Video und danach im Fernsehen zu sehen war. Es war damals ungewöhnlich, dass TV-Serien überhaupt in der Ausleihe zu bekommen waren (im Unterschied zur heutigen Serienflut auf DVD in den verbliebenen Videotheken). Max ist sicherlich eine der besten Serienfiguren, die das Fernsehen hervorgebracht hat, und ich bin gespannt, ob in naher Zukunft sich nicht jemand an einem Remake versuchen wird – diesmal als »richtige« Computeranimation.
MAX HEADROOM interpretierte ich als satirische Variante des Cyberpunk. Da die Rezeption dieses Subgenres in Deutschland erst mit Verzögerung einsetzte, hatte ich den Ehrgeiz entwickelt, einen Überblickstext anzufertigen. Mit diesem Plan bin ich aber gescheitert. Meine Lösung war die Montage verschiedener Textsorten unter dem Titel »Am Nullpunkt der Posthumanität«, die im gleichen Jahrbuch wie der Essay zu MAX HEADROOM erschien. Für diesen Band ist der Text gekürzt worden. Aussagen von Schriftstellern und Romanauszüge sind zur Absetzung mit Absicht kursiv gesetzt.
Ich hatte mit Wolfgang Jeschke einen Aufsatz zum Thema Internet und SF verabredet, den ich aber nicht abgeliefert habe (Jürgen Thomann vollbrachte diese Aufgabe mit Bravour für das SF-Jahr 1997). Ich schickte zwei Jahre später ein Manuskript zu Heyne, in dem ich mir die Ansätze einer »Meta-Dramaturgie« vornahm – von Online-Spielen bis hin zu Studien zum »Holodeck«.
Matrix ist ein Film, der mich schlichtweg umgehauen hat (1999 war überhaupt ein sensationelles Kinojahr mit Filmen wie Fight Club oder Being John Malkovich). Ich bin immer noch beinharter Fan des ersten Teils; die beiden Fortsetzungen waren ziemlich überflüssig. Der Film ist kontrovers diskutiert worden, ich hob fürs SF-Jahr 2000 mehr auf eine politische Lesart ab als auf eine philosophische oder gar eine religiöse.
Gotthard Günther habe ich als Technikphilosoph Mitte der Neunziger entdeckt. Erst später wurde mir klar, welche Rolle er für die SF in der jungen Bundesrepublik innehatte. 1998 verbrachte ich zwei spannende Tage mit Lektüre in seinem Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek, in dem auch unveröffentlichte Manuskripte aufbewahrt werden. Mein Essay zu Günther kam 2001 heraus.
2002 verfasste ich den ersten von drei allgemeinen Kommentaren zur SF. Seitdem sind fünfzehn Jahre vergangen. Die Krise der deutschen SF ist keineswegs vorüber (Derweil hat allerdings ein Boom deutscher Fantasy stattgefunden). Ich vermute nur, dass genau aus diesen Gründen, die ich damals angesprochen habe, weiterhin SF-Topoi in die allgemeine Literatur wandern, wie in den letzten Jahren vielfach geschehen. Ich erinnere nur an den phänomenalen Erfolg von David Mitchells Der Wolkenatlas. Der Text selbst ist weitgehend gleich geblieben. Einen Satz in dem Abschnitt »Die Geschichte der SF« habe ich gestrichen – einen Satz, in dem ich zu spekulationsfreudig war, wie Michael K. Iwoleit monierte.
Also sprach GOLEM zählt für mich zu den großen Alterswerken von Stanisław Lem. In der Einleitung meiner Darstellung des Buches im gleichen Jahrbuch zitiere ich kurz einige Aussagen seiner Kritiker. Lem ist kein perfekter Schriftsteller – wer ist das schon? –, aber mir fällt auf, dass sich wenige auf sein Terrain begeben haben.
»Im Banne des Hyperraums« war 2003 ein Auftragswerk fürs Jahrbuch. Es war angenehm, mal eine ganze Reihe von Büchern als Paket zu empfangen. Als Problem stellte sich aber heraus, dass ich weder ein Space-Opera-Kenner noch -Liebhaber gewesen bin. Nach langer Zeit, in der ich den Text lieber ausblendete, bin ich aber nach einem erneuten Lesen doch etwas versöhnt – sicher, der Aufsatz hat Lücken, aber ich ziehe mich achtbar aus der Affäre. Hartmut Kasper hat mich auf eine ungenaue Quellenangabe aufmerksam gemacht, was ich korrigiert habe.
