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Telefónica
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eBook396 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Madrid im Dezember 1936: Die deutsche Journalistin Anita Adam ist eine emanzipierte Frau mit politischem Weitblick. Wie viele Europäer will sie die spanische Republik gegen den Putsch der Franco-Faschisten unterstützen. In der Zensurstelle der berühmten Telefónica vermittelt sie deshalb zwischen internationalen Journalisten und der militärischen Führung. Mit ihrem Versuch, das Zensursystem zu modernisieren, macht sie sich dort jedoch gefährliche Feinde. Einen Verbündeten findet sie in Agustín Sánchez, dem Kommandanten der Telefónica. Während sich die beiden allmählich näherkommen, fallen vor der Telefónica die Bomben von Hitlers Legion Condor auf die wehrlose Zivilbevölkerung, und die Front droht aufzubrechen.
Ilsa Barea-Kulcsar verarbeitet ihre Erfahrungen während des Spanischen Bürgerkrieges in einem eindrucksvollen und bewegenden Roman.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum20. Sept. 2019
ISBN9783990650219
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    Buchvorschau

    Telefónica - Ilsa Barea-Kulcsar

    Anmerkungen

    STATT EINER WIDMUNG

    Ich habe eben den Zeitungsbericht von der Übergabe Madrids gelesen. Die Truppen des Generals Franco sind in die Stadt eingezogen. Die Frauen und Kinder in den Straßen haben die Soldaten um Brot, die Männer haben sie um Zigaretten angebettelt. Die Fahne des nationalistischen Spanien wurde auf der Spitze des Telephongebäudes gehißt, jenes Wolkenkratzers, der in den Jahren der Belagerung am meisten beschossen und bombardiert wurde … So ähnlich lautete die karge Meldung.

    Vor meinem Zimmer ist ein grüner Rasen, den feiner weicher Nebel einzuhüllen beginnt. Auf dem Zaun sitzt eine Drossel. In der Hecke lärmt ein Chor von kleinen Vögeln. Die gelben Kelche der Märzbecher schwanken leise. Ich bin in England. Aber lauter als das Summen des feuchten Holzes im Kamin ist das Surren von Flugzeugmotoren. Drei schwarze Vögel ziehen langsam und niedrig den friedlichen Horizont entlang. Übungsflugzeuge oder Luftwache? Sie haben hier Zeit, ihre Flieger auszubilden, weil Madrid sich erst gestern ergeben hat, nicht vor zweieinhalb Jahren.

    Bald wird man nicht mehr verstehen, wie es war. Es werden die Legenden entstehen und die lebenden oder die nun schon toten Menschen verdecken, die sich nicht fügen wollten und die sich nicht ergaben, weil sie es nicht für recht hielten. Ich habe in jenen Monaten in der Telefónica von Madrid gelebt. Ich will versuchen, diese Menschen – nicht die aktenmäßige, sondern die innere Wahrheit von uns allen – in einem Buch leben zu machen, so wie sie mich heute beherrschen: es ist deshalb für mich sinnlos, ihnen das Buch zu widmen.

    Die häßlichen Häuser Madrids verwandeln sich in eine wunderbare Stadt, wenn der leuchtende Abend sie als phantastische Blöcke vor den dämmerigen Hügeln aufschimmern läßt, oder wenn die weiße Mittagssonne sie als grelle, glatte Flächen mit schmalen Schattenkanten auf eine tief und dunkelblau flimmernde Himmelsglocke malt.

    Dann verliert der amerikanische Wolkenkratzer der Telefónica seine kleinlichen Simse und Türmchen und wird zum Festungsturm dieser traumhaften Stadt.

    Die Telefónica war der Wachtturm und das Wahrzeichen Madrids in jenen ersten Belagerungsmonaten, als die Menschen über alle die kleinen Ängste und kleinen Tapferkeiten ihrer Einzelleben hinaus zu einem kämpfenden Volk verwuchsen. Diese Gemeinschaft auf Leben und Sterben, der sich keiner entziehen konnte, war sehr dicht und warm innerhalb der hohen Betonmauern der Telefónica, denn die dort arbeiteten und lebten, fühlten sich auf Vorposten des Todes. Und doch starb keiner in diesen Monaten im Gebäude der Telefónica von Madrid und das Haus selbst lebte weiter, mit hundert Granatlöchern im Leibe.