Untergegangen war eine Beschäftigung mit der modernen Space Opera. Iain M. Banks und Dan Simmons handelte ich eher kursorisch ab, andere erwähnte ich gar nicht. Das war ein Grund für mich, die Hyperion-Gesänge von Simmons noch einmal für das Schwerpunktthema »Space Opera« im darauf folgenden SF-Jahr zu behandeln. Mit dieser Ausgabe 2004 begann meines Erachtens die Hochphase des Jahrbuches. Natürlich ist es eine Geschmacks- und Interessensfrage, aber ich halte die teilweise bemerkenswert umfangreichen Ausgaben zwischen 2004 und 2011 unter der Ägide von Wolfgang Jeschke und Sascha Mamczak (später noch Sebastian Pirling) für die besten.
Ein Beitrag zu 2001 – Odyssee im Weltraum fand auch den Weg in das gleiche Jahrbuch, obwohl der Anlass eher betrüblich war. Die religionsgesättigte Interpretation des Films durch Alexander Seibold im SF-Jahr 2003 ging mir gegen den Strich. Ich habe den Ursprungstext ergänzt, aber dieser hat den Charakter einer Auseinandersetzung mit Seibold beibehalten.
Neal Stephenson ist mittlerweile zu einem Autor geworden, der ähnlich wie J. G. Ballard oder P. K. Dick sein eigenes Publikum außerhalb des SF-»Ghettos« geschaffen hat. Ich habe 2005 seine SF-Romane vorgestellt, mit denen er innerhalb des Genres bekannt wurde. Technisch sind sie bei Weitem nicht so akkurat wie sein aktueller Erfolg Amalthea, aber sie weisen einen ganz eigenen Ton auf, der meiner Meinung nach in Stephensons Schaffen übersehen wurde. Ja, ich halte es für erstaunlich, womit er so durchgekommen ist.
Die Faszination des Cyberspace habe ich schon erwähnt. Für den Schwerpunkt »Wie die SF die Welt verändert« 2005 fasste ich noch mal meine Lektürefunde und Eindrücke in einem Essay zusammen. Der Cyberspace wurde Anfang der Neunziger in vielen Medien geradezu propagiert, ohne dass es eine entsprechende technische Ausstattung gegeben hätte. Die vorhandenen VR-Technologien waren teuer und schwerfällig zu benutzen. Erst heute, fünfundzwanzig Jahre später, besteht die realistische Aussicht, dass sich VR als Massenmedium etablieren kann.
Die erste Fassung des Textes zu RoboCop begann ich 1996, es sollten aber zehn Jahre ins Land gehen, bis ich den Essay beendet habe. Neben Starship Troopers ist RoboCop für mich der beste SF-Film, den Paul Verhoeven in den USA gedreht hat. Das Remake, das vor drei Jahren herauskam und über das damals schon ein Gerücht verbreitet wurde – ich gehe kurz darauf ein –, hält dem Vergleich mit dem Original nicht stand.
Mein zweiter Kommentar zur Lage der SF erschien im SF-Jahr 2007. Ich habe noch mal versucht, das Besondere des Genres SF herauszuarbeiten. Meiner Meinung nach ist es nicht so einfach mit der konventionellen Literatur vermittelbar. Beide haben ihre Berechtigung. Um ein Beispiel zu geben: Die Lektüre des Buches Der ewige Krieg von Joe Haldeman im jugendlichen Alter hat mich regelrecht geflasht – in einem Alter, in dem die SF (noch) so bewegend ist, »dass es einem geradezu die Schädeldecke abhebt«, wie Brian W. Aldiss gemeint hat. Mit diesem Buch war ich für die normale Welt mitsamt ihrer Literatur verloren.
In diesem Text ging ich auch auf den hochspekulativen Gegenstand der technologischen Singularität ein, den Vernor Vinge eingeführt hat. Gerade wegen seiner Brisanz widmete ich diesem Topos einen weiteren Text fürs SF-Jahr 2009. Ähnlich wie bei meiner Montage zum Cyberpunk-Sujet verzichtete ich aber auf einen durchgehenden Verlauf, sondern schrieb eine Reihe von Bemerkungen auf, um besser das ganze assoziative Feld zu erfassen, das die Posthumanität erzeugt.