    Seine Fenster blickten auf die Front. Zu seinen Füßen lagen Sandsäcke. Und vom Turm der Telefónica sahen wir an den Abenden, bevor die Dunkelheit ohne Lichter kam und das Nachtgefecht begann, unser zerquältes, zerkämpftes Madrid als körperlose, zeitlose Festung leuchten.

    Ilsa Barea

    Hertfordshire, 29. März 1939

    TELEFÓNICA

    Erster Teil

    I.

    »Ist es wahr, daß man nicht mehr getroffen werden kann, wenn man die Granate pfeifen hört?« fragte Johnson.

    Er ging mit Simms und Warner durch die Calle de Alcalá mit dem Gefühl, ein unerforschtes Dschungel zu durchqueren. Es war der 16. Dezember 1936. Er war in Madrid und man erwartete in seiner Redaktion von ihm, eine Serie von Berichten über die Verteidigung und bevorstehende Eroberung der Stadt zu erhalten. Vor fünf Tagen war er noch in London gewesen; das schien ihm phantastisch.

    »Ja, es ist wahr«, antwortete ihm der kleine Warner, der sich selbst mit Vorliebe an dieses Stück Beruhigung klammerte. »Ich hoffe es wenigstens.« Das Mausgesicht mit den lebhaften Augen war erfüllt von innerer Spannung, alle Muskeln spielten unter der Haut: Warner war schon drei Monate als Kriegsberichterstatter in Madrid.

    Von irgendwoher kam ein dumpfer Krach.

    »Das ist Richtung Plaza de Callao«, sagte Simms, der seit fünf Jahren in Madrid lebte und jede Gasse kannte und liebte. »Klingt wie großes Kaliber … Nein, das mit dem Pfeifen ist eine Legende. Man kann sich auf nichts verlassen. Man weiß nie, ob es einen erwischt oder nicht.«

    Sie gingen schweigend weiter.

    »War das jetzt eine Granate?« fragte Johnson. Sein feines Intellektuellengesicht unter dem strohblonden Haar drückte nur Neugier aus, aber innerlich fragte er sich völlig ratlos: »In was für eine Welt bin ich geraten?«

    Warner hatte es für eine Granate gehalten, aber er zog es vor, zu sagen: »Nein. Übrigens, wenn Sie eine Explosion in der Nähe hören, werfen Sie sich auf den Boden, Johnson.«

    »Das haben mir jetzt schon alle Leute gesagt. Ich glaube, ich werde auf diese Art meinen Anzug ruinieren«, sagte Johnson. Was für eine Pose, das zu sagen, dachte er, und fügte laut hinzu: »Na, es ist mein erster Tag in Madrid.«

    Sie bogen in die Gran Vía ein.

    »Dort ist die Telefónica«, sagte der kleine Warner. »Sie wissen, die Telephonzentrale. Gehört den Amerikanern, jetzt ist sie von der Republik angefordert und unter die Kontrolle der Militärbehörden gestellt worden. Schauen Sie das Haus gut an, Johnson, dort werden Sie von jetzt an den Hauptteil Ihrer Zeit verbringen. Die Presse und die Zensur sind dort zu Hause. Es ist das höchste Haus von Madrid und die beste Zielscheibe für die Nationalisten.«

    Johnson betrachtete den großen weißen Block mit den konventionellen Türmchen auf dem Sims des Daches.

    »Warum arbeitet die Presse dort, wenn das Haus so gefährdet ist?« fragte er und dachte an seine Freundin Anita, die seit heute in diesem Gebäude zu sitzen hatte, als Zensor – unangenehmer Beruf! –, als Zielscheibe.

    »Wir können nur von dort aus mit dem Ausland telephonieren«, erklärte Simms, der, schweigsam wie immer, mit langen, ruhigen Schritten an Johnsons Seite ging. »Deshalb hat man uns ein Arbeitszimmer eingerichtet. Das ist immerhin noch sicherer, als mit jeder einzelnen Nachricht durch diese Straße zu gehen. Es ist kein angenehmer Weg.«

    »Die Telefónica ist außerdem der Beobachtungsposten für den Generalstab«, sagte Warner, der immer das Bestreben hatte, sich als gut informiert zu zeigen, gerade weil ihn die Kollegen wegen seiner Jugend nicht recht für voll nahmen. »Wenn man aufpaßt, was im Hause vorgeht, kann man allerlei erraten. Nur ist die Zensur dumm und die Anarchisten verrückt vor Spitzelfurcht.«

    Ein feines, langgezogenes Pfeifen: die drei spannten alle Nerven an, um auf die Explosion vorbereitet zu sein.