Walter Jon Williams ist ein Autor, dessen SF mir von seinen Themen und von seinem Stil her gefällt. Insofern war es eine Herzensangelegenheit, sein Werk 2010 vorzustellen, wenn auch nur kurz. Florian Breitsameter hat sich in einem Forumsbeitrag auf seiner Website SF-FAN gewundert, dass ich Plasma City in meinem Artikel nicht erwähnt habe. Ich habe dieses Versäumnis nachgeholt und noch einen Absatz zu diesem Text hinzugefügt.
Ich hatte mir schon länger vorgenommen, das Sachbuch Phantastik & Futurologie von Lem essaymäßig abzuhandeln. Es entstand die naheliegende Idee, die Rezension eines fiktiven Buches zu schreiben, um dem Ganzen einen lemspezifischen Dreh zu geben. In diesem Fall ist die längere Fassung hier abgedruckt, die ich für das Online-Magazin TELEPOLIS 2013 geschrieben habe.
»Fantasieren auf der großen Skala« war mein abschließender SF-Kommentar im Jahr darauf für die letzte Ausgabe des Heyne SF-Jahres. Er stellt den Versuch dar, noch einmal die große Perspektive der SF zu formulieren.
Berlin, August 2017
THEORIE
»Das Raumschiff zerstört die klassische Lebensform«
Gotthard Günther und die Science-Fiction-Literatur
Es ist fast überflüssig zu sagen, dass die fundamentalen Bewusstseinskategorien, auf deren Boden der Mensch seine bisherige Geschichte getrieben hat, diesen kosmischen Ausblicken gegenüber notwendig versagen müssen. Alles bisher Erlernte und Erfahrene, das ewige und absolute Bedeutung zu haben schien, sinkt jetzt zu einem unbedeutenden Spezialfall hinab, dessen zufällige Geltung sich auf einen winzigen Planeten in einer lokalen Sternengruppe beschränkt, die ihrerseits einen verschwindenden Teil eines galaktischen Systems bildet, das seinerseits nur eines unter Milliarden anderen ist.
Gotthard Günther
»Romanliteratur aus Gebieten der Wissenschaft und Technik« – so lautete eine Umschreibung der Science-Fiction-Literatur, als sie in den Fünfzigerjahren zum ersten Mal in der Bundesrepublik erschien. Gotthard Günther war es, der den Begriff Science Fiction hierzulande einführte, als er die Reihe RAUCHS WELTRAUM BÜCHER[1] herausgab. In der Zeit der Wirtschaftswunderjahre mit ihrem konservativen Sicherheitsdenken und ihrem spießigen Lebensgefühl war es eine Pioniertat, anspruchsvolle SF in der Bundesrepublik zu veröffentlichen. Der ökonomische Erfolg blieb jedoch aus und dieser Umstand verbannte das Genre vorerst in das Reich der Leihbücher und Heftromane.
Wer aber war Günther? Bei der Beantwortung dieser Frage geht es um mehr als nur eine biografische Randnotiz zur bundesrepublikanischen Verlagsgeschichte. Günther, geboren am 15. 6. 1900 in Schlesien und gestorben am 29. 11. 1984 in Hamburg[2], war Philosoph. Er gehörte zu den Grenzgängern seines Fachgebiets, behandelte übergreifende Fragestellungen aus Technik, Natur- und Sozialwissenschaften und arbeitete an der philosophischen Fassung eines neuen »transklassischen Weltbildes«[3]. War Günther in seinen Studienzeiten vor allem durch die Lektüre von Oswald Spengler und Hegel beeinflusst, wandte er sich in den Dreißigerjahren einer Beschäftigung mit formaler Logik und den Naturwissenschaften zu. Über einige Zwischenstationen erfolgt seine Emigration aus dem Dritten Reich[4] in die USA. Eine Professur für Philosophie wird ihm 1943 am Colby College in Maine angeboten. 1948 nimmt er die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er hat den Ansatz der Kybernetik, wie sie von Warren McCulloch und Norbert Wiener begründet wurde, in seine philosophischen Arbeiten einbezogen und in den Sechzigerjahren mit dem Konstruktivisten Heinz von Foerster am berühmten Biological Computer Laboratory an der University of Illinois in Urbana zusammengearbeitet. In der Bundesrepublik hat Günther einige Gastprofessuren übernommen, aber erst kurz vor Erreichen der Pensionsgrenze wird er 1963 ordentlicher Professor an der Universität Hamburg. Nach dem Ende seiner Tätigkeit in Urbana kommt er 1972 in die Bundesrepublik zurück und hält in den folgenden Jahren Vorlesungen in Hamburg und Westberlin, die ihm eine kleine Anhängerschaft bescheren.