    Es kam keine Explosion. Nur ein dumpfer Schlag. Eine leichte Staubwolke stob aus einem der gegenüberliegenden Dächer.

    »Blindgänger«, konstatierte Simms. »Sonst wäre es für uns nicht vorteilhaft gewesen. Die Granatsplitter fliegen weit.«

    Der kleine Warner war etwas rot im Gesicht. »Ich bin immer froh, wenn ich diesen Weg hinter mir habe«, sagte er.

    Johnson schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Er sah die Vorübergehenden an – Soldaten. In zusammengestoppelten Uniformen, Mädchen auf hohen Stöckeln, mit komplizierten Lockenfrisuren und grell geschminkten Lippen – und fragte: »Gewöhnt man sich daran?«

    »So schlimm ist es erst seit acht Tagen, seit dem 7. November. Ich weiß es noch nicht«, antwortete Simms, dessen hageres Gesicht mit den unerwartet dunklen Augen gleichmütig geblieben war.

    »Habt ihr Angst?« bohrte Johnson. Er wollte diese merkwürdige Luft verstehen.

    »Jeder hat Angst!« rief Warner. »Sie werden schon merken, was Madrid ist – wenn Franco Ihnen Zeit dazu läßt. Am ersten Tag ist jeder nur verblüfft, später kommt der Ernst.«

    »Gehen wir lieber rasch«, sagte Simms.

    Die Explosion kam unerwartet, von keinem Pfeifen angekündigt. Zuerst etwas wie ein Schlag, dann der Krach selbst und der Luftdruck und das Klirren von Glas und das Fallen von Steinsplittern. Jeder fühlte den Schlag am eigenen Körper, fühlte das Herz im Leibe beben und fühlte das Gehirn stocken, auf das Unbekannte wartend.

    Warner warf sich zu Boden, Simms drückte sich in eine Ladentür. Johnson fand sich allein, mit klopfendem Puls und einem saugenden Gefühl in der Magengrube, allein mitten auf einem plötzlich leeren Gehsteig. Dreißig Meter weiter weg rollte eine träge schwarze Wolke auf der Straße, breitete sich aus und verdünnte sich zu grauem Rauch.

    »Das also war eine Granate«, sagte er sich laut vor. Durch den grauen Rauch sah er dunkle Figuren sich bewegen. Von irgendwoher, aus allen Haustoren kamen Menschen und gingen eilig weiter. Er hörte Rufe, die er nicht verstand, und kam sich todeinsam vor.

    »Meine Feuertaufe als Kriegsberichterstatter«, sagte er mit erstauntem Augenausdruck zu Johnson. »Ich habe nicht viel Angst gehabt.«

    »Schnell, jetzt haben wir vielleicht ein paar Minuten Zeit«, antwortete der andere nur. Warner eilte ihnen schon voraus.

    »Ist das alle Tage so? Wie halten das die Leute aus?« fragte Johnson etwas außer Atem.

    »Man hält es aus.« Simms, groß, mit langen, hageren Gliedmaßen, machte gleichmäßige, gemessene Laufschritte und sprach dabei ganz ohne Hast. »Wir sind hier für Zeitungen. Die Spanier für ihr Leben.«

    Giftiger Qualm hing noch immer in der Luft; die Abenddämmerung hatte die Straße mit einem nebelhaften Grau erfüllt; alles schien wie in einem bösen Traum.

    »Hier ist jemand getroffen worden!« rief Warner, der stehengeblieben war. Neben dem lichten Fleck im Straßenpflaster, wo der Stein aufgerissen war, stand eine kleine, dunkle Lache.

    »Steigt nicht hinein, mir ist es einmal passiert und es hat mich ganz krank gemacht«, sagte Warner leise.

    »Wie weit ist es zur Telefónica?«

    »Ein paar Minuten. Ein paar hundert Meter. Das ist weit. Gehen wir«, antwortete Simms.