Seit einigen Jahren lässt sich nun eine Wiederkehr seiner Themenstellungen beobachten. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in einem Vortrag Günther in eine Reihe gestellt mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann und mit dem Theoretiker der Dekonstruktion, Jacques Derrida, was die Suche nach einem neuen Denk-Instrumentarium betrifft. Aktuelle Bezüge auf Günther finden sich verstreut in den Natur- und den Sozialwissenschaften wie in der windigen Trendforschung und – leider – auch in der Esoterik. Seine philosophischen Fachtexte sind schwierig zu lesen. Es sind komplexe Texte, die nur für den verständlich sind, der sich in Fragen von formaler Logik, idealistischer Geschichtsphilosophie und Kybernetik gleichermaßen auskennt. In seinen Texten sind aber auch spekulative Passagen enthalten, die wohl in erster Linie für SF-Leser zu goutieren sind. Welcher Philosoph publiziert schon zu Fragen der Kommunikation mit extraterrestrischer Intelligenz? Günther hat das Mensch-Maschine-Verhältnis, die Bedeutung der Kybernetik und die Zukunft einer zunehmend technisch vermittelten Kulturgeschichte schon früh philosophisch reflektiert und dabei nicht nur das SF-Publikum mit Fragen konfrontiert, die auch heute zur Jahrtausendwende intellektuelle Herausforderungen darstellen.
Die Skizzierung einer zukünftigen Weltgeschichte
Bisher ist Günther hauptsächlich als Logik-Theoretiker rezipiert worden. Wie seine Verdienste für die bundesrepublikanische SF sind auch seine geschichtsphilosophischen Arbeiten in Vergessenheit geraten. Ihre Lesart der Geschichte ist ein Einstieg in seine Auffassung von SF. Um von diesen Arbeiten einen kurzen Eindruck zu geben, sei seine Veröffentlichung Amerikanische Apokalypse[5] erwähnt, in der er den Prozess der Entdeckung Amerikas interpretiert. Historisch sei nachgewiesen, dass der Kontinent bereits mehrmals vor Kolumbus sowohl von asiatischen als auch von europäischen Schiffen angesteuert worden ist, ohne dass diese Entdeckung für irgendwelches Aufsehen in den jeweiligen Heimatwelten gesorgt hätte. Das Wissen um die Existenz der westlichen Hemisphäre wurde in Europa beispielsweise unterdrückt oder schlichtweg nicht wahrgenommen. Diese Art von »Blockade« interessiert ihn, und er hält dieses Phänomen für ein großes Rätsel der Weltgeschichte. Günther beschreibt in dem Text eine Vielzahl von Alltagsbeobachtungen, an denen er den Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Mentalität festmachen will. Er kommt beispielsweise auf die amerikanischen Nationalparks zu sprechen, die völlig anders angelegt seien als die europäischen Parks, er erwähnt die Faszination der Wolkenkratzer, die sich tatsächlich nicht mit einer ökonomischen Analyse ausreichend erklären lässt, und kommentiert die große Mobilität der dortigen Einwohner. Solche Phänomene interpretiert er als Beweise für eine größere Distanz zwischen Mensch und Naturlandschaft, für eine zunehmende ideelle Abstraktion der Gesellschaft von konkreten Lebensräumen. Von Anfang an hätten sich die ersten Siedler auf eine Situation einstellen müssen, die in Europa völlig unbekannt war: »the frontier«. Das Land, das sich vor ihren Augen auftat, sei ein Raum ohne Grenzen gewesen, »prinzipiell unbegrenzt ausdehnungsfähig« (bis man an die pazifische Grenze stieß). Dass dieses »Frontier«-Ideologem in der amerikanischen Gesellschaft nach wie vor lebendig ist, zeigt die Bereitschaft, den digitalen Cyberspace oder auch die Besiedlung des Mars zur neuen Grenze zu erklären.
Als eine Folge dieser geschichtlichen Entwicklung sieht Günther die US-amerikanische Kultur befreit vom europäischen »metaphysischen« Erbe, von großen Gedankengebäuden und von angestrengter Tiefgründelei. Der bekannte amerikanische Pragmatismus und die viel zitierte »Oberflächlichkeit« seien das Ergebnis einer Kommunikationssituation, die nicht länger auf metaphysisch »sicherem« Boden stattfinde, sodass die Menschen dort gezwungen seien, ihre Kommunikation immer wieder neu zu begründen. Darin sieht Günther eine gewaltige Chance. Während andere Kulturen in ihrem Bezugsrahmen gefangen bleiben würden, könne sich die US-amerikanische Kultur leichter für neue »Bewusstseinsräume« öffnen. »Wie es scheint, ist es die Bestimmung des amerikanischen Kontinents, lediglich solche Formen des geschichtlichen Lebens anzunehmen und zu ertragen, die wirklich planetarischen Umfangs sind. […] die nächste Hochkultur [wird] die erste ohne regionale Grenzen sein. Sie wird sich über die ganze Erde verbreiten und eine dritte Epoche der Weltgeschichte einführen: die Ära planetarischer Zivilisationen.« Die künftige Weltgeschichte werde sich in einer »radikalen Negation« der europäischen vollziehen. Der wichtigste Pol der Entwicklung zu einer planetarischen Kultur seien eben die USA; sie würden von Europa allerhöchstens Technologien übernehmen, aber nicht den kulturellen Denkballast. Die Entwicklung neuer Technologien in verschiedensten Bereichen mache ein neues Bewusstsein und eine neue Lebensweise möglich. »Das Raumschiff tötet den Symbolismus klassischer Metaphysik, und damit zerstört es die klassische Lebensform.«[6] Es sei an dieser Stelle nicht weiter diskutiert, ob es sich um eine brauchbare kulturphilosophische Erklärung handelt. Die USA sind im Ganzen offensichtlich kein Land aufgeklärter Zeitgenossen und Freidenker. Unangenehme Bewusstseinsphänomene wie einen gewalttätigen Rassismus oder einen rigiden religiösen Fundamentalismus gibt es dort auch. Günther versuchte größere historische Tendenzen zu erfassen, die zu einer neuen Stufe der kulturellen Entwicklung führen können.
Es ist aber keineswegs ausgemacht, dass sich bald ein kosmischer »Ausweg« für irdische Probleme öffnet. Auch wenn die Besiedlung des Mars zum Gegenstand popkultureller Reflexion wird, so ist das doch nur eine Perspektive für die nächsten Jahrhunderte. Den »positiven Beginn einer solchen planetarischen Universalgeschichte« sieht er in weiter Ferne. Günther befürchtet »jahrhundertelange Kämpfe zwischen sich integrierenden Großlandschaften«, bevor es zu einer wirklichen globalen Kultur käme. Und der angekündigte Bewusstseinswandel in dem Buchkapitel über die planetarische Kultur bleibt nebulös, obwohl er sich interessant liest. Günther sieht den Zeitpunkt einer weiteren Ernüchterung der Menschen über ihren Platz in der Welt voraus. Gerade weil die Erkenntnisse aus Mikro- und Makrokosmos die rationale Vorstellungskraft überfordern, werde das Weltbild des »klassischen Menschen« zerrüttet und damit hypothetisch die Chance für ein neues Bewusstsein eröffnet, das man erst in Konturen beschreiben könne. Die neue Epoche der planetarischen Kultur werde durch den »Abbau emotionaler Traditionen und erworbener theoretischer Denkweisen« charakterisiert und den vorangegangenen Zeitaltern »so unähnlich wie möglich« sein. Günther spekuliert über eine Rationalität, die an die Fähigkeit des primitiven Bewusstseins anknüpft, virtuelle »Ereignisserien« und Verweiszusammenhänge in der Umwelt zu akzeptieren, die sich nicht logisch ableiten lassen. Auf einer höheren technischen Entwicklungsebene könne man gar nicht anders mit den entstandenen komplexen Maschinenumgebungen umgehen. Das mag in manchen Ohren reichlich esoterisch klingen, aber Günther folgt einer streng rationalistischen Weltanschauung. Die alte These von Arthur C. Clarke, dass die fortgeschrittene Technologie der Zukunft wie Magie erscheinen werde, wird bei Günther um den Aspekt ergänzt, dass ein komplexes »magisches Bewusstsein« dieser Technologie entsprechen würde.