    Sie gingen langsamer als vorher, nicht rascher. Johnson stellte es fest. Wollen wir uns beweisen, daß wir keine Angst haben? fragte er sich und meinte dann: »Material für meinen ersten Artikel aus Madrid. Eine andere Welt.«

    »Eine fremde Welt«, sagte Warner. »Wir verstehen sie nie ganz. Vor acht Tagen haben wir gewettet, daß Madrid über Nacht fallen wird. An den Sieg können sie nicht glauben, warum machen denn diese Leute nicht Schluß?«

    »Kommen Sie, Johnson, trinken Sie einen Whisky!« Simms ging den beiden voraus in die menschenerfüllte Bar des Hotels Gran Vía. »Trinken Sie eins auf das Wohl der Telefónica, daß sie nicht zu oft getroffen wird.«

    Den halbrunden Bartisch entlang saßen lärmende Soldaten und ein paar Mädchen, nicht sehr hübsch, zu geschminkt, dachte Johnson. Er hörte ein Rattern und wusste nicht, ob es ein Maschinengewehr oder ein Motorrad sei. Niemand drehte sich um. Nur Simms fing den fragenden Blick auf und sagte: »Das ist die Front. Anderthalb Kilometer straßenabwärts. Wenn nicht schon weniger. Aber heute ist ein stiller Tag.«

    »Stiller Tag, stiller Tag, im Westen nichts Neues«, sagte Johnson. »Ich glaube, im Krieg ist die ganze Welt etwas verrückt. Das ist heute also ein stiller Tag, zu meinem Empfang in Madrid. Ich beginne Spanisch zu lernen.«

    Sie tranken. Alle die anderen auf den hohen Barschemeln tranken Wein. Sie machten viel Lärm; Johnson ärgerte sich, so gar nichts zu verstehen, und hatte einen Anfall von Unwillen gegen diese unverständlichen fremden Menschen.

    »Wie erfährt man die offiziellen Nachrichten?« fragte er.

    »Am besten, man geht in die Telefónica und macht dann einen Spaziergang an die Front. Aber da steckt die eigentliche Sensation, Johnson, in diesen Leuten und in diesen Straßen hinter der Front.« Simms wurde einen Moment lebhaft. »Und in der Telefónica.«

    »Laufen wir über die Straße, bevor die Batterie wieder schießt. Habt ihr nicht die letzten Krache gehört, gerade jetzt?« schrie Warner durch den Lärm. Er hatte sich in die Tür gestellt und kam hastig an den Bartisch zurück.

    Sie waren schon auf der Straße und kreuzten sie eilig. »Ich habe nichts gehört, ich kenne die Kriegsgeräusche noch nicht gut genug«, sagte Johnson halb entschuldigend. »Ist denn immer eine solche Pause zwischen den Schüssen?«

    »Wir ziehen vor, es anzunehmen«, gab Simms trocken zur Antwort.

    Von einer Sekunde zur anderen wurde der Nebel dichter. »In der Dunkelheit schießen sie nicht mehr viel, nur einzelne Versuchsschüsse«, sagte Simms, als sie schon die hohe, glatte Front der Telefónica entlanggingen und um die Ecke bogen.

    Autos in einer engen Straße, viele Menschen auf dem Gehsteig, ein Wachtposten, eine kleine Tür in einem gewaltigen Portal: sie traten in die Halle der Telefónica.

    »Wir sind zu Hause«, sagte Simms. Er erklärte einem derben, unfreundlichen Mann mit schwerem Unterkiefer und platter Nase etwas auf Spanisch. »Das ist ein anarchistischer Kontrollfunktionär, er untersucht alle, die hereinkommen, auf Waffen. Aber wir sind Presseleute, ich habe Sie legitimiert, Johnson.«

    Unter einem dumpfen Schlag klirrten die Scheiben der Glastür und schütterten leise die Wände. Die vielen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, in der zugigen Halle sprachen wirr durcheinander. Aber weiter geschah nichts, als daß ein Mann ans Haustelephon trat und ein Gespräch führte.

    »Nur das Sims des Daches«, erklärte Simms, der gelauscht hatte.

    »Ist unser Haus getroffen worden?« fragte Johnson. Er sah von einem spanischen Gesicht zum anderen und verstand nichts, was er sah. Wie lebte man in diesem Hause?

    Es ist eine andere Welt, gab er sich selbst zur Antwort.

    II.

    Es war eine feuchte, frostige Nacht ohne Mond und Sterne. Der Nebel des Abends hatte sich gehoben, aber die Luft blieb von ihm durchtränkt und gefärbt.

    Im Zimmer des Kommandanten der Telefónica brannte kein Licht, denn das Fenster stand offen. Agustín Sánchez beugte sich über die Brüstung und versuchte, in die Gran Vía hinunterzublicken. Die breite Straßenschlucht war von einem so undurchdringlichen Dunkel erfüllt, daß er sich daran wie an einem festen Körper anzulehnen glaubte.

    Von der nächstliegenden Front kamen in kurzen Abständen die Peitschenknalle der Gewehre. Munitionsverschwendung, Nervosität, dachte er. Die Nachrichten klangen böse, sie waren sehr unbestimmt. Er hätte nicht telephonieren, sondern selbst ins Kriegsministerium fahren sollen. Heute war ein relativ stiller Tag, er konnte also nicht erwarten, daß der General hierherkäme. Und er würde die Nacht durcharbeiten und seine kurzen Schlafpausen einschalten müssen, ohne genau zu wissen, wie es stand und wie weit der Feind nähergerückt war. Es war eigentlich ganz günstig, daß er keine Zeit zum Schlafen hatte; denn die Ungewißheit ließ immer den Pessimismus in ihm hochkommen, und ihn hätte im Bett der Alpdruck gequält. Wenn er das Schlimmste wußte und sah, daß es nicht so schlimm war wie seine geheimen Ängste, stieg in ihm eine fast fröhliche Tapferkeit hoch, die die anderen dann nicht recht verstanden und für besonderen Mut ansahen. Vielleicht ging es ihm heute auch so, wäre er nur zum Generalstab gefahren und wüßte nun, warum es so still an der Front war, statt daran herumzurätseln.

    Und doch, selbst wenn er über einige wirklich freie Stunden verfügt hätte, selbst wenn er nicht der Gefangene dieses Dienstes gewesen wäre, er hätte das Gebäude der Telefónica nicht verlassen mögen. Hier waren ihm die Stiegen selbst in der Dunkelheit vertraut. Hier wäre er schon längst um die Ecke gebracht worden, hätte einer der vielen hundert Arbeiter und Angestellten im Hause die Gelegenheit ausnutzen wollen: also – hier war er sicher. Hier war die Arbeit, die ihm die Vernunft rettete. Draußen sprangen ihn die Angst und die Wut an, seine Stadt war ihm fremd, die Menschen unverständlich geworden.

    Es ist alles ein Wahnsinn, dachte er, und wahrscheinlich gehen wir alle zugrunde. Aber die anderen auch. Wozu arbeite ich wie ein Narr, warum nehme ich nicht meinen Revolver und schieße ein paar Schweine nieder, bevor alles zu Ende ist? Meine alte feige Angst vor dem Blutvergießen. Was für ein Verbrechen ist das Ganze und wie schön könnte doch alles sein.

    Ach, Dreck und Scheiße, da mache ich mir Gedanken, damit ich mir zuhören kann, aber es ist doch alles anders und viel schwerer, ich verstehe nichts mehr ganz, da muß man doch auf seine Gedanken aufpassen. Ich bin nur so müde. Die vom Arbeiterrat werden mir noch zu schaffen geben. Ja und nein, was soll ich eigentlich mit ihnen tun, sie haben vielleicht recht. Aber immer diese Anarchisten und Kommunisten. Haben sie keine anderen Sorgen? Ich hab’ sie. Ich weiß zu gut, wo die neue Batterie steht, die sich auf uns eingeschossen hat.

    Das war ein schönes Schrapnell. Wie eine Rose.

    Die Paquita wird doch hoffentlich nicht gemerkt haben, daß ich für eine halbe Stunde frei bin. Sie soll nicht heraufkommen. Es steht nicht dafür. Ich mag nicht. Ich hab’ Arbeit.

    Die Kleine im Keller bei den Flüchtlingen aus Carabanchel hat gute Brüste; wie die Spitzen stehen – sie ist sicher läufig. Aber ich mag nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir ist. Ich möchte mit einer schlafen gehen, aber mein Gehirn will nicht und so hab’ ich dann keine Lust. Das ist alles nicht so wichtig. Aber vier Wochen. So lange war ich niemals ohne Frau seit damals, als ich die Lungenentzündung hatte. Die Paquita ist ein Luder, sie macht mir’s absichtlich schwer. Und seit heute die Pepita im Haus – ich hätte nicht erlauben sollen, daß sie in die Telefónica kommt. Es ist bei ihr die reine Hysterie. Aber was hätte ich tun sollen?

    Heute schießen sie unregelmäßig. Viele Schrapnells, das heißt, daß sie sich einschießen. Das dort war besser gezielt – wenn sie uns treffen wollen.

    Ich sollte hinuntergehen und nachsehen, wie es sich die Pepita mit den Kindern eingerichtet hat. Sicher schlecht, wie immer. Aber ich kann da nichts mehr machen. Und ich will nicht, daß sie sich mir wieder an den Hals hängt. Es regt sie noch mehr auf und ich will doch nicht mehr. Die Weiber müßten doch endlich verstehen, daß ich nicht kann und nicht will und daß Krieg ist. Es ist zwar eine Ausrede von mir. Oder nein? Ich weiß nichts mehr, ich verstehe nichts mehr, ich weiß nicht, was mein Leben werden soll. Aber das ist egal, wir werden ja doch alle umkommen.