Kybernetik und transklassische Rationalität
Das abendländische System der Logik ist ein Ausgangspunkt für Günthers Bemühung um eine »transklassische Rationalität« in Gestalt einer mehrwertigen Logik[7]. Es handelt sich hierbei um ein Thema mit eigener Komplexität, das nur kurz angerissen werden soll. Es gibt ohne Zweifel physiologische Voraussetzungen des Denkens. Eine grundlegende »Zweiwertigkeit«, eine Strukturierung des Wahrnehmens und sprachlichen Benennens in gegensätzlichen Kategorien wie hell/dunkel, links/rechts, oben/unten u. v. m. dient der Orientierung in der Umwelt. Hinzu kommen sich daraus »ableitende« Denkoperationen wie die Unterteilung in »wahr/falsch«, »gut/böse«. Günther sieht die klassischen zweiwertigen Denkgesetze sogar als anthropologische Konstante, die sich in allen Weltkulturen beobachten lasse, von abendländischen Begriffspaaren wie »Sein/Bewusstsein« oder »Subjekt/Objekt« bis zum chinesischen »Yin/Yang«. Im alten Griechenland kam es dann zu einer folgenschweren Durchsetzung neuer Denkweisen. »Alle Spartaner sind Lügner, Phaidros stammt aus Sparta; also ist Phaidros ein Lügner.« Das Finden solcher Schlussfolgerungen war eine Jahrmarktsbelustigung im alten Griechenland, wie Günther schreibt. Später wurden diese logischen Abfolgen von Aussagen in den berühmten Syllogismen des Aristoteles zusammengefasst, der Grundlage aller Systeme der formalen Logik. Die drei Gesetze dieser Logik – das der Identität mit sich selbst, das des verbotenen Widerspruchs und das des ausgeschlossenen Dritten – gehören zum Basisset der Philosophiegeschichte. Zum ersten Mal lösten sich die Denkstrukturen von den Inhalten, was Wissensmöglichkeiten reduzierte, zugleich aber das Denken »praktischer« machte. Ein Philosoph wie Gotthard Günther sieht im Aufkommen solcher Denkweisen denn auch die Geburtsstunde der Technik selbst. Die Formalisierung ist das Verbindungsglied zwischen Denken und Technikentwicklung. Das formale Denken ist in gewisser Weise »maschinell«, damit auf externe Systeme übertragbar und bereitet die Technisierung gesellschaftlicher Beziehungen vor (Mit Namen wie Leibniz und Boole ist die spätere mathematische Operationalisierung der formalen Logik in Kalkülmodellen verknüpft). Günther führt als Argument an, dass keine andere Kultur der Welt solche formalen Denksysteme hervorgebracht habe. Die östlichen Kulturkreise hätten in der Vergangenheit die komplexeren Metaphysiken entwickelt, aber sie wussten damit buchstäblich nichts anzufangen.
Der Leser wird sich möglicherweise fragen, wie man nun »mehrwertig« denken kann. Dass man ein Erkenntnisobjekt von verschiedenen Seiten beleuchtet, Perspektivwechsel vornimmt, ist Merkmal des dialektischen Widerspruchsdenkens. Auch das ehemalige Modethema Fuzzy Logic hat nichts mit Mehrwertigkeit zu tun. Man stößt hier an eine Grenze des menschlichen Verstehens. Die Gesetze einer mehrwertigen Logik können nach Günther zwar von Menschen berechnet, aber niemals im menschlichen Gehirn als Funktionen »implementiert« werden. Es bleibt den Maschinen vorbehalten, die transklassische Rationalität durchzusetzen; die Menschen können allerhöchstens ihre Konturen erahnen. Man kann zwar auch von dem Robotikforscher Hans Moravec hören, dass man den Maschinen andere als die menschlichen Rationalitätsstrukturen einpflanzen könne, aber die Frage bleibt, wie diese aussehen sollten. Günther hat sie in seinen komplizierten Logik-Studien[8] zu ergründen gesucht. Wenn seine transklassische Logik allerdings als grundlegendes technisch-wissenschaftliches Paradigma der anvisierten planetarischen Kultur gedacht ist, wird sie von den Menschen, die das schon erwähnte komplex-magische Bewusstsein entwickelt haben, in einer heute nicht näher bestimmbaren Weise verstanden werden.