    »Wir werden alle sterben«, sagte Agustín laut und lachte. Denn vor dem Tod hatte er nie Angst, nur vor dem Schmerz und vor dem Schmutz.

    Er hatte heute vierzehn Stunden intensivster Arbeit hinter sich. Er hatte endlose Arbeit vor sich, nicht viel davon an seinen Stellvertreter übertragbar. Die ganze Militärverwaltung der Telefónica lag in seinen Händen, solange sein Vorgesetzter, der Oberst, in Valencia blieb. Agustín begann eben zu verstehen, wie groß seine Verantwortung war. Diese Telephondrähte waren die einzigen Fäden, die vom belagerten Madrid zur Außenwelt führten. Immer war Sabotage möglich. Im obersten Stock des Hauses hatte der Generalstab seinen zentralen Beobachtungsposten. Immer war Spionage möglich. Sabotage und Spionage: alle Funktionäre in der Telefónica waren von der Furcht vor diesen zwei unbekannten Größen beherrscht.

    Die Telefónica hatte dreizehn Stockwerke und zwei Kellergeschosse. Zutiefst unter der Erde waren die Flüchtlinge aus den Außenbezirken und Umgebungsdörfern Madrids. Im dreizehnten Stock war der Artilleriebeobachtungsposten. Dazwischen, in die Räume von zwölf Stockwerken zusammengepreßt, die Maschinerie des Telephonnetzes für ganz Spanien und zugleich ein Querschnitt durch das Madrid der Belagerung: andere Flüchtlinge; Arbeiter; Polizisten; Milizposten; Erste-Hilfe-Station; Beamte; von jedem Verkehr ängstlich abgesperrt, die Beobachtungsoffiziere des Generalstabes; als Fremdkörper, isoliert, die Funktionäre der amerikanischen Kapitalisten, denen die Telefónica und das Telephonmonopol in Spanien gehörten, derzeit entmachtet durch die Staatskontrolle; das Militärbüro, oberste Verwaltungsinstanz des Gebäudes, in dem nur Agustín saß; eine Ausspeisungshalle; Notbetten in allen möglichen Räumen für die Leute vom Nachtdienst; ein Heer von Telephonisten, die zum Teil im Hause schliefen, um nicht im Granatenregen von und zur Arbeit gehen zu müßen; im vierten Stock die Journalisten der ausländischen Presse; im fünften die Pressezensur, Abteilung des Außenministeriums, und die Horchzensur, Komitee der Telefónica-Beamten; dazwischen Maschinen und wieder Maschinen, kostbar und fast unersetzlich; dann die Gewerkschaftsräume, der Arbeiterrat – Consejo Obrero – und dessen Institutionen; die Plakate der Organisation; die Materialien für die Reparaturen; das technische Leben, das politische Leben, das militärische Leben, Schreibmaschinen und Scherenfernrohre. Und, durch den Bau quer durch, die fünf gewaltigen Fahrstuhlschächte und die enge, bei Panik so gefährliche Wendeltreppe. Das alles war nun der Zielpunkt für die Kanonen und die Fliegerbomben der Faschisten.

    Sie haben recht, wenn sie uns zerstören wollen, dachte Agustín. Wir sind eines der Nervenzentren von Madrid. Das Kleinhirn. Obwohl sich die Herren Journalisten wahrscheinlich als das Großhirn vorkommen. Lächerliche, eitle Bande: man läßt ihnen zu viel Freiheit. Was haben sie auf unsere Kosten Sensationen zu verkaufen? Sie sind alle gleich, diese Ausländer, alles nur Geschäft. Die Zensur taugt nichts. Es ist freilich auch ein widerliches Geschäft. Wie heißt doch der kleine, ölige Zensor mit der Zahnlücke, der paßt dazu. Der Chef ist ein braver, alter Mann, aber er ist zu gut. Die Korrespondenten machen mit ihm, was sie wollen. Ich werde ein wenig eingreifen. Die Abhörzensoren sind Esel. Sie verstehen die Hälfte aller Sachen nicht und kommen mir immer mit Verdacht, wenn die Geschichte harmlos ist. Natürlich übersehen sie alles Gefährliche.

    Ich bin wieder normal, dachte Agustín. Wenn mir nicht die Weibergeschichten den Kopf heiß machen und wenn es mir gelingt, nicht daran zu denken, was das alles bedeutet, werde ich heute Nacht gar nicht schlecht arbeiten.

    Er schloß das Fenster und spannte sorgfältig den schwarzen Baumwollstoff des Vorhanges aus, ehe er die schwache, blauverhüllte Tischlampe anzündete. Sein Telephon klingelte: der Gebäudearchitekt hatte mit ihm über die Adaptierung der Waschräume für die Flüchtlinge zu reden.

    Er wollte eben eine Besprechung für morgen Vormittag festlegen, da kam, ohne anzuklopfen und ohne zu grüßen, Paquita ins Zimmer. Er nickte ihr zu und stellte aufs Geratewohl eine technische Frage in das Telephon hinein, ohne nachzudenken. Er war damit beschäftigt, sich die unvermeidlich kommende Szene auszumalen; er – überbeschäftigt und freundlich, sie – eindringlich und hemmungslos. So leidenschaftlich, daß er beinahe nachgeben würde und doch zu tiefe Abwehr empfinden würde. Eine stumpfe Müdigkeit lähmte ihn. Nur vermeiden, daß etwas geschieht, so oder so. Irgendetwas müßte sich ändern, ja, aber wie oder wann wollte er jetzt nicht wissen.

    Die Stimme des Architekten im Apparat klang erstaunt. Comandante Sánchez war doch sonst immer so erfreulich klar in technischen Angelegenheiten. Er begann überdeutlich zu erklären.

    Währenddessen schritt Paquita durch das Zimmer. Sie ging bewußt langsam aus den Hüften schreitend, wie immer, seitdem sie Agustín entlockt hatte, daß ihn an ihr der klare Schwung der Hüftlinie erfreute und dieser Gang reizte. Mit ihrem Gesicht – großlinig, fleischig und regelmäßig, mit weit offenen, sehr gewölbten Augen – konnte sie nicht so viel anfangen, das wußte sie. Agustín sollte ihren Körper sehen, sollte ihn betrachten. Warum hatte er ein so märtyrerhaft gequältes Gesicht, mit gespannten Nasenflügeln, engen Schatten unter den Backenknochen und an den Schläfen und einen strengen Mund?

    Er setzte sich in den Armsessel, der ihm wie eine Barrikade gegen Paquita vorkam: er war aus schwerfällig geschnitztem Holz und machte jedes Anschmiegen unmöglich. Aber er folgte ihr doch mit den Augen. Sie bemerkte es und ging rund um das Zimmer herum, den Wänden entlang, die Bücher betastend und immer einen Fuß knapp vor den anderen setzend. Das ließ die Schwungbewegung schön fließen. Und das kümmerliche Licht dämpfte die kühne Derbheit ihrer Züge.

    Agustín lachte etwas höhnisch, aber die Sehnen seines hageren, eckigen Kinnes spannten sich. Er rief plötzlich in den Apparat hinein: »Am besten, Sie kommen einen Sprung herauf, aber sofort. Dann habe ich noch Zeit, mit Ihnen in die Souterrains zu gehen, bevor die Konferenz mit Valencia fällig ist.« Dann hängte er ab.

    Paquita lehnte sich an den Bücherschrank und sagte: »Ach, da wird sich deine Gemahlin freuen, wenn du sie besuchst. Wenigstens muß sie dann nicht später in der Nacht heraufkommen, um Geld zu holen. Und nach der Konferenz hast du Zeit, im kleinen Salon zu schlafen. Ich habe nur bis zwei Uhr Nachtdienst. Dann komm ich zu dir, ja?«

    Sie war sehr direkt, denn sie wußte, daß sie wenig Zeit zur Unterredung hatte, und sie spürte seit Tagen, wie Agustín ihr entglitt. In Wahrheit hatte sie es schon seit einem halben Jahr gespürt und mit ihren Mitteln bekämpft. Aber seit einem Monat war es ernst. So lange war er nicht mit ihr ins Bett gegangen. Freilich, auch mit keiner anderen; sie konnte sein Leben sehr genau kontrollieren. Er behauptete, daß er jetzt kein Privatleben haben könne. Aber sie glaubte es ihm nicht, denn die meisten Männer ringsherum verbrauchten im Krieg mehr Frauen, weil sie das Leben noch ausnützen wollten. Daß Agustín seit heute die Pepa, seine Frau, im Haus hatte, war ein Grund mehr, ihn sich bald zu holen, sonst würde er es am Ende mit der Pepa tun. In seinem Hunger. Denn er war hungrig nach einer Frau, das sah sie, sie hatte scharfe Augen: er hatte sicherlich das Feuer im Leib genauso wie sie, Paquita. Oder er würde mit einem der vielen Mädchen im Haus gehen. Sie wollten alle, die kleinen Huren. Aber sie selbst hatte einen Vorteil; mit ihr sprach er immer wieder, mit den anderen nicht. Merkwürdig, wieviel ihm das zu bedeuten schien, dieses Reden und Verstandenwerden, und dabei war es doch so nebensächlich. Aber so war er, also ihn zum Reden bringen, bevor der verdammte Architekt kommt. Denn noch hatte er sie nicht für diese Nacht zu sich gerufen.