Günther kann als einer der Vorreiter der aktuellen Diskussion einer Cyberkultur gelten. Weit vor den in den letzten Jahren aufgetauchten Themen wie »Posthumanismus« oder »Cyborg« forderte er die Reformulierung der Stellung des Menschen in der Welt, die immer stärker durch technologische Beziehungen geprägt ist. Je weitreichender Menschen in die Strukturen dieser Welt technisch eingreifen, sie verwandeln und neuartige künstliche schaffen, desto bedeutender wird die Frage, inwieweit sie sich in diesen Strukturen, die sich immer stärker einem sinnlichen Wahrnehmen entziehen, noch wiedererkennen können. Wie das Verhältnis von Mensch und Maschine zu bestimmen ist, gerät also umso dringlicher auf die Tagesordnung, je mehr an der technologischen Front vielfältige Fortschritte erzielt werden. Vermutlich muss es 1963 eine besondere Provokation gewesen sein, die Frage des Körper-Umbaus als philosophisches Problem zu fassen. »Die Rekonstruktion des menschlichen Körpers wird unter diesen Umständen zur unabweisbaren Notwendigkeit. […] Zieht also der Mensch seinen eigenen Körper in den Bereich dessen, was er künstlich verändert und neu macht, so muss das tiefgehende Folgen für sein Identitätsbewusstsein haben.«[9] Günther meint, dass wir am Beginn einer »geistigen Wende« stehen, eine Formulierung, die zwar einen etwas beschwörenden Charakter hat, aber immer wieder in den Diskussionen seit den Fünfzigern auftaucht. Es werde als selbstverständlich angesehen, dass technische Hilfsmittel die Leistungen unseres Körpers unterstützen. Günther regt an, darüber nachzudenken, ob nicht »Prothesen zur Erweiterung und Stärkung unserer Bewusstseinsfunktionen« eine »logische« Folge sein können. Wenn der Mensch in neue Bereiche des Wissens und des Denkens vordringen wolle, brauche er neue Mittel, die ihm dabei helfen, die geistigen Aufgaben einer neuen Zeit zu bewältigen. Dazu können »Gehirnprothesen« zählen, mit anderen Worten: die Implantation von Neurochips.
Günther übernimmt die – strittige – Position der Kybernetik, dass eine allgemeine Konzeption von »Maschine« möglich sei, zu der auch biologische Systeme wie der Mensch gehören. Die Kybernetik sei zu Recht skeptisch gegenüber der klassischen Philosophie mit ihren Denkkategorien: Die »Machbarkeit« des Denkens müsse sich beweisen in (technischen) »Objektivierungsvorgängen«. Inwieweit ist das menschliche Denken technisch abbildbar? Die Kybernetik sei der radikalste Ausdruck für eine »tiefgehende Abwendung von der bisherigen geistigen Entwicklung«. Es gehe um die »Eroberung« dessen, was einstmals als der »alleinige Bereich der Seele« galt. Kybernetik-Forschung gab es sowohl in den USA als auch in der Sowjetunion (als dem großen Kontrahenten einer vergangenen Geschichtsperiode), was Günther als Symptom eines größeren historischen Prozesses wertet, der sich in Zukunft vielfach durchsetzen werde. Die Einheit der Menschheit werde dabei auf dem Weg über die Computertechnik »erzwungen«, da sie auf allen Kontinenten akzeptiert und gebraucht werde. Insofern sei die Technik eine »Brücke« für eine neue Weltgeschichte. Und Günther meint eben, dass diese neue Phase der Geschichte in den USA ihren Ausgang nehmen werde.
Aber es geht eben um mehr. Eine neue Sichtweise von evolutionären Prozessen ist der Einsatz. Neben der Naturevolution und der im engeren Sinn »kulturellen« Evolution wird das Modell einer »technischen Evolution« angedacht. Bei Stanisław Lem hieß dieses Projekt Anfang der Sechzigerjahre, also zur selben Zeit, als Günther seine Neuauflage von Das Bewusstsein der Maschinen herausbrachte, die »auto-evolutive Maschine«. Günther sieht die menschliche Geschichte als einen »seelischen Befreiungsprozess«, in dem sich »der Mensch den ihm von der Natur vorgeschriebenen Lebensformen und Gesetzen entzieht«. Evolution ist nicht länger nur Variable der Naturbedingungen, gesteuert durch Naturgesetze, sondern ein Prozess der Selbstorganisation, gesteuert durch kulturelle Planung und Maschinenlogik.
Der klassische Mechanismus, wie er die bisherige Technikgeschichte dominiere, könne nicht »denken« lernen, meint Günther, da er zu eingeschränkt sei durch den Naturzusammenhang. Alle historischen Maschinentypen, ob mechanisch oder (halb)automatisch, seien bloß »tote Apparate« ohne Entwicklungsmöglichkeiten. Die transklassische Technik dagegen soll auf Basis einer mehrwertigen Logik funktionieren und tendenziell »lebendiges Denken« darstellen. Der Stoff selbst wird zu intelligenter Materie umgeformt. »Und wenn dann die von der Natur dargebotenen Existenzformen für diesen Zweck ungeeignet sind […], so stellt man sich die passenden Seinsformen selbst her.« Auch wenn diese Aussicht fantastisch erscheint, so ist die Nähe zu aktuellen Forschungsrichtungen wie dem künstlichen Leben unübersehbar.
Die transklassische »Denkmaschine« sei eine, die – gerade dadurch, dass sie einen anderen Bauplan habe – anderen Mustern des Denkens folgen würde. Die Motivation, solche Maschinen zu bauen, sieht Günther auch darin, dass sie unter Umständen eine »objektive Wahrheit« produzieren könnten, da sie von der in ihrer Erkenntnisfähigkeit unzuverlässigen menschlichen Subjektivität befreit sind. Unter Experten, die sich auf Günther berufen, ist aber umstritten, ob die transklassische Maschine dabei als real existierender »Transputer« verwirklicht werden kann, ob sie ein verteiltes Intelligenz-System oder (nur) ein Gedankenmodell darstellt, ähnlich dem der Turing-Maschine. Günther selbst sagt dazu, dass die transklassische Maschine ein »technisches Ideal« bleibe, das möglicherweise in Teilschritten realisiert werden könne, aber ohne je die Leistungen eines Gehirns vollständig zu reproduzieren. Am Vorabend der Entwicklung von Quanten- und Nanocomputern scheint es jedenfalls angebracht, über neue Denkweisen nachzudenken, die dem Umgang mit der wahrscheinlichen Komplexität dieser Maschinen gerecht werden.
Können die Maschinen aber wirklich autonom werden? Es gibt dazu widersprüchliche Aussagen bei Günther. Zum einen sagt er, dass die Maschinen immer in ihren bewusstseinsmäßigen Entwicklungsschritten hinter den menschlichen Konstrukteuren zurückblieben. Ein Argument dafür ist, dass menschliches Selbstbewusstsein eh nicht im mechanischen Gehirn nachgebildet werden könne. Ein künstlicher Apparat sei zwar »bewusst«, aber ohne Selbstidentität, vergleichbar mit dem Zustand eines Tieres oder kleinen Kindes. Der kybernetische Konstrukteur sei in einem »logischen System« mit seiner Schöpfung, dem Robotergehirn, »verbunden«. Die Maschine bleibe dabei eine intelligente »Begleitung«, ein Identitäts-«Spiegel«, ohne ihren Meister wirklich gefährden zu können. Auf der anderen Seite bringt er als Thema auf, über die Möglichkeit der »künstlichen Erzeugung von Leben« nachzudenken, eine Möglichkeit, die heute im Zeitalter fortgeschrittener Programmiertechniken und entwickelter Hardware eine ganz andere Grundlage hat; so entstehen Programme im Bereich der Erforschung des künstlichen Lebens, deren Funktionsweise unbekannt ist. »Der Mensch sieht sich also schließlich Maschinen gegenüber«, fasst er diese Perspektive damals zusammen, »die er selbst weder gebaut noch im strengen Sinne selber entworfen hat. Es ist dabei durchaus möglich, dass er sich schließlich Maschinentypen gegenübersieht, die er nicht mehr ganz versteht und deren Ableitung von dem von ihm selbst entworfenen Originaltyp immer schwieriger wird, weil mit der fortschreitenden Generationenfolge die Zahl der Willkürelemente, die die Entwicklung beeinflusst haben, ständig wächst.«[10] Inwieweit im Bereich des künstlichen Lebens die Keimzellen für eine Entwicklung gelegt werden, in der sich die Maschinen selbstständig machen, ist vom heutigen Standpunkt nicht entscheidbar.
SF – ein neuer Mythos?
Günther ist sicherlich ein gutes Beispiel für die (amerikanische) Ansicht, dass Denkexperimente, Ideen-Konzepte und Fantasien die Grundlage für alle technischen Erneuerungen der Welt sind. Die in ihrer modernen Form in den USA entstandene Literatur der SF galt ihm dabei als Symptom eines »totalen Ausbruchs aus der klassisch-europäischen Denktradition«. Da er lange Jahre in den USA verbrachte, war SF in seinem Verständnis ein Schlüssel, um die Andersartigkeit der amerikanischen Kultur und ihr Prädestiniertsein für eine neue Zeit zu erkennen. »Es fiel ihm eine amerikanische SF Anthologie in die Hand«, schreibt Günther in seiner Selbstdarstellung, »und glücklicherweise eine der besten. Er sah sofort, dass das etwas ganz anderes war als etwa Bücher von Kurd Lasswitz,