    Sie unterbrach das Schweigen mit ihrer heiseren, tiefen Stimme: »Tinito, bist du sehr müde? Oder ärgerst du dich, weil diese Herren in Valencia die Ersatzteile nicht schicken? Oder was ist los?«

    Agustín war sich klar darüber, daß er viel zuviel mit Paquita sprach, ihr zuviel erzählte. Aber sie war doch seine Bürotelephonistin gewesen; sie wußte viel von ihm und über ihn, und sie interessierte sich für seine Angelegenheiten. Das Gegenteil seiner Frau. Und dann liebte ihn Paquita sehr, sagte er sich.

    Er antwortete ihr nur: »Laß das, Kindchen.« Sie ging sofort dicht zu ihm, denn seine Stimme war nicht zurückhaltend wie sonst. »Weißt du, daß wir heute wieder zweihundert Meter in der Casa de Campo zurückgehen mußten? Ich verstehe die ganze Frontlinie nicht mehr, sie geht im Zickzack. Sie haben uns viele Keilspitzen in die Stellungen getrieben. Und ich hab’ Angst, daß sie uns ganz abschneiden.«

    Ich sollte ihr das nicht sagen, dachte er gleichzeitig. Aber ich bin so müde. Man kann nicht immer allein sein. Vielleicht gehe ich doch heute mit ihr in den kleinen Salon. Irgendeinmal wird einen ja doch eine Granate erwischen, und man ist ein Bündel Fleischfetzen. Sie denkt wenigstens an mich, sie hat nur mich. Man soll wenigstens nicht schlecht zu anderen sein. Die Kinder – ich mag nicht daran denken, was die Pepita aus meinem Leben gemacht hat.

    Er ließ zu, daß sie ihm die Haare streichelte; das mochte er sonst nicht recht, weil sie es stets mit Besitzergeste tat. Paquita sah sein Nachgeben. Sie hatte ihre Chance. Aber sie hatte keine Ahnung vom inneren Wesen des Mannes, mit dem sie durch drei Jahre geschlafen, den sie fünf Jahre lang zum vertraulichen Reden gebracht hatte. Sie hielt ihr Beisammensein in dieser Nacht für eine gesicherte Angelegenheit, wenn sie ihn noch mehr ins Feuer setzen konnte, und gleichzeitig wollte sie seine Stimmung sofort auch für ihr nächstes Ziel ausnützen:

    »Tinito«, sagte sie, »du machst hier nur den Narren für die großen Herren: du sitzt in der Rattenfalle und sie in der Sicherheit. Ich habe keine Lust, in Madrid zu verhungern, wenn sie uns abschneiden. Du hast schon genug geopfert. Du kannst erreichen, daß man dich versetzt. Gehen wir nach Alicante, du, dann können wir es gut haben.«

    Sie ließ ihre Hand von seinem Scheitel hinabgleiten und begann, ihm vom Knie aufwärts über die Innenfläche des Schenkels zu streichen.

    Agustín hatte plötzlich eine große Leere im Magen. Seine Müdigkeit schlug in jähen Ekel um. Nicht so interessiert, mein Kind, ich merke es nicht gern, daß man mich verführen will, dachte er. Er nahm ihre Hand mit einem sachlichen und gleichgültigen Druck, hob sie von seinem Körper weg und legte sie auf die Tischplatte wie ein totes Ding. Einen Augenblick lang war er nahe daran, ihr zu sagen, daß sie offenbar nie verstanden hätte, wie er Madrid empfand und wie diesen Krieg, und warum er hierbleiben mußte, den Tod erwartend. Aber da stieg ihm mit der nüchternsten Klarheit die Erkenntnis auf, daß er hier jahrelang

